Kapitel 2
Jillian starrte schon seit zehn Minuten flehend die Zeiger der Uhr an, aber die Zeit schien heute einfach nicht vergehen zu wollen. Ticktack, ticktack. Im Klassenzimmer herrschte tonloses Schweigen. Zu hören war nur das Geräusch der vielen kratzenden Füller auf Papier. Sie hatte das Tafelbild über „rudimentäre Organe“ schon in ihren Hefter geschmiert und langweilte sich nun zu Tode. Für Jillian war die Schule nur eine lästige Verpflichtung, die sich irgendwann einmal irgendein Erwachsener ausgedacht hatte, um die Jugendlichen in Schach zu halten. Für sie war es pure Zeitverschwendung, einfach drinnen zu sitzen und sich von ihrem Lehrer etwas erzählen zu lassen, was sie ohnehin nicht interessierte und wieder vergessen würde, sobald er den Mund wieder schloss. Was aber noch lange nicht hieß, dass Jillian ihren Lehrer nicht respektierte – im Gegenteil: sie mochte Herrn Kant sogar.
Sie warf einen Blick zu Jonas, der eine Bank weiter saß und konzentriert in sein Buch starrte. Sie rollte die Augen himmelwärts und konnte sich ein herzhaftes Gähnen nicht verkneifen. Als ihr Blick zufällig wieder nach vorn fiel, bemerkte sie, dass sie ihr Biologielehrer belustigt musterte. Ihr Gähnen war ihm scheinbar nicht entgangen. Sie strahlte ihn an und formte mit dem Lippen ein aufrichtig gemeintes: Entschuldigung. Er schüttelte nur lächelnd mit dem Kopf und wandte sich wieder seinen Aufzeichnungen zu.
Oh ja, sie mochte Herrn Kant. Er war witzig und locker, konnte aber auch sehr streng sein, wie sie es schon oft am eigenen Leib hatte erfahren müssen. Warum er allerdings gerade Lehrer geworden ist, konnte sie nicht verstehen. Ihr reichte es schon, sich einmal am Tag mit Naturwissenschaften herumquälen zu müssen, er tat nichts anderes. Schon allein der Gedanke daran, verursachte bei ihr eine Gänsehaut.
Jonas dagegen war ein sehr engagierter Schüler, teils durch den Druck, den seine Eltern ihm machten; teils aber auch, weil er durch ihre Erziehung einfach die feste Überzeugung hatte, dass gute Noten für späteren beruflichen Erfolg unerlässlich waren. Vielleicht hätte vieles mehr Sinn gemacht; wäre vieles leichter gewesen, wenn er nur schon gewusst hätte, was er beruflich machen wollte. Und zwar wirklich, was er wollte und nicht, was seine Eltern ihm einredeten zu wollen…
Jonas versuchte, sich auf seine Aufzeichnungen zu konzentrieren. So viel er verstand, war ein rudimentäres Organ ein Organ, das zwar rückgebildet aber nicht rückentwickelt war. Verwirrt blätterte er nochmals die dafür angegebenen Seiten in seinem Lehrbuch durch. Eigentlich war Biologie eines seiner Lieblingsfächer, aber jetzt, da sie sich langsam dem Abitur näherten und der Stoff immer anspruchsvoller wurde, fiel es ihm Stunde um Stunde schwerer. Zwar waren die Tafelbilder größtenteils nur noch Wiederholungen, aber sie wurden jetzt so detailliert aufgeführt, dass er einfach nicht mehr durchsah... vor allem nicht, wenn Jillian neben ihm weiterhin mit ihren Fingernägeln auf den Tisch klopfte. Genervt wandte er sich ihr zu, um sie zur Ruhe zu bringen, da läutete es auch schon zur Pause.
„Na endlich!“ Jillians Erleichterung war unüberhörbar. Sofort packte sie ihr Pausenbrot aus ihrer Tasche und biss hinein, wobei sie genießerisch das Gesicht verzog.
„Du warst ja ganz schön schnell fertig mit Abschreiben.“, bemerkte Jonas, als er ihre nicht mehr lesbare Schrift versuchte zu entziffern.
„Tja.“, war ihr einziger Kommentar darauf.
