Das Castle war ein gewaltiger Gebäudekomplex, für das menschliche Auge in einem magischen Nebel unsichtbar, versteckt inmitten des unwegsamen Gebirges der Karpaten. Einst von flüchtigen, wohlhabenden Seelenfresser–Dämonen als Unterschlupf gegründet, war es nun für seine Bewohner der letzte Zufluchtsort. Einer ritterlichen Festung gleich, war sein Innerstes dagegen modern und prunkvoll ausgestattet. Kalter Marmor glänzte vom Boden auf, da sich die Ausdünstungen mancher Bewohner davon einfacher entfernen ließen. Vor langer Zeit hatte es Steinböden gegeben, man hatte es zwischendurch auch mit Holz versucht, doch die Absonderungen einiger Kreaturen waren so aggressiv, dass diese sich teilweise durch den Boden gebrannt oder durchgefressen hatten. Seitdem es nun Marmor gab, waren die Unfälle durch die ehemals zahlreichen, vorhandenen Löcher im Boden nahezu komplett zurückgegangen. Vor langer Zeit hatte es kostbare Ölgemälde an den Wänden entlang aller Gänge in den Etagen gegeben, doch inzwischen waren kaum noch welche vorhanden. Sobald einer der Bewohner in Geldnot war, wurde kurzerhand Inventar des Castles veräußert.
Vor feindlichen Angriffen geschützt, lebten die unterschiedlichsten Fantasie– und Sagengestalten darin, die sich nicht unbedingt miteinander vertrugen. Ihre einzige Gemeinsamkeit war, dass sie aus ihren Gilden oder Clans verstoßen worden waren und ohne das Castle auf sich selbst gestellt wären. Reibereien waren daher an der Tagesordnung, doch nie zuvor hatten die Bewohner sich gegenseitig umgebracht, egal wie ungewöhnlich sie auch sein mochten. Trotz aller Differenzen wussten die meisten, dass ihre Mitbewohner alles waren, was ihnen noch geblieben war. Archibald stand daher vor mehr als nur einem großen Rätsel. Während er den anderen zur Bibliothek folgte, zermarterte er sich das Gehirn, doch er kam immer zum selben Ergebnis: Für einen Mord kamen entweder alle hier in Frage oder keiner. Wobei er wieder am Anfang seiner Überlegungen war. Seit Tagen drehten sich seine Gedanken im Kreis, das machte ihn nahezu wahnsinnig.
Wie erwartet, war es in der Bibliothek menschen–, beziehungsweise monsterleer. Archie bedauerte den Umstand, dass die meisten der Wesen des Castle keinen Sinn für das geschriebene Wort hatten. Er selbst könnte den ganzen Tag in der himmlischen Stille verbringen, die von meterhohen Wänden voller Wissen umschlossen wurde, über die ein Dach mit von Michelangelo nachempfundenen Fresken wachte. Mit raschen Schritten steuerte er einen der massiven, dunklen Eichentische in der Mitte des riesigen Raumes an. Die gesamte Einrichtung glich der, die Archie noch aus seinen Zeiten aus London kannte, als er lange im angesagtesten Gentlemen´s Club der Stadt verkehrte. Formvollendet geschnitzte Herrenschränke reihten sich aneinander, hinter deren Türen sich uralte, teils sehr lädierte Wälzer verbargen. Der ehemals in kunstvollen Mustern arrangierte Parkettboden war ebenfalls dem kühlen Marmor gewichen. Im Laufe der Jahrhunderte hatte irgendjemand einige wertvolle Handschriften und mittelalterliche Druckereien zusammengetragen, die geschützt in den Vitrinen aufbewahrt wurden. Hin und wieder steckte Archibald begeistert seine interessierte Schnauze in die alten Wälzer. Wer hier Zeit verbringen wollte, hatte die Möglichkeit zwischen den rustikalen, großflächigen Tischen in der Mitte des Zimmers zu wählen, oder es sich auf den alten Neorenaissance Sofas und Sessel bequem zu machen. Deren rote Samtpolster waren noch erstaunlich gut erhalten, wie auch die filigranen Schnitzereien der Lehnen und Standfüße. Der antike Globus neben dem massiven Eichenschreibtisch linker Hand war jedoch nur Tarnung. Dort versteckte Archie seinen guten Whiskey.
»Und was machen wir hier jetzt nochmal genau? Hier gibt es keine heißen Weiber.« Belial ließ sich schnaubend auf einen der Stühle fallen und spielte mit einer Strähne seines Haars.
