Wie ein Schlag fuhr das Gefühl von Hirams Lippen auf seinen eigenen durch den Körper Viktors. Ein lang vermisstes Glücksgefühl breitete sich bis in seine kalten Finger aus, die er in den Pelzkragen krallte.
Doch dieses Glück dauerte nicht lange an. Schon nach wenigen Augenblicken, Ewigkeiten, die niemals lang genug sein konnten, kam der junge Graf wieder zu sich und stieß den Engländer ungehalten von sich.
»Wie könnt Ihr es wagen?! Ihr vergesst, wer ich bin! Wer Ihr seid. Das hier ...« Viktor erhob sich in die stehende Position und putzte sich den Staub von der Hose. »Niemals wieder wird das geschehen! Ich lehne Euer unmoralisches Angebot ab und denke, es wäre an der Zeit, dass Ihr auf Schloss Lugosy zurückkehrt.«
Hiram erhob sich ebenfalls. »Ihr werft mich hinaus?«
»Ich weise Euch darauf hin, dass meine Gastfreundschaft Grenzen hat. Ganz zu schweigen davon, dass Ihr meine persönliche Grenze überschritten habt.«
Der Engländer seufzte leise und nickte dann. »Ich ergebe mich Eurem Wunsch, Graf Viktor. Doch wisset, dass ich Euch nicht belästigen wollte. Ich nahm fälschlicherweise an, Ihr würdet Euch ebenso zu mir hingezogen fühlen wie ich mich zu Euch. Ich habe Eure Verlegenheit missgedeutet. Offenbar lag ich da mit meiner Menschenkenntnis doch falsch. Ich werde sofort meinen Aufbruch antreten. Denkt nicht schlecht von mir.«
Lord Sandringham verneigte sich und wandte sich um, während der junge Graf in dem Turmzimmer stehenblieb, das der Wachmannschaft zum Ausruhen diente.
Ein Gefühl, heiß wie Feuer und kalt wie Eis, durchdrang ihn. Sein Ausbruch war überzogen gewesen und wäre der Lord ein englischer Abgesandter, hätte er, Viktor, auf diplomatischer Ebene vollends versagt.
Aufgewühlter als vor dem Kuss lehnte der junge Adlige sich an die kalte Wand des Raumes und schlug sich die Hände vor das Gesicht.
Dieser verdammte Kerl! Warum konnte er ihn nicht in Ruhe lassen? Warum begriff Lord Sandringham nicht, dass er, Viktor, nicht so einfach über die Sünde seines Verlangens hinweg sehen konnte wie der? Hiram ging mit einer Einstellung durch das Leben, die all das mit Verachtung strafte, woran der Graf glaubte. Das mochte für den Engländer funktionieren, doch er selbst konnte das nicht. Konnte nicht einfach alles ablegen, was er in 28 Jahren seines Lebens gelernt hatte.
Es war besser so, wenn er den Engländer nicht wiedersehen würde. Viktor wollte nicht weiter fallen, wollte nicht riskieren, dass der blonde Fremde mehr für ihn wurde als ein exotischer Zeitvertreib und ein erfrischender Gesprächspartner.
Er konnte es nicht darauf ankommen lassen, dass er sein Herz an Hiram verlor. Die Sünde würde er nicht tragen können - ebenso wenig wie das Leid, ihn wieder zu verlieren.
Verbissen presste der Graf die Lippen zusammen und biss die Zähne aufeinander, als er das Wachturmzimmer verließ und über die Zinnen wieder in den Hof gelangte. Von Lord Sandringham war nichts zu sehen, doch Viktor konnte die Kutsche vor dem Tor ausmachen, die dem Engländer gehörte. Zwei Burschen aus dem Stall schirrten gerade die Pferde an.