„Du weißt schon, dass wir die Aufzeichnungen für die nächste Bio-Stunde brauchen, oder?“
„Klar, hat er doch gesagt. Ich schreib sie mir heute Abend bei dir ab.“
Jonas schüttelte ungläubig mit dem Kopf. Er wusste manchmal nicht mehr, ob er lachen oder weinen sollte. Jillian sollte das Abitur bestehen! Wieso nahm sie das alles nur so leicht? Jonas sorgte sich sehr um ihre Noten, doch viel zu sagen hatte er in diesem Fall nicht, erstrecht nicht in den Pausen, in denen Justin Müller sich seit Wochen penetrant aber erfolgreich zwischen sie drängte. Tatsächlich verbrachte Jonas in der Schule mehr Zeit ohne Jillian als zu hause – was ihn ärgerte, da er auch noch genau neben ihr saß. „Jill, unsere nächste Bio-Stunde beginnt in zwanzig Minuten.“
Sie verschluckte sich fast an ihrem Schokoriegel. „Was?“ Sie warf noch einen Blick auf das Tafelbild und sah ein, dass sie es wohl in zwanzig Minuten nicht noch einmal schaffen würde abzuschreiben. „Na ja. Ich werde es schon entziffern können.“
Jonas sah erneut zu ihren Aufzeichnungen und hob eine Braue. Das wollte er doch bezweifeln.
„Kommst du heut nach der Schule mit zu mir? Es gibt Pfannkuchen!“, riss sie ihn dann aus seinen Gedanken.
„Machst du die Pfannkuchen?“, fragte er misstrauisch.
Jillian lachte herzlich. „Nein, meine Ma. Sie hat doch Mittwoch ihren freien Tag.“
Jonas atmete sichtlich auf. „Hoch lebe der Mittwoch!“
Wieder hallte ihr lautes Gelächter durch den ganzen Raum, was sofort Justin Müllers Aufmerksamkeit erregte. Selbstbewusst marschierte der Mädchenschwarm durch das Klassenzimmer, zog einen Stuhl an Jillians Tisch und setzte sich zu ihr. Mit seinem Charme und dem gekonnten Hollywood-Lächeln hatte er schon so manchem Mädchen den Kopf verdreht, wobei ihn sein sonnengelbes Haar und die große schlanke Statur sicher auch nie behindert hatten.
Jillian dagegen faszinierten seine Augen. Er hatte wunderschöne grüne Augen und wenn er lächelte, strahlten sie. Natürlich wusste sie, dass Justin die Mädchen so wichtig waren, wie die Schule, aber sie hatte Vertrauen, dass er sich ändern konnte.
„Hey. Und? Schon Pläne fürs Wochenende?“
„Ja, da bin ich mit Jonas verabredet. Er will mir endlich erklären, wie das in Mathe mit den Funktionsgleichungen geht.“
Jonas ließ Justin nicht eine Sekunde aus den Augen. Er wusste genau, was er von Jillian wollte – das, was sie alle immer nur von ihr wollten. Ohne es zu bemerken, ließ Jillian sich benutzen, um dann wieder eiskalt abserviert zu werden – immer und immer wieder.
Justin verbarg seinen Ärger über die nicht zustande gekommene Verabredung hinter einem strahlenden Lächeln. Er hätte Jillian anbieten können, ihr die Gleichungen zu erklären, nur dass leider altbekannt war, dass er genauso viel Ahnung von Mathematik hatte, wie ein Sack Kartoffeln. Er versuchte es mit einer anderen Taktik. „Ja, versteh ich. Der Test nächste Woche wird sicher nicht leicht. Wie wäre es dann, wenn wir uns nächstes Wochenende treffen? Ich bin mir sicher, Jonas hat dir am Samstag viel zu erzählen...“
Ohne die Worte gegen ihren besten Freund herauszuhören, stimmte Jillian sofort zu: „Ja, sehr gerne. Wir können ja ins Kino gehen oder so. Sorry, aber diese Woche geht das Treffen mit Jonas echt vor.“
„Keine Ursache, Jill. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.“ Er warf Jonas einen gehässigen Blick zu, der ihm wütend nachsah, als er zu seinem Platz zurückging.
Jillian kicherte in sich hinein.
„Ich fass das einfach nicht!“, flüsterte Jonas ihr wütend zu.
Verwirrt sah sie ihn an. „Was?“
„Der Typ will dich nur flachlegen!“, zischte er zwischen zusammengebissenen Zähnen durch.
„Du hast doch einen Knall!“, regte Jillian sich auf.
„Was meinst du, was der Satz Erst die Arbeit, dann das Vergnügen sonst noch bedeuten könnte?“
„Dass wir einfach nur viel Spaß im Kino haben werden?!“
„Jillian!“ Jonas sah ihr in die Augen.