»Die suchen wir auch nicht.«
»Was dann? Willst du die Bücher befragen, wer unser Killer ist?«
Archibald deutete Vlad und Fred an sich zu setzen. »Nein Belial, hier haben wir Platz und Ruhe, um unseren Plan zu schmieden.«
»Und wie gedenkst du vorzugehen?« Vlad legte seinen Kopf leicht schief, was auf Grund seines schlanken Halses irgendwie merkwürdig aussah.
»Ich habe uns alles besorgt, was wir benötigen.« Als er jedoch ausnahmslos in fragende Gesichter blickte, fuhr er leicht genervt fort: »Eine Spionageausrüstung!« Nachdem sich noch immer keiner rührte, stand er ächzend auf und stapfte geradewegs auf einen der Schränke im hinteren Teil der Bibliothek zu. Er griff jedoch nicht nach einem der darin enthaltenen Bücher, sondern betätigte einen versteckten Geheimmechanismus, sodass sich die Rückwand ruckartig verschob, als sie sich nach hinten wegdrehte. Es erschien ein bis dahin verborgenes Regal, in dem er etwas sicher verwahrte.
»Hier«, sagte er mürrisch, sobald er wieder bei den anderen war und die große Kiste auf der Tischplatte ausleerte.
»Ein Fernglas?« Belial griff nach dem Gegenstand und sah hindurch. »Heilige Scheiße!«, schrie er erschrocken, als Fred direkt vor seinem Gesicht auftauchte. »Mach das nie wieder, Mister Lepra, oder ich kotz dir auf die Füße!«
Archie zog eine Grimasse, Fred in vielfacher Vergrößerung zu sehen war sicherlich kein angenehmer Anblick.
»Was hast du denn damit vor? Willst du unterwegs Kabelfernsehen empfangen?« Vlad nahm die Mini–Parabolantenne in die Hand und begutachtete sie von allen Seiten.
»Die ist Teil eines Abhörsets«, erwiderte er.
»Und wen gedenkst du abzuhören?«
»Nun ja, jeden, der sich verdächtig macht.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich wissen will, was die Dumpfbacken hier im Castle alles so treiben.«
»Kann ich mir das Fernglas borgen?«, fragte Belial dazwischen.
»Weshalb?«
»Die scharfe Tussi neulich aus der Bar zieht ihre Vorhänge abends nie zu«, antwortete er grinsend.
Hin und wieder verließen sie das Castle und mischten sich unauffällig unter die Menschen, die einen erfolgreicher als die anderen. Und Belial, der aussah wie ein berühmter Filmstar, war deutlich erfolgreicher als der Rest. Zumindest beim weiblichen Menschengeschlecht. »Dafür ist es nicht gedacht«, wandte Archie ein.
»Hui, toll, so viele Telefone, darf ich jemanden anrufen? Bitte bitte!«, flehte Fred.
»Tut mir leid, mein zerfledderter Freund, ich habe nur welche für mich, den Schönling und Fürst Depri besorgt.«
»Ach menno.« Enttäuscht senkte der Zombie den Kopf und tat Archie in diesem Augenblick leid. Der arme Kerl konnte schließlich nichts dafür, dass dieses Miststück von Hexe eine Witzfigur aus ihm gemacht hatte. Eine einzigartige Witzfigur immerhin.
»Telefone für uns?« Der Höllenfürst legte das Fernglas zur Seite und konzentrierte sich auf die Handys.
»Prepaid–Handys, nicht nachzuverfolgen.«
»Aber wozu brauchen wir die? Benutzt man die nicht, wenn man selbst beschattet wird?«
Archie kniff seine Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und räusperte sich. »Ja und? So sind wir wenigstens abgesichert, falls jemand auf die Idee kommt, uns hinterherzuspionieren.«
»Ah ja. Und wofür soll das gut sein?« Belial hob die dunklen Schutzmasken aus Wolle mit den Fingerspitzen hoch, als seien sie giftig.
»Damit uns niemand identifizieren kann, wenn wir bei unseren Ermittlungen versehentlich auf die falsche Person treffen. Ich habe noch ein paar schwarze Overalls bei Ebay bestellt, die sind allerdings noch nicht eingetroffen.«
»O–kay?« Sichtlich verwirrt legte Belial die Maske wieder auf den Stapel zurück.
»Ihr denkt, ich mache Witze, nicht wahr?«
»Nun ja …, ich ruiniere mir bestimmt nicht meine Frisur mit diesen albernen Dingern«, sagte Vlad protestierend.
