Verwirrt drehte ich mich einmal um meine eigene Achse und durchsuchte fieberhaft mit meinen Augen den kleinen Raum. Doch Taylor war nicht zu sehen.
Wie hatte er es geschafft den Trainingsraum zu verlassen? Es gab doch nur einen Ausgang und der führte durch den kleinen Überwachungsraum. Wo war Taylor also?
Schwatzend und einander Neckend räumten unsere Mentoren ihre Unterlagen lautstark zusammen in denen sie unsere Fortschritte bewerteten. Sie schienen Taylor's Abwesenheit nicht bemerkt zu haben. Oder hatte nur ich nicht bemerkt das er den Raum verlassen hatte? Nein das war unmöglich. Ich stand doch genau an der Tür. Vorbeischleichen wäre unmöglich. Warum hatten sie also noch nicht bemerkt das er fehlte? Unsere Mentoren hatten inzwischen ihre Unterlagen und andere Utensilien zusammengesucht. Lachend verließen Rover, Mortimer und Arthur den Raum und gingen laut schwatzend den langen Korridor entlang zurück in das Internat. Bedrückt blieb ich in dem stillen Raum zurück und sah den drei Mentoren nach als eine Stimme neben mir ertönte.
„Warum so besorgt, Raven? Du müsstest doch vor Stolz und Glück hier durch den Raum tanzen, immerhin hast du gerade einen Kampf gegen deinen größten Konkurrenten gewonnen. Und das zurecht, wenn ich das Anmerken darf.“
Lächelnd hob ich den Kopf. Neben mir stand Jaxson und betrachtete mich mit seinen warmen dunkelbraunen Augen. Der schlaksige, 1,90 m große Mann war der ruhigste und lustigste Mentor von der Engelsakademie. Taylor's verschwinden hatte mich so beschäftigt das ich gar nicht bemerkt hatte das Jaxson genau wie ich gar nicht den Raum verlassen hatte.
„Danke. Ich fühle mich aber nicht so als hätte ich es verdient. Taylor hatte einen schwachen Moment und den habe ich ausgenützt, das ist alles. Taylor hatte Recht als er sagte, ich wäre abgelenkt gewesen. Ich habe ihn nie bemerkt,“ gab ich beschämt zu.
Beruhigend legte mir Jaxson seine warme Hand auf die Schulter.
„Weißt du, Taylor's größte Stärke ist es nicht gesehen zu werden. Er hat die Begabung in einem Raum vollkommen zu verschwinden. Ihn zu finden oder zu bemerken ist wahrhaft eine Leistung. Nicht mal ich bemerke ihn immer,“ entgegnete er grinsend und lehnte sich an das Mischpult. Nachdenklich schweifte sein Blick in den langen Gang. Ich folgte seinem Blick doch der lange Gang war vollkommen leer. Ich konnte nichts erkennen das seine Aufmerksamkeit geweckt haben könnte.
„Das sagst du doch nur so, Jaxson, um mich zu beschwichtigen. Ich werde Morgen elendig scheitern so wie Taylor sagte,“ murmelte ich und lies mich auf einen der Bürostühle nieder, die im Raum verteilt standen. Panik breitete sich in mir aus als ich an die Prüfung dachte. Ich hatte keine Wahl. Durchfallen war für die einzige Tochter des großen Erzengels Michael keine Option.
„Das war mein voller Ernst, Raven, als ich sagte du hättest zu Recht gewonnen. Du bist die Talentierteste Engelskriegerin die ich je getroffen habe. Niemand kann Menschen so gut einschätzen und lesen wie du, und hat dabei noch so ein Gütiges Herz,“ entgegnete mir der Mentor bestimmt und wandte seinen Blick wieder mir zu. Seine fast schwarzen Augen ruhten auf mir.
„Aber Taylor ist besser als ich. Er gewinnt jeden Schaukampf.“
„Bis auf Heute, Raven. Was sagt uns das?“ erwiderte Jaxson und erhob sich langsam.
„Das er heute keinen guten Tag hatte?“ witzelte ich. Ein breites Grinsen erschien auf dem Gesicht des Mentors. Langsam schüttelte er den Kopf.
„Nein. Taylor ist ohne Frage ein talentierter Kämpfer aber wie jeder Mann hat auch er eine Schwäche,“ antwortete mir der Mentor bestimmt und fuhr sich seufzend mit einer Hand durch sein lichtes schwarzes Haar.
„Und die wäre?“ fragte ich neugierig. Jaxson lachte laut auf, fuhr sich mit einer Hand über seinen Dreitagebart und ging langsam zur Tür des Raumes. „Das werde ich dir nicht verraten, aber seine Arroganz wird ihn noch irgendwann seinen Kragen kosten.“ Mit diesen Worten ließ mich Jaxson in dem kleinen Raum alleine. Das geheimnisvolle Verschwinden von Taylor hatte ich inzwischen vollkommen vergessen.