Sie seufzte. „Jonny, glaubst du wirklich, ich geh gleich beim ersten Date mit ihm ins Bett?“
„Nein, aber...“
„Aber?“, wollte sie wissen.
Er zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder seinen Notizen zu. Er hatte Justins Taktik schon so oft gesehen und sie hatte jedes Mal funktioniert. Erst kamen ein paar harmlose Gespräche, dann eine kleine Einladung ins Kino und ein paar aufgeschriebene Worte, die er höchstwahrscheinlich aus irgendwelchen Filmen nahm und dann waren er und das Mädchen ein „Paar“. Das Paar-Sein dauerte bei Justin erstaunlich kurz an. So lange eben bis das Mädchen nachgab. Bei Mädchen, bei denen er wusste, sie hatten ihn durchschaut, verschwendete er gar nicht erst seine wertvolle Zeit.
Jillian musste schmunzeln als sie Jonas’ verbissenen Gesichtsausdruck sah. Er machte sich immer viel zu viele Sorgen. Sie war weiß Gott alt genug, um auf sich selbst aufpassen zu können. Sie stammte aus einer ehrlichen und liebevollen Familie. Sie konnte sich nicht vorstellen, warum jemand Gefühle nur vortäuschen sollte.
„Wir sind da-ha!“ Jillian sprang übermütig zur Küche hinein und umarmte ihre Mutter herzlich.
„Hallo, mein Schatz. Wo ist Jonny?“
„Hier bin ich.“ Lächelnd betrat nun auch Jonas die Küche. In diesem Haus hatte er sich immer schon daheim gefühlt.
„Oh wie schön, dich zu sehen.“ Jillians Mutter drückte ihm wie immer einen herzlichen Kuss auf die Stirn, nahm dann sein Gesicht in beide Hände und sah ihn besorgt an. „Du hast abgenommen.“
„Ma!“, regte Jillian sich auf.
„Hast du ihm gestern etwas zu essen gemacht, Jillian Seifert?“ Ihre Stimme klang streng, obwohl sie lächelte.
Jonas musste grinsen. „Natürlich hat sie das, Katrin!“, antwortete er an Jillians Stelle. „So, wie immer.“
Zufrieden wandte sie sich von ihm ab und widmete sich wieder ihrem Essen. Und Jonas musste wieder grinsen. Jillian und ihre Mutter standen mit dem Rücken zu ihm gewandt am Herd und unterhielten sich über ihren Tag, so waren sie nicht zu unterscheiden. Jillian war das genaue Ebenbild ihrer Mutter, die wie ihre Tochter langes schwarzes Haar, haselnussbraune Augen und eine zerbrechlich wirkende Figur hatte.
„Steh nicht so dumm rum, deck den Tisch.“, lachte Jillian ihn jetzt an. Sie hatte sich zu ihm umgedreht, leckte die für die Pfannkuchen vorgesehene Marmelade von einem Löffel ab und musterte ihn. „Im Grunde hat er überhaupt nicht abgenommen, Ma.“
„Jillian!“, erbost wandte sich Katrin ihrer Tochter zu, die Jonas nun in die Wange kniff. Er trug es mit Humor. „Er hat Pausbäckchen und sieh dir das an...“ Sie knuffte ihn in den Bauch. Alle lachten.
„Du hast Recht.“, seufzte Katrin dann, in dem Wissen, ihre Tochter damit auf die Palme zu bringen. „Jonas ist wahrscheinlich zu dick...“
„Neeeiiin!“ Ein langgezogener Klagelaut war die Antwort und Jonas und Katrin mussten lachen. „Ihr macht euch über mich lustig!“, fiel es Jillian endlich auf.
„Wo denkst du hin?“, fragte Jonas scheinheilig.
Jillians Mutter beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Was für ein schönes Paar sie abgeben würden, dachte sie dabei. Das Schicksal hatte Jonas und ihre Tochter für einander bestimmt, das schien jedem klar, nur den beiden nicht. Zeit, dachte Katrin lächelnd. Mit der Zeit wird sich alles verändern und auch ihre Gefühle. Und sie freute sich darauf, es mitzuerleben. Jillian und Jonas – das war wie Tag und Nacht, grundverschieden, aber das eine gäbe es ohne das andere nicht.
Lachend stolperten beide zum Tisch und setzten sich nebeneinander.