Eilig, um ein erneutes Aufeinandertreffen zu verhindern, betrat der junge Mann das Schloss über einen abgelegenen Eingang, der in einen unbewohnten Gang der Burg führte. Staub kitzelte in Viktors Nase und der muffige Geruch von unbelebten Räumlichkeiten drang ihm entgegen. In Gedanken versunken ging er den Weg entlang, bis er den Turm erreichte, in dem seine Gemächer lagen. Er stieg die Treppe hoch und betrat leise, von allen unbemerkt, das ruhige Musikzimmer, in dem ein munteres Feuer im Kamin brannte. Sebastian hatte sehr hartes Holz in diesen gelegt, das lange und langsam herunterbrannte.
Schwer seufzend ließ Viktor sich in den Sessel fallen, in dem er am Tag zuvor noch gesessen und Tee getrunken hatte mit dem Lord. Der Adlige starrte stumm in das Feuer und zog schließlich die Knie an die Brust, um sein Gesicht auf diesen zu verbergen.
Viktor merkte nicht, wie die Zeit verging, bis das Geräusch der Tür ihn aus seiner Lethargie riss. Ohne den Kopf zu wenden, bewegte er nur die Augen, als sein Leibdiener vor ihm auftauchte.
»Was ist?«, nuschelte er müde.
»Mein Herr, Lord Sandringham ist im Begriff, aufzubrechen. Wollt Ihr Euch nicht verabschieden?«
»Nein.«
Sebastian seufzte leise. Er hatte schon befürchtet, dass der plötzliche Aufbruch des Engländers nicht aus einer Laune heraus geschah, sondern dass etwas geschehen sein musste, was diesen dazu zwang. Dass der Graf ihn dazu aufgefordert hatte. Da Sebastian seinen Herrn jedoch kannte und wusste, dass dieser viel zu höflich war, um einen Gast einfach des Schlosses zu verweisen, musste etwas zwischen ihm und dem Lord vorgefallen sein.
»Dann ... verabschiede ich ihn in Eurem Namen?«
»Tu, was du für richtig hältst, Sebastian.«
Der Diener nickte und überließ den jungen Grafen wieder seinen leeren Gedanken und der dumpfen Stille in dem Musikzimmer. Müde und unmotiviert erhob er sich und trat an das Fenster des großen Raumes. Unbemerkt öffnete er die Tür, die auf den Außenbalkon führte und blickte über die Balustrade in den Hof, wo er gerade noch sehen konnte, wie Sebastian den Gast mit einer Verbeugung verabschiedete, dieser in die Kutsche stieg und den Schlosshof verließ.
Viktor biss die Zähne aufeinander. Es war ungebührlich und unhöflich gewesen, sich nicht persönlich zu verabschieden, doch er hätte einen Teufel getan, diesem unverschämten Schürzenjäger noch einmal unter die Augen zu treten. Er hatte seine Intimsphäre verletzt und seine Sorgen mit Füßen getreten.
Natürlich hatte er, Viktor, den Kuss genossen. Doch das war nicht recht! Er hatte sich geschworen, nie wieder schwach zu werden und er würde nicht zulassen, dass der Engländer seine Entscheidungen untergrub.
Das schmerzhafte Zwicken in seinem Magen und das schwere Gefühl in seiner Brust schob der junge Mann darauf, dass sie ein reichhaltiges Frühstück genossen hatten. Er wollte nicht wahrhaben, dass es andere, wesentlich weniger physische, Ursachen haben könnte.
Niedergeschlagen schloss er die Tür zum Balkon wieder, um die schneidende Kälte auszusperren, und griff nach seiner heißgeliebten Violine.
»Wollt Ihr mir verraten, was geschehen ist?« Gefühlte Stunden waren vergangen, in denen Graf Viktor ununterbrochen eine melancholische Melodie nach der anderen gespielt hatte, um sein Herz und sein Gemüt zu beruhigen. Er hatte nicht gehört, dass Sebastian mit einer Kanne starkem Tee in das Zimmer gekommen war, und zuckte folglich zusammen, als er die Stimme des Dieners vernahm. Erschrocken wandte Viktor sich zu dem anderen Mann um und ließ die Violine sinken. Ebenso wie seine Schultern. Niedergeschlagen schüttelte er den Kopf und bewegte sich auf den kleinen