Eine Weile saß ich alleine in dem Raum und grübelte über die Worte des Mentors. Was könnte die geheimnisvolle Schwäche von Taylor sein? War mein gütiges Herz nicht auch eine Schwäche? Taylor würde mit Sicherheit ja sagen, flüsterte mir eine gehässige Stimme. Verstimmt erhob ich mich von dem Bürostuhl und verließ schließlich leise den Raum.
Völlig in Gedanken versunken ging ich den leeren Gang entlang. Über mir flackerten die Halogenlampen, bis einige vollends mit einem zischen erloschen. Im halbdunkeln und mit einem mulmigen Gefühl im Magen setzte ich meinen Weg fort. Mit gespitzten Ohren und wachsamen Augen suchte ich den Gang ab. Keine Bewegung. Doch das Mulmige Gefühl beobachtet zu werden blieb.
„Okay, Raven. Nur keine Panik. Du bist alleine hier im Trakt B. Niemand beobachtet dich,“ sprach ich mir laut Mut zu.
Meine Stimme hallte von den kargen schmutzigen Wänden wieder an denen der Putz herunter bröckelte. Trakt B war das Trainingsgelände der Akademie auf dem Bogenschießen, Schwertkampf und ähnliche Verteidigungs- und Kampfarten geübt wurden. Die Engelsakademie, auch Skyland High genannt, ist ein Internat in dem Engel die zu Krieger, Beschützer oder Heiler bei ihrer Geburt auserwählt waren von ihrem elften Lebensjahr an ausgebildet wurden.
Das Internat lag einige Kilometer außerhalb der Hauptstadt Skycity und erstreckte sich über mehrere Länderreihen. Das Gebäude, ein mehrstöckiges Institut, hatte mehrere Außengebäude, die sogenannten Trakte. In diesen Trakten wurden hauptsächlich Praktische Dinge gelehrt, wie hier in diesem Trakt. Insgesamt gab es acht verschiedene Trakte die alle mit einem Buchstaben gekennzeichnet waren. Ohne Erlaubnis eines Mentors oder Lehrers durften diese nie alleine Betreten werden. Auch wenn die Waffen und die Umgebungen in den Trainingsräumen alle nur Illusionen waren, war schon zu viel passiert. Einige waren in den Illusionen verschwunden, andere wurden verletzt. So war es Schülern nur noch erlaubt am Tage zu trainieren und das nur unter den wachsamen Augen eines Mentors.
Allerdings war es jetzt dreiundzwanzig Uhr, wie ich mit einem Blick auf meine Armbanduhr feststellte und um diese Zeit war es niemanden, außer den älteren Semestern die für ein späteres Training angemeldet waren, erlaubt sich noch auf dem Gelände aufzuhalten. Heute war das außer ich nur Taylor. Den hatte ich zuletzt im Training gesehen wie mir schlagartig wieder einfiel. Ich war allerdings sicher, dass er nach seiner beschämenden Niederlage gegen mich beleidigt Richtung Schlaftrakt der Jungen, der im Hauptgebäude lag, abgezischt war, um seine angekratztes Ego an einen schwächeren Schüler der Unterstufe wieder in Ordnung zu bringen.
Ein wenig beruhigter ging ich schleunigst weiter durch den langen Flur auf den Ausgang zu. Ich ignorierte das Gefühl beobachtet zu werden und meine inneren Alarmglocken die schellten. Wer sollte schon hier sein? In vier Tagen begannen die Ferien. Das Hochfest der Engel stand vor der Tür. Alle freuten sich auf die Zeit bei ihren Familien. Alle außer ich.
Gedankenverloren ging ich langsam durch den Flur. Wenige Meter vor der Tür erloschen mit einem zischen die anderen Halogenlampen und ich stand eingehüllt in völliger Dunkelheit. Erschrocken blieb ich wie angewurzelt stehen und hielt den Atem an.
Angestrengt lauschte ich auf Geräusche, doch es herrschte vollkommene Stille. Langsam drehte ich mich zur Tür, um endlich dieses verfluchte Gebäude zu verlassen. Vorsichtig machte ich zwei Schritte, immer darauf bedacht keine Geräusche zu machen. Als ich meine Angst schon als Verfolgungswahn verbuchte und mich selbst als Feigling beschimpfte, fiel mit einem lauten 'Klack' eine Tür ins Schloss. In dem stillen langen Gang hallte dieses Geräusch markerschütternd laut von den hohlen Wänden. Das Blut gefror mir in den Adern. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Ich hielt erschrocken in meiner Bewegung inne.
Ich zitterte am ganzen Körper. Ich spürte den Blick meines Verfolgers auf mir. Er brannte sich in meinen Nacken wie Feuer. Meine Haut bedeckte ein kalter Schweißfilm.
Angestrengt ging ich in meinem Kopf alle Verteidigungsmaßnahmen durch, die ich für solche Begebenheiten gelernt hatte, doch mein Verstand schien seinen Dienst quittiert zu haben. Alles schrie in mir danach davonzulaufen, aber mein Körper ließ sich nicht mehr bewegen.
Also stand ich da: Angewurzelt wie ein Baum. Zitternd wie Espenlaub. Darauf wartend was mein Verfolger von mir wollte.