Katrin war gerade dabei, die Teller auf den Tisch zu stellen, als ihr Sohn zur Tür hereinkam. „Hallo Schatz.“ Wie zuvor bei Jonas, gab sie auch ihm einen Kuss auf die Stirn.
Jonas beobachtete, wie Tim sich ein wenig sträubte. Er schien nicht bester Laune zu sein und außerdem befand er mütterliche Streicheleinheiten in seinem Alter als kindisch. Wäre Tim nicht Jillians Bruder gewesen, dann hätten Jonas und er sich sicher niemals an einem Tisch gegenüber gesessen. Tim war einer dieser Justin-Typen und das sprach im Allgemeinen schon für sich. Er hielt weder viel von festen Beziehungen noch von der Schule, aber sein Praktikum im Ausland versuchte er sich hart zu erkämpfen und das verdiente Jonas’ Respekt. Tim war eigentlich ein netter Typ, etwas hochnäsig zu Jungs wie Jonas vielleicht, aber Jillian gegenüber verhielt er sich immer korrekt und das war das einzige, worauf es Jonas ankam.
„Hi Jill. Hi Jonny.“ Mürrisch ließ Tim sich auf den Stuhl neben seiner Schwester sinken und strich sich eine der blonden Haarsträhnen aus den Augen, die ihm locker ins Gesicht hingen.
„Was ist los? Gab es Ärger?“, fragte Jillian und musterte ihn besorgt.
Er seufzte. „Für das Praktikum in New York brauche ich dort natürlich erst einmal eine Unterkunft. Könnt ihr euch vorstellen, wie schwer es ist, von Deutschland aus eine Unterkunft in den Staaten zu suchen? Es ist ja nicht nur, dass ich mich in dieser Hinsicht überhaupt nicht auskenne und nicht weiß, in welcher Straße meine Wohnung sein muss, damit ich morgens gut und vor allem pünktlich zur Arbeit gelange. Versucht erst einmal die richtige Telefonnummer herauszubekommen, damit ihr endlich einen am anderen Ende der Leitung habt, der wirklich für die Wohnungsvermietung zuständig ist. Das läuft alles nicht so, wie ich es mir vorgestellt habe.“
„Du hast es dir aber auch viel zu einfach vorgestellt.“, warf Jillian ganz ohne bösen Willen ein.
„Jillian.“, bat ihre Mutter und setzte sich zu ihnen an den Tisch.
„Sie hat ja Recht, Ma. Ich glaube, meine kleine Schwester würde in dieser großen Stadt besser zurechtkommen als ich.“
Gedanklich stimmte Jonas ihm zu. Jillian schien nie jemanden für irgendetwas zu brauchen.
„Das ist natürlicher Überlebensinstinkt.“, warf diese nun großspurig ein und alle lachten. „Nein, ich würde das nicht durchstehen, denke ich. Ein fremdes Land, eine fremde Stadt. Du bist ganz auf dich allein gestellt. Ich brauche immer jemanden um mich herum und ohne Jonny geh ich überhaupt nirgendwo hin.“
Tim beobachtete die beiden und konnte nur immer wieder den Kopf schütteln. Jedes Jahr hatte er aufs Neue gedacht, dass Jillians und Jonas’ Freundschaft sich bald verändern würde, aber es war immer noch alles beim alten. Weder hatte sich einer der beiden in den anderen verliebt, noch waren sie zerstritten. Vielleicht musste er seine Theorie, dass es Freundschaft zwischen Junge und Mädchen nicht geben konnte doch noch einmal überdenken. Etwas neidisch auf Jonas war er schon, wenn auch nur auf diese eine Sache: er war seiner Schwester viel näher, als er selbst, obwohl sie sich nur selten stritten.
Nachdem sie aufgegessen hatten, stand Tim sofort vom Tisch auf und polterte die Treppe zu seinem Zimmer hoch. Jillian und Jonas warfen sich vielsagende Blicke zu, bevor sie aufstanden, um Jillians Mutter beim Abwasch zu helfen.
Diese warf ihrem Sohn besorgte Blicke hinterher. „Er macht sich Sorgen, dass es nicht klappt, mit seinem Praktikum in New York. Es ist sein größter Traum.“
„Der soll sich wieder einkriegen.“, bemerkte Jillian leichthin. „Er wird uns schon bald aus Amerika schreiben.“ Das Lächeln auf ihren Lippen und die leichten Worte verrieten, dass sie zutiefst in das vertraute, was sie soeben ausgesprochen hatte.