»Leute, jetzt denkt doch endlich mal nach. Ich war früher beim Geheimdienst, bevor diese Wandlungssache ein wenig außer Kontrolle geriet.« Archies Metamorphose zum Werwolf vollzog sich seit einigen Jahren manchmal ohne, dass er es wollte, oder nicht mehr vollständig, weshalb er am Ende im Castle gelandet war.
»Ja, aber seit dem Zweiten Weltkrieg hat sich einiges geändert, Bello«, sagte Belial schmunzelnd.
»Das weiß ich selber, und unsere bescheidenen Mittel sind alles andere als das Hightech-Zeug des heutigen MI6, aber unser Mörder ist mit Sicherheit auch kein so großer Fisch, als das wir ihn nicht kriegen könnten.« Anschließend kratzte er sich verlegen am Kinn und sah auf den Boden. »Außerdem habe ich alle Folgen von The Blacklist gesehen.«
»Du willst das also echt durchziehen?«
Archibald blickte in die leicht irritiert aussehenden Gesichter von Belial und Vlad, und anschließend in das freudestrahlende von Fred. »Ja, das will ich. Ich will denjenigen fassen, der unter all den Kreaturen das einzig wahre Monster ist! Das hier ist unser Zuhause. Wenn uns das Castle genommen wird, sind wir obdachlos und das werde ich nicht zulassen. Viele von uns kämen allein nicht mehr klar.«
»Fein. Überführen wir also den Castle–Killer. Ich bin dabei.« Der Höllenfürst hob die flache Hand, um einzuschlagen.
»Warum nicht. Mein Leben ist ohnehin ohne jegliche Freude und ohne Sinn. Ein bisschen Abwechslung kann nicht falsch sein. Ich muss jetzt aber nicht dieses kindische Ritual machen?« Vlad verzog den Mund und verschränkte die Hände hinter dem Rücken, um nicht abklatschen zu müssen.
»Natürlich nicht. Das ist fantastisch, euch dabei zu haben.« Archie freute sich sichtlich.
»Ich auch, ich auch.« Fred hob seine Hand ebenfalls, was die anderen zu einem erschrockenen Aufschrei verleitete.
»Denk doch nur einmal nach, oder sind alle deine Gehirnzellen schon verwest?«, sagte Belial vorwurfsvoll, der ebenso wie alle anderen Anwesenden froh war, dass ihnen der erneute Anblick von Freds umherfliegenden Körperteilen erspart geblieben war. Für dieses Mal.
»Entschuldigung«, erwiderte dieser zerknirscht.
»Muss es denn unbedingt dabei sein?« Vlad sah Fred mit hochgezogener Augenbraue an.
»Reg dich ab, Tepes, wenn unser vom Zerfall heimgesuchter Freund sagt, er ist dabei, dann ist er auch dabei.« Belials stoischer Gesichtsausdruck suggerierte, dass er keine Widerrede duldete.
»Fein. Bitte. Aber lasst mich aus dem Spiel, wenn ihr wieder mal auf der Suche nach irgendwelchen Körperteilen von ihm seid. Ekelhaft ist das.« Er schüttelte sich demonstrativ.
»Wie gehen wir nun vor?«, überging der Höllenfürst Vlads Protest.
»Wir schleichen uns in Garrys Zimmer zurück, sobald sich die Aufregung gelegt hat und niemand mehr darin herumschnüffelt.«
»Wieso Garry? Der ist doch schon tot?«
»Ja, Mister Schönheit–kommt–vor–Intelligenz. Genau deshalb. Der Täter muss irgendwo Spuren hinterlassen haben, die wir bisher übersehen haben. Und das Sumpfmonster war sein letztes Opfer, es ist quasi gerade erst geschehen. Unsere Chancen einen Hinweis zu finden, sind daher am letzten Tatort am Größten.«
»Was ist mit den Räumen der anderen Toten?«
»Die wurden, soweit ich weiß, bereits anderweitig vergeben.« Vlad zuckte desinteressiert mit den Schultern.
»Wurden sie umgebracht, weil jemand ihren Platz wollte?«, wagte sich Fred vor.
»Unwahrscheinlich«, erwiderte Archie. »Das Castle bietet genug Kreaturen Platz, und so oft stoßen die Neulinge auch nicht zu uns.«
»Also nochmal zu Garry?«, fragte Belial seufzend.
»Also nochmal zu Garry«, bestätigte Archibald.
»Dann hoffe ich, dass die Sauerei schon weggeputzt wurde, ich habe wirklich keine Lust, in dem grünen Schleim herumzuwaten.«
»Einfach abartig«, murmelte Vlad, der sich ebenfalls erhob und dem Rest hinterher stolzierte.