Atemlos horchte ich auf Geräusche, doch alles was ich hörte war das Klopfen meines Herzens und das Rauschen des Blutes in meinen Ohren. Jetzt oder nie! dachte ich und schlich immer noch wachsam die letzten Meter bis zur Tür die ins Institut führte. Mit klopfendem Herzen drückte ich die Klinke der schweren Tür runter doch sie bewegte sich keinen Zentimeter. Verzweifelt warf ich mich mit meinem Körper gegen die Tür doch sie war verschlossen.
Geschlagen ließ ich mich an der Tür zu Boden gleiten. Was sollte ich nun bloß machen? Jaxson hätte mich nie hier eingesperrt. Er hatte gewusst, dass ich noch hier war. Wer hatte also die Tür abgeschlossen? Wer hielt mich hier gefangen? Und vor allem: Was wollte derjenige von mir?
Entschlossen erhob ich mich vom Boden und klopfte mir den Schmutz von den Jeans. Sollte ich hier sterben, dann gefälligst im Kampf wie es einer Tochter des großen Kriegsengels gebührte.
Ich spähte durch den dunklen Flur, auf der Suche nach einer Lösung für mein Problem. So blöd sich mir zu zeigen war mein Gegner nicht, das hatte ich inzwischen herausgefunden. Auf der linken Seite des Flures waren vier große Sicherheitsfenster die sich nicht öffnen ließen und durch die das spärliche Mondlicht in den Gang fiel. Sie waren mir keine große Hilfe, da die Schatten von allem möglichen sein könnten. Auf der rechten Seite waren zwei Türen die, wie ich wusste, zu den zwei kleineren Trainingsräumen führten.
Plötzlich kam mir eine Idee: In den Überwachungsräumen war ein Telefon und daneben war eine Liste der Internen Nummern. Ich könnte im Institut Hilfe rufen. Beflügelt von meiner Idee rannte ich zielstrebig zur ersten Tür und drückte auf die Klinke. Verschlossen.
Schnell rannte ich zur zweiten. Auch verschlossen.
Angst stieg in mir hoch und ich wandte mich in Richtung der dritten Tür. Sie lag im dunkelsten Teil, am Ende des Flurs. Schemenhaft konnte ich die Umrisse der Tür erkennen. Ich atmete tief durch, richtete mich auf und ging auf die Tür zu. Wachsam spitzte ich die Ohren während ich den Arm nach dem Türgriff ausstreckte.
Hoffnungsvoll drückte ich die Klinke hinunter. Doch die Tür bewegte sich nicht. Panik breitete sich in mir aus und ich rüttelte an der Tür. Doch es nützte nichts. Sie blieb verschlossen.
Tränen bildeten sich in meinen Augen. Schnell wischte ich sie mit meiner Hand weg. Eine Kriegerin heult nicht: Das war das erste gewesen was mir mein Vater beigebracht hatte. Tränen waren etwas für Feiglinge, nichts für die Tochter des Erzengels der Krieger. Ich musste stark sein.
Mit geschlossenen Augen atmete ich tief durch um mich zu beruhigen.
Warmer Atem traf auf meinen kalten Nacken und lies einen Schauer über meinen Rücken laufen. Erschrocken riss ich die Augen auf. Eine starke Hand packte mich am rechten Oberarm, drehte mich um und warf mich mit dem Rücken hart zur Tür. Mein Hinterkopf knallte an die harte Sicherheitstür und lies Sterne vor meinen Augen tanzen. Mein Verfolger packte meine Handgelenke und drückte sie auf beiden Seiten meines Kopfes an die Tür. Schmerz fuhr wie Blitze durch meine Glieder. Verzweifelt versuchte ich mich aus seinen Griff zu entwinden. Doch er drückte mich nur noch stärker an die Tür. Sein heißer Atem strich über meine kalten Wangen. Ich hob meinen Kopf um meinen Gegner zu sehen doch ich konnte nichts erkennen. Es war zu dunkel.
Ungeduldig schob er mein Kinn mit seinem Daumen hoch. Mein Herz schlug augenblicklich schneller als er mit dem Kopf näherkam. Der Duft von herben Rasierwasser und Flieder stieg mir in die Nase. Ein Geruch der mir wage bekannt vor kam, ich aber nicht einordnen konnte. Unbewusst schloss ich meine Augen. Was hatte er vor?
Seine Nase berührte meine und ich zog scharf die Luft ein. Ungewollt hob ich meinen Kopf ein wenig an, als sich seine Lippen schon auf meine legten. Der himmlisch süße Duft nach Flieder umschloss mich als sich unsere Lippen trafen. Wärme durchflutete meinen Körper und es war unmöglich für mich einen klaren Gedanken zu fassen. Als er sich von mir löste, schnappte ich atemlos nach Luft.
Sachte ließ er meine Arme los und ich ließ sie sinken. Sein Gesicht war immer noch nur wenige Zentimeter von mir entfernt.
„Eine Gute Nacht wünsche ich dir, kleiner Rabe.“ flüsterte er mir zu und mit einem letzten Kuss auf meine Wange blieb ich allein und verwirrt zurück.