Jonas sah kurz zu Katrin hinüber, deren Gesicht sich sichtbar entspannte. Sie vertraute dem Urteil ihrer Tochter, die mehr als jeder andere an Tim glaubte.
„Und? Habt ihr heute noch irgendetwas Bestimmtes vor?“, fragte sie dann, während sie das getrocknete Geschirr in die Schränke räumte.
Jillian warf Jonas einen kurzen Blick zu, der die Frage scheinbar einfach überhört hatte und seufzte dann: „Nein. Jonny will lieber den ganzen Tag lernen.“
Jonas hatte zwar Katrins Frage überhören können, der Vorwurf in Jillians Stimme aber, ließ sich nicht so einfach verdrängen.
„Schreibt ihr morgen einen Test?“, erkundigte sich Jillians Mutter und sah ihre Tochter forschend an. Ihr entging nicht, dass die Schule Jillian von Jahr zu Jahr schwerer fiel. Ebenso wenig entging ihr, dass Jillian sich wirklich bemühte und immer versuchte, ihr bestes zu geben. René und Katrin hatten schon vor Tims Geburt beschlossen, ihre Kinder zu selbstbewussten und selbstständigen Persönlichkeiten zu erziehen, darum kam ihr nicht für einen Moment in den Sinn, Jillian unter Druck zu setzen. Sie hatte immer selbst gewusst, was gut und richtig für sie war.
„Nein, das ist es ja gerade.“, riss die Stimme ihrer Tochter sie aus ihren Gedanken.
Jonas rollte die Augen bei dem vorwurfsvollen Ton himmelwärts. Konnte Jillian nicht verstehen, dass seine Eltern nicht so verständnisvoll mit ihm waren?
Katrin entging nicht, dass sich Jonas’ Miene verfinsterte und sie wusste auch sofort, woran das lag. Sie kannte Martin und Samantha Hill seit sie vor zwanzig Jahren in das Haus nebenan gezogen waren. Kennen gelernt hatte sie die beiden als ehrliche und nette Menschen. Erlebt hatte sie sie aber auch schon als viel zu strenge und verständnislose Eltern. Sie hatten ihre Ansichten und Jonas hatte die seinen. Keiner versuchte, einen Schritt auf den anderen zuzugehen. Und obwohl sie sich sicher war, dass Jonas und seine Eltern einander sehr liebten, hatte es noch nie eine Umarmung oder tröstende Worte zwischen ihnen gegeben und ihr entgingen Jonas’ Blicke nicht, wenn er diese Umarmungen dann von der Familie seiner besten Freundin bekam.
Sie liebte ihn genauso wie ihren eigenen Sohn, darum wählte sie ihre Worte äußerst sorgfältig: „Jonas, ich denke, dass du dir zu viel zumutest, indem du jeden Tag nur lernst. Du brauchst eine Auszeit. Du bist ein so guter Schüler. Lass dich nicht so sehr unter Druck setzen.“
„Niemand setzt mich unter Druck. Ich mach das nur für mich.“, war prompt die trotzige Antwort.
Jillian sah zu Jonas auf und in seinem Gesicht konnte sie lesen, dass er selbst spürte, dass Lügen ihm noch immer nicht gut über die Lippen kamen. Eigentlich war er immer offen und ehrlich zu ihr, doch wenn die Sprache auf die Beziehung zu seinen Eltern kam, biss jeder auf Granit. Für sie war das pure Sturheit seinerseits. Sie konnte ja nicht wissen, wie tief allein der Gedanke daran Jonas verletzte, geschweige denn ein Gespräch darüber mit einem Mädchen, das – wie Jonas fand – alles in seinen Eltern hatte, was ein Kind sich nur erträumen konnte.
Keiner sprach das Thema weiter an und Jillian lenkte geschickt ein: „Am Samstag lernen wir wieder zusammen und danach machen wir einen DVD-Abend.“
Katrin lächelte ihrer Tochter ermutigend zu. „So? Schon wieder?“
Jillian lächelte. Sie freute sich schon sehr darauf. Die DVD-Abende waren bei ihr und Jonas Tradition geworden. Es wurde alles angesehen, von den schlimmsten Liebesschnulzen bis zu den aufregendsten Horrorfilmen. Dabei gab es dann immer Popcorn und Cola, fast wie im Kino, nur eben viel gemütlicher. Sie und Jonas lagen dann immer auf seiner Schlafcouch, mit einer Kuscheldecke zugedeckt und wenn es draußen langsam dunkel wurde, zündete er sogar Kerzen an.
