Erstarrt und funkelnd wie unter Glas lagen der Weg und der Wald vor Hiram. Der schmale Pfad, der zum Friedhof des Schlosses führen sollte, war unberührt. Ihn hatten seit Tagen weder menschliche noch tierische Füße betreten. Der Schnee war makellos.
Lautlos, ohne die Reinheit des Weges zu stören, schritt der Engländer über die weiße Pracht, die schon Unzähligen einen eisigen Tod beschert hatte. Die dunkle Gabe des Mannes machte ihn zu einem perfekten Raubtier. Während andere zweifellos bis zu den Waden in der Masse versunken wären, lief er oben auf, als wäre es feste Erde. Der Schnee behinderte ihn nicht und auch die Spuren, die er hinterließ, waren minimal.
Es war gut, dass er allein war. Es war anstrengend, die Fähigkeiten seiner Gabe zu verbergen und zu tun, als ob. So strich nur der Saum seines Mantels hin und wieder über die verschneiten Äste der Büsche, die auf den Weg ragten.
Stille lag über dem Wald und dem Schloss hinter ihm, als hätte die kalte Masse jedes Leben verstummen lassen.
Diesen Umstand genießend, betrat der blonde Mann nach einigen Minuten den eingezäunten Burgfriedhof. Der Engländer hatte schon immer eine Vorliebe für derartige Orte gehabt und ließ andächtig die Hände über verschneite Kreuze und schlichte Grabsteine gleiten. Der kleine Gottesacker, an dessen Ende das Mausoleum der Grafenfamilie stand, war dicht um dicht von Bäumen umgeben. Nur das leise und doch schwere Flüstern des Windes war zu hören.
Hiram schmunzelte. Dies war wahrlich der perfekte Ort für einen jungen Burschen, um dem Mädchen, dem er den Hof machen wollte, einen Schrecken einzujagen.
Entschlossen betrat er das Grabhaus der Draganestis. Es war kalt und roch nach Staub, verdorrten Pflanzen und Mäusedreck. Die aufgebauten, steinernen Sarkophage mahnten den Engländer über die Vergänglichkeit aller Dinge außer seiner eigenen. Er warf einen Blick auf die Namenstafeln.
Offenbar hatte man den Sohn Graf Viktors zusammen mit dessen Gemahlin in einen Sarg gelegt. Die weiteren Gräber enthielten die Gebeine von Viktors Eltern. Hiram bemerkte die vielen kleinen Tafeln an einer Wand und wusste, dass dahinter die Schädel der Verstorbenen verborgen waren. Würde es nach Viktor noch eine weitere Generation von Draganestis geben, würden auch die skelettierten Köpfe seiner Eltern, seines Weibes und seines Sohnes eines Tages in einer solchen Nische hinter einer Namenstafel liegen. So wie auch die Knochen Graf Viktors selbst.
Die Sarkophage wurden mit jedem neuen Titelträger entleert und die übrigen Knochen entweder feierlich verbrannt oder in Krypten oder Katakomben aufbewahrt. So zumindest kannte Hiram es aus England und der Aufbau dieses Totenhauses war denen in seiner Heimat sehr ähnlich.
Andächtig, um die Ruhe der Toten nicht zu stören, schritt er die Namen ab und stellte fest, dass das Geschlecht der Draganestis bis ins zehnte Jahrhundert nach Christi Geburt zurückreichte. Ein Jammer, dass es nun augenscheinlich dem Untergang geweiht war.
Das Quietschen von Mäusen ließ den Engländer zusammenzucken. In einer der hinteren Kammern war eine Amphore umgestürzt und offenbar hatten sich nun Nager diese als Heimstatt auserkoren.
Seufzend wandte sich Hiram wieder dem Ausgang zu. Das düstere und staubige Grau dieser Totenstatt konnte auch durch die liebevollen Zierelemente aus weißem Marmor und die kleinen Fenster aus kostbarem Buntglas nicht gelockert werden. Das Mausoleum blieb, was es war - ein Grab.
