Bahe saß noch in der U-Bahn als sein Smartphone plötzlich klingelte. Er wühlte schnell in seiner Tasche und brachte sein altes und abgenutztes Telefon zum Vorschein.
Prompt spürte er einige abschätzige Blicke auf sich. Nicht das er als Deutscher, in einem Abteil voll mit lauter Chinesen eh schon auffiel, jetzt brachte ihm auch noch sein altes Telefon zusätzliche Aufmerksamkeit ein.
Bis 2040 waren Smartphones der letzte Schrei und wurden in unfassbar vielen Variationen hergestellt. Doch auch hier wandten sich die Herstellerfirmen und später auch die Bevölkerung zunehmend von Bildschirmen ab und ersetzten diese durch dreidimensional projizierende Sprach- und Darstellungsinterface. Die Technik wurde stets kleiner verpackt und reduzierte sich mittlerweile auf Armbänder oder Schlüsselanhänger die stylisch in Szene gesetzt wurden. Als besonders teure Varianten gab es sogar schon Ringprojektoren, die mit Gold und Diamanten verziert wurden.
Der Name der neuen Gerätschaften wurde von der ersten Herstellerfirma schlicht als Prophone geprägt. Pro von Projektor… Prophones, die nächste Generation der Telefone… Die Werbeslogans waren selbst heute noch ab und an zu hören. Schließlich gab es noch ein paar wenige Firmen, die Smartphones produzierten und als Billig- und Einwegtelefone verscherbelten.
Bahe schaute auf den Display und lächelte plötzlich überrascht. Sein bester Freund, Feiying Ting, rief ihn an. Er war der Einzige seiner früheren Freunde, der den Kontakt mit ihm aufrecht gehalten hatte.
Nachdem er die Schule abbrach, hatten sich nur Wenige noch ein, zweimal gemeldet und danach nie wieder etwas von sich hören lassen. Einzig mit Feiying telefonierte er noch regelmäßig.
„Hey Feiying, wie geht’s?“, nahm er den Anruf freudig entgegen.
„Oh, habe ich irgendwas nicht mitbekommen? So gute Laune hattest du ja schon ewig nicht mehr.“
„Bei mir geht es endlich wieder aufwärts. Meine Mutter und meine Großeltern verkaufen gerade unser großes Anwesen. Mit dem Geld, das ich vor kurzem gemacht habe, sollte dann genug für die Operation und Reha drin sein.“
„Wie kommt es, dass sie es plötzlich doch verkaufen?“
„Lange Geschichte… erzähl ich, wenn wir uns das nächste Mal sehen… Und dabei hatte ich gerade meinen Dreamworld-Account verkauft…“, seufzte Bahe.
„Moment mal… du hast deinen Anael-Account verkauft?!“
„Mir blieb nichts anderes übrig, Feiying.“
„Lief es so schlecht mit den Jobs?“
„Nicht gerade gut…“
„Was heißt, dass du wahrscheinlich fast verhungert bist…“, stellte Feiying fest. „Man Bahe, ich habe dir tausendmal gesagt, dass du bei mir wohnen kannst! Essen ist auch kein Problem!“
„Und was sagt dein Großvater dazu?“
„Hör schon auf, irgendwie hätte ich dich jederzeit ins Anwesen schmuggeln können.“
Bahe schüttelte nur unbewusst den Kopf. Feiying war der hilfsbereiteste Mensch, den er je kennen gelernt hatte. Zudem teilte Feiying ein ähnliches Schicksal mit ihm. Auch seine Eltern waren gestorben, wenn vielleicht auf eine noch viel schlimmere Art. Feiying war gerade zwölf, als seine Eltern Opfer eines Anschlags wurden. Die Täter hatten den Konzern von Feiyings Familie erpressen wollen, doch Feiyings Großvater und seine restlichen Verwandten hatte die Erpresser schlicht weg ignoriert. Das Resultat war eine Tragödie, die hätte verhindert werden können…
Seitdem lebte Feiying bei seinem Großeltern und Bahe wusste, dass Feiying seinen gefühlskalten Großvater selbst heute noch aus tiefster Seele verabscheute. Ohne seine Großmutter wäre Feiying wahrscheinlich schon längst vor seiner Familie geflohen.
Als Bahes Mutter vor vielen Monaten zum ersten Mal die Diagnose bekam, hatte Feiying sofort seinen Großvater darum gebeten, Bahe und seiner Familie zu helfen. Ein paar hundert tausend Yuan waren nichts für den Ting-Konzern, doch Feiyings Großvater hatte sich quergestellt und gemeint, dass es an der Zeit wäre sich bessere Freunde zu suchen, als einen daher gelaufenen Ausländer, dessen Familie schon bald auf der Straße leben würde.