„Wir fahren diesen Samstag ins Kino.“, rief Katrin ihrer Tochter in Erinnerung, ohne sie von dem DVD-Abend mit Jonas abbringen zu wollen.
Jillian schlug sich die Handfläche gegen die Stirn. „Oh man. Das hatte ich völlig vergessen.“
Jonas sah Jillian fragend an. Er hatte sich schon auf diesen Samstagabend gefreut, aber schon gab ihre Mutter Entwarnung: „Das ist nicht schlimm, Kleines. Da Tim nun auch beschlossen hat nicht mitzukommen, habe ich seit langer Zeit mal wieder ein Date mit deinem Vater.“
Jillian lachte erleichtert auf. „Na da könnt ihr ja froh sein, uns los zu sein.“
„Das kannst du wissen. So, ihr beiden. Ich danke euch vielmals für die Hilfe.“, erwiderte Katrin lächelnd.
„Gern geschehen.“, antwortete Jonas ohne nachzudenken. „Die Pfannkuchen waren super lecker.“
„Wie man sieht...“ Jillian grinste und knuffte ihn nochmals in den Bauch. Wieder wurde die Küche von warmem Gelächter erfüllt.
Als sie zusammen das Haus verließen, lächelte Katrin warm in sich hinein. Sie spürte ganz deutlich etwas zwischen den beiden, was sonst noch niemand zu spüren schien und es freute sie. Sie schob die Gardine des Fensters, das sich über der Spüle befand, zurück und beobachtete sie noch eine ganze Weile.
Jillian stand fröstelnd an der Haustür, um sich von Jonas zu verabschieden. „Also wir sehen uns dann morgen früh.“
„Als ob ich das vergessen würde.“ Jillian lachte, obwohl ihr beim Gedanken an die Schule nicht wirklich danach zu mute war. „Bis dann.“, rief sie und wandte sich zum gehen.
Jonas überlegte. Es stimmte, dass er sich eine Auszeit verdient hatte und er wusste, dass Jillian allein nichts mit sich anzufangen wusste. Er hatte weder Lust darauf, dass sie allein in ihrem Zimmer saß, noch dass er dies tat. Darum bückte er sich, formte mit schnellen Bewegungen einen kleinen Ball aus dem frischgefallenem Neuschnee und warf ihn Jillian an den Hinterkopf.
Als sie erschrocken aufschrie, lachte er sie lauthals aus. Völlig verdattert stand sie da und sah ihn unschlüssig an. „Zieh deine Jacke an! Zeit für eine Schneeballschlacht.“
Das war ihr Zeichen, wieder übers ganze Gesicht zu strahlen. Sie würde den Nachmittag nicht allein oben in ihrem Zimmer verbringen müssen. Schnell zog sie ihre Jacke vom Hacken an der Garderobe, schlüpfte hinein und stürzte sich dann mitten in eine kalte und lustige Schneeballschlacht.
Katrin sah zuerst ihrer Tochter ins Gesicht und dann Jonas. Sie konnte nicht ausdrücken, wie dankbar sie war, dass sie einander hatten. Sie konnte sich noch gut an den Tag erinnern, als sie die beiden das erste Mal zusammen gesehen hatte, das musste jetzt bereits dreizehn Jahre her sein.
Damals hatte allerdings kein Schnee gelegen. Der Tag hatte in der Schwebe zwischen Frühling und Sommer gehangen. Sie hatte Jillian zum Spielen rausgeschickt, weil sie an diesem Tag wieder besonders aufgedreht gewesen ist. Sie hatte einen Kuchen für Tims Geburtstagsfeier backen wollen, aber immer war Jillian in die Küche gekommen, ganz schlechtgelaunt vor lauter Langeweile.
Schmollend war sie dem Rat ihrer Mutter gefolgt, sich draußen etwas zum Spielen zu suchen. Als Katrin dann, wie heute, aus dem Küchenfenster geschaut hatte, um nach ihrer Tochter zu sehen, lagen sie und Jonas nebeneinander unter dem großen Kirschbaum. Duzende Blütenblätter waren durch die Luft gewirbelt. Dieses Bild würde sie niemals vergessen. Auf sie hatte alles so magisch gewirkt, wie der Beginn eines wundervollen Märchens.