Tief durchatmend trat der Mann wieder nach draußen und schloss die Tür hinter sich. Die Sonne war hinter der östlichen Bergkette deutlich zu spüren. Der Engländer sah sie nicht, fühlte sie aber wie ein Kribbeln auf der Haut.
Es wurde Zeit für sein erstes Frühstück, bevor er zu Graf Viktor zurückkehrte, um mit ihm zu speisen.
Mit wenigen Schritten hatte er den hinteren Zaun des Friedhofes überwunden und tauchte in die verschneite, dunkle Stille des Gebirgswaldes ein. Aufmerksam loteten seine sensiblen Ohren die Umgebung aus. Er konnte das junge Reh auf der Zunge schmecken, noch bevor er es sah. Wie ein dunkler Schatten kam er über das ahnungslose Tier, das starb, bevor es nur an Flucht denken konnte. Gierig schlug der Mann seine raubtierhaft verlängerten Zähne in den pulsierenden Hals des sterbenden Rehs und trank zügig und schnell, wie ein Verdurstender. Hellrot leuchteten die wenigen Blutstropfen, die vom Kinn Hirams tropfend ihren Weg zu Boden fanden.
Erleichtert, befriedigt, gesättigt ließ er von seinem Opfer ab, nachdem diesem der Lebenssaft ausgegangen war. Hiram spürte, wie die Wärme durch seinen Körper strömte. Er strich dem Tier einige Male sanft über das Fell und die weichen Ohren, um sich bei ihm für das Blut zu bedanken, und erhob sich dann.
Sich lässig den Schnee von den Knien putzend, machte er sich auf den Weg zurück. Er ordnete seine Kleidung und versicherte sich, keine verräterischen Spuren an sich zu haben, bevor er das Schlossgelände durch dieselbe schwere Tür betrat, durch die er dieses zuvor verlassen hatte.
Die Dienerschaft war inzwischen erwacht, Waschfrauen trieben Leintücher durch die Mangel, der Schmied beschlug Ackergäule mit Eisen, Kinder liefen lärmend und lachend hinter Hühnern oder Hunden her.
Hiram machte sich nicht groß die Mühe, auf das allgegenwärtige Gesinde zu achten und betrat das Schloss durch einen der Seiteneingänge. Dank seiner guten Ohren, geschärft durch das frische Blut in seinen Adern, fand er den Weg und traf auf halber Strecke auf Sebastian.
»Oh, Lord Sandringham. Ich wollte gerade ein paar Burschen nach Euch suchen lassen. Das Frühstück ist angerichtet und Graf Viktor erwartet Euch.«
Der Angesprochene lächelte. »Verzeiht mir die Umstände. Ich bin wohl weiter gegangen, als ich beabsichtigt hatte.«
Der Butler nickte nur und deutete dem Mann, ihm zu folgen.
»Mein Herr hatte Sorge, Ihr könntet Euch verlaufen haben. Das geschieht leider häufiger, besonders im Winter.«
Hiram schmunzelte und betrat das sonnenerhellte Esszimmer, in dem Graf Viktor am Kamin stand. Der Engländer blinzelte wegen des Lichts und wandte sich an den Adligen: »Ich muss mich für die Verspätung entschuldigen. Ich hoffe, ich habe Euch nicht zu lange warten lassen?!«
Viktor wandte sich um, mit dem festen Vorsatz, ausdruckslos wie eine Puppe zu bleiben angesichts des Angebots von vergangener Nacht. Doch bereits der erste Blick auf den Engländer mit seinen blauen Augen, die durch die von Kälte geröteten Wangen noch mehr leuchteten, ließ ihn scheitern. Er spürte, wie er rot anlief, schloss die Lider und brummte.