Bahe hatte erst Wochen später durch Feiyings Großmutter von dem Vorfall erfahren, der sich danach in dem Ting-Anwesen ereignete. Feiying war damals vollkommen ausgerastet, so dass sogar die Bodyguards von Feiyings Großvater einschreiten mussten.
Sein Großvater verdammte ihn daraufhin in einen Kellerraum, verschaffte ihm Privatunterricht und zwang ihn Ewigkeiten den Stoff des Abschlussjahrgangs zu pauken, ehe er die Kellergewölbe wieder verlassen durfte.
Mehrere Wochen hatte Feiying im Keller festgesessen, ohne die Möglichkeit mit der Außenwelt in Kontakt zu treten. Die einzige Gesellschaft waren die täglichen Besuche der Privatlehrer gewesen, selbst seine Großmutter hatte ihn anfangs nicht besuchen dürfen.
Bahe war sich im Klaren darüber, was Feiying alles für seine Freunde tat.
„Ich wollte dir keine Probleme bereiten und abgesehen davon, wäre der Account bald eh nichts mehr wert gewesen.“
„Was hast du denn eigentlich dafür bekommen?“
„400 000 Yuan.“
„Ja klar, komm schon Bahe…“
„Nein, echt. Ich habe wirklich 400 000 Yuan für den Anael Avatar bekommen.“
„WTF! Du verarschst mich doch! 400 000 Yuan?! Warte kurz!“, hörte Bahe Feiying seltsam gedämpft.
Zwanzig Sekunden später hallte Feiyings Stimme durch den Hörer: „Verdammt noch mal! Du hast mich nicht verarscht! Überall in den Dreamworld-Foren reden die User über dich. 400 000 Yuan für einen Avatar, der vom Level her nur noch im Mittelfeld der Spieler liegt… Man, dir ist schon klar, dass selbst ich noch nie über so viel Geld verfügt habe?“
Bahe musste lachen.
„Heißt das, dass du nicht mehr arbeiten musst?“
„Ich hoffe es.“
„Und was machst du jetzt?“
„Meine Mutter will, dass ich wieder zur Schule gehe. Ich bin gerade auf dem Weg zu meinen Großeltern und werde dann wohl verschiedene Schulen mit meinem Großvater aufsuchen. Mal schauen, wo sie mich nehmen.“
„Tut mir Leid Bahe, ich fürchte, mein Großvater wird mich niemals die Schule wechseln lassen…“
„Kein Problem, hast du wenigstens schon die Mädels auf deiner Eliteschule abgecheckt?“, grinste Bahe.
„Hah! Was glaubst du denn?“, antwortete Feiying dankbar über den Themenwechsel. „Du solltest diese Binwei mal sehen… Ich schwör’s dir, die hat Brüste so groß wie kleine Melonen. Da kann mir keiner erzählen, dass die natürlich sind… Sehen aber trotzdem geil aus.“
Bahe grinste, als Feiying so drauf los plapperte.
„Weißt du eigentlich schon, wo du studieren willst?“, fragte Feiying anschließend.
„Puh… Da habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Ich bin mir nicht mal sicher, ob wir uns das später leisten können.“
„Oh man… Sorry Bahe…“
„Ist schon ok. Ich habe mir vorerst ein Dimensional Leap-System gekauft und werde-“
„Du hast WAS?!“
„Hä?“
„Jetzt tu doch nicht so blöd! Du willst Raoie spielen?!“, rief Feiying aufgeregt.
„Ähm… ja?“
„Krass! Welchen Ort hast du als deinen Startpunkt ausgewählt?“
„Waldenstadt.“
„Ah… verdammt, ich bin vor zwei Wochen in Trachtenburg gestartet.“
„Wo ist das Problem?“
„Es wird ewig dauern, bis wir uns irgendwann im Spiel mal treffen können.“
„Wieso?“
Feiying lachte: „Man merkt sofort, dass du das Spiel noch nicht gespielt hast!“
„…“
„Schon gut, schon gut“, sagte Feiying amüsiert, brachte jedoch seinen Lachanfall unter Kontrolle. „Trachtenburg und Waldenstadt liegen nicht nur einfach weit auseinander. Zwischen den Städten befinden sich Gebiete mit bis zu Level 30 Monstern. Ohne einen Teleportationszauber oder eine Händlerkaravane wirst du niemals lebend von der einen Stadt zur anderen kommen. Zumindest nicht in näherer Zeit. Aber davon abgesehen, können wir uns beide Möglichkeiten eh nicht leisten. Der Zauber kostet eine Goldmünze! Die Händlermitfahrt sogar noch mehr! Ich bin froh, wenn ich in den nächsten Monaten im Spiel mal eine Silbermünze in den Händen halte.“
„Ich habe schon davon gehört, dass es nicht so leicht sei Geld in Raoie zu verdienen…“
„Du machst dir gar keine Vorstellungen! Du musst dir ja so ziemlich alles selbst aneignen. Es ist schon schwierig genug, den eigenen Avatar täglich mit Nahrung und Wasser versorgen zu müssen. Darüber hinaus noch an besondere Ausrüstung zu gelangen, um erfolgreich leveln zu können, ist wiederum etwas ganz anderes! Jede Waffe des Bronze-Ranges kostet zur Zeit mindestens eine Silbermünze…“
„Dann kann man da wohl nichts machen.“
„Aber hey, sobald du über Mana verfügst, können wir uns durch einen Zauber unterhalten. Zumindest solange unser Mana reicht. Soweit ich weiß, verbraucht der Zauber ein Mana pro Sekunde. Für den Anfang werden wir dann nie im Leben lange Gespräche führen können.“
„Nicht so schlimm. Aber wie funktioniert der Zauber?“
„Du musst dir diesen Zauber einmalig für ein paar Bronzemünzen kaufen. Er wird meistens in Form einer Schriftrolle verkauft. Zur ersten Aktivierung musst du den Text vorlesen, danach wird deinem Menüfenster wohl eine Chatfunktion hinzu gefügt. Also im Endeffekt keine große Magie.“
„Ich schaue mich dann demnächst mal um, wo ich einen solchen Zauber auftreiben kann.“
„Das wäre super, Bahe. Weißt du eigentlich schon welche Klasse du spielen willst?“
„Ähm… da bin ich mir noch nicht sicher“, meinte Bahe grinsend. Wie Feiying wohl reagieren würde, wenn er ihm offenbarte, dass eine versteckte Klasse erspielt hatte?
„Ja, vielleicht solltest du zuerst ein Gefühl für das Spiel bekommen, bevor du dich entscheidest. Mein Rat wäre, dich bloß nicht zu früh festzulegen. Ich bin durch einen Schmied auf eine versteckte Quest gestoßen und habe die Berufsklasse eines Schatzsuchers angenommen. Erst war ich total begeistert, eine versteckte Klasse gefunden zu haben. Mittlerweile bin ich mir nicht mehr so sicher, ob es die richtige Entscheidung war, die Berufsklasse anzunehmen.“
„Wieso?“
„Na ja, für meine erste Berufsquest soll ich die Belungaminen vierzig Kilometer südlich von Trachtenburg erkunden…“
„Und ich nehme mal an, auf dem Weg dahin wimmelt es nur so von Monstern?“
„Ganz recht… Das ist zur Zeit das reinste Selbstmordkommando und die Fähigkeiten, die ich bei Klassenerhalt bekommen habe, sind nicht gerade für den Kampf ausgelegt…“
„Aber immerhin hast du eine versteckte Klasse gefunden! Vielleicht braucht es einfach ein Bisschen bis du dich damit zu Recht findest.“
„Ja, vielleicht. Dabei wollte ich ursprünglich Magier oder Berserker werden. Na ja, was soll’s.“
„Ich bin mal gespannt, wie die ersten Tage bei mir so laufen. In drei Tagen sollte das Dimensional Leap-System bei mir ankommen.“
„Bist du dir sicher, dass du dir den Zugang zu Raoie auf Dauer leisten kannst? Klar, die ersten drei Monate nach dem Kauf ist Raoie umsonst. Danach kostet es aber 2000 Yuan pro Monat…“
„Ich habe mir das Dimensional Leap-System ja nicht ohne Grund gekauft, Feiying. Es mag ja blöd klingen, aber als ich durch den Verkauf meines Accounts so viel Geld gemacht habe, dachte ich mir, wieso nicht auch mit Raoie Geld verdienen?“
„Hoffentlich klappt es… Und klingt ja so, als ob du einen Schatzsucher gut gebrauchen könntest. Haha!“
Bahe musste grinsen.
„Ich muss jetzt auflegen, Bahe, mein Großvater könnte bald antanzen.“
„Kein Problem Feiying, schön das du dich gemeldet hast.“
„Bis demnächst!“
„Mach’s gut!“
Mit einem dunklem Piep-Ton wurde der Anruf beendet.
Bahe steckte gerade sein Telefon weg, als er merkte, dass sich die Türen zu seiner Station bereits öffneten. Hastig verließ er die U-Bahn und machte sich auf den Weg zu seinen Großeltern.
Jeder Kommentar motivert mich sehr! Denkt drüber nach mir ein paar Worte da zu lassen, wenn euch das Kapitel gefallen hat. :)
RiBBoN