»Es ist gut zu sehen, dass der Wald Euch nicht verschluckt hat.«
»Es ist märchenhaft«, erwiderte Hiram nur. Viktor bot ihm einen Platz an der gedeckten Tafel an.
»Sebastian, würdest du dann bitte den Tee bringen? Ich bin sicher, Euch ist recht kalt, oder, Lord Sandringham?«
Der Leibdiener zog sich mit einer Verbeugung zurück und der Engländer lächelte beschwingt.
»Offengestanden ist mir gar nicht kalt. Bewegung an der frischen Morgenluft tut äußerst wohl.«
Der junge Adlige setzte sich ebenfalls und musterte sein Gegenüber. »Dann gehe ich recht in der Annahme, dass Ihr wohl geruht habt? Hat die körperliche Ertüchtigung das gewünschte Ziel gebracht?«
Hiram nickte und schmunzelte schelmisch. »Womöglich noch besser, wenn Ihr nicht die Flucht ergriffen hättet ...«
Der junge Graf lief schlagartig rot an. »Ich bin nicht geflohen! Ihr habt mich des Zimmers verwiesen.«
»Das klingt, als wäret Ihr gern geblieben ...«
»Für ... Gespräche womöglich ja.«
Der blonde Engländer zwinkerte. »Verurteilt mich nicht, wenn ich sage, dass das Angebot noch besteht. Ich stehe Euch allerdings auch für Unterhaltungen zur Verfügung.«
»Ich schätze Euch als geistreichen und amüsanten Gesprächspartner. Jedoch möchte ich darum bitten, Themen die ins Schlafzimmer gehören, künftig zu vermeiden. Das Personal bekommt ohnehin schon viel zu viel mit und ich kann es mir nicht leisten, dass Gerüchte aufkommen ...«
Viktor wandte den Kopf ab und blickte in die Morgensonne, was seine Augen wie Kastanien schimmern ließ.
Hiram fühlte, wie sein Herz vor Aufregung und Verzückung einen Satz machte. Er legte dem jungen Grafen die Hand auf dessen zur Faust geballten Finger. Dieser zuckte und blickte ihn erschrocken an, zog die Hand aber nicht zurück.
»Solange es mir gelingt, ein Lachen auf Euer trauriges Gesicht zu bekommen, kümmert es mich nicht, ob ich das durch meinen Humor oder meinen Körper erreiche.«
Viktor konnte ein leichtes Schmunzeln nicht unterdrücken und löste seine Finger nun doch aus der Berührung.
»Warum? Ich meine, warum solltet Ihr das tun?«
»Ist doch ganz leicht: Ich begehre Euch. Und umso mehr, wenn Ihr lächelt.«
Der junge Adlige hatte rote Wangen bekommen und saß da wie ein Schuljunge, den man gelobt und gleichzeitig gerügt hatte. Verlegenheit sprach aus seinem Blick.
»Ah ... nun ...«, stammelte er, doch Hirams ansteckendes Lachen unterbrach ihn.
»Es besteht kein Grund zum Drucksen, mein Graf. Ich bin ein Liebhaber schöner Dinge und erfreue mich so auch an einem Gesicht wie dem Eurigen, dem sicher kein Maler jemals gerecht werden kann.«
Viktor seufzte ergeben. »Das hatten wir doch schon, Lord Sandringham. Ich bin bereits 28. In zehn Jahren ist sie dahin, die viel gerühmte Schönheit, von der Ihr sprecht.«
»Zeit genug, diese zu bewundern.«
Die Unterhaltung wurde durch Sebastian unterbrochen, der kochend heißen Tee und aromatischen Schnaps gegen die Kälte servierte. Dankbar nahmen die beiden Männer am Tisch ihre Getränke entgegen und bedienten sich an den Brötchen, die erst an diesem Morgen frisch aus dem Ofen gekommen waren.
~
Um Graf Viktors Gastfreundschaft wertzuschätzen, gab sich der Lord Mühe, dem Wunsch des Grafen, keine Zoten mehr zu machen, zu entsprechen. Während des Frühstücks sprachen sie über Musik und Hiram hatte gestanden, fürchterlich unmusikalisch zu sein, während er Viktor großes Talent zusprach.
Um das reichhaltige Essen zu verdauen, setzte der junge Graf die Schlossführung fort, zeigte dem Engländer die bunt und reich eingerichtete Kapelle, in der sich dutzende vergoldete und kostbar verzierte orthodoxe Ikonen tummelten, den Ahnensaal, in dem Portraits fast aller Draganestis vor Viktor hingen und Hiram gelang dadurch zum ersten Mal ein Blick auf Gräfin Julieta und den kleinen Gabriel, der als Säugling auf ihrem Schoß dargestellt worden war.
»Eine Schönheit, Eure Gemahlin. Leicht vorzustellen, dass man sie lieben konnte.«
»Ja ...«, murmelte der Graf nur und schritt die Bilder ab. Sein eigenes Portrait hing hier nicht. Genaugenommen existierte keines. Der Maler, der Julieta und seinen Sohn gemalt hatte, war ebenfalls an Typhus gestorben.
»Gibt es etwas, das Ihr gern sehen wollen würdet?« Viktor wandte sich zu Hiram um. Dieser nickte.
»Oh ja. Wäre es möglich, auf die Wehrmauer zu gehen? Ich würde zu gern von dort aus auf das Land sehen. Die Aussicht muss fantastisch sein.«
Graf Viktor schmunzelte. »Vermutlich ist nur Fliegen schöner.«
Gemeinsam machten sie sich auf den Weg. Die patrouillierenden Wachmänner waren überrascht, ihren Herrn auf den Zinnen spazieren gehen zu sehen, aber wer hätte es ihm verweigern sollen. Es war ja sein Besitz.
»Phänomenal!«, befand Hiram, als sich sein Blick westwärts ins Land richtete.
Das Wetter war klar. Man konnte kilometerweit auf weiß-braune Felder und immergrüne Wälder blicken.
»Erwartungen erfüllt?«
»Aber ja. Man hat von unten keine Vorstellung, wie hoch diese Mauern sind.«
»Und wie tröstlich der Gedanke ist, dass man sich nur fallen lassen muss, wenn man nicht mehr kann ...«
Hiram berührte Viktors Hand unauffällig. »Lasst Euch von niemandem einreden, Euer Leben sei nichts wert, weil Ihr anders fühlt. Auch von Euch selbst nicht. Liebt Euch selbst. Ihr seid das wert.«
Der junge Graf machte sich los und stürmte in einen der leeren Wachtürme. Er war aufgewühlt. Der Engländer folgte ihm verwundert.
»Habe ich Euch verärgert?«
Viktor schüttelte unwillig den Kopf. »Ihr ... sagt diese Sachen über mich. Woher wollt Ihr wissen, dass ich es wert bin? Ihr kennt mich nicht!«
Hiram trat an ihn heran und legte ihm die Hände auf die Schultern, um ihn zu beruhigen.
»Ich lese Euch. Ich bin ein guter Menschenkenner.«
»Bei mir täuscht Ihr Euch!« Viktor schluchzte auf und sank auf die Knie. Sein Haar fiel ihm ins Gesicht und er wirkte sehr jung.
Der Lord ging in die Hocke und zog den anderen Mann wortlos in seine Arme. Viktor klammerte sich wie ein Ertrinkender an ihn, während ihm die Nerven durchgingen.
»Lange her, dass Euch jemand in den Arm genommen hat, hm?«
»Ihr ... macht Euch keine Vorstellung. Es tut mir leid.« Der junge Adlige löste sich verlegen von dem Engländer. Dieser lächelte nur, legte eine Hand an Viktors Nacken und presste ihm sanft seine Lippen auf den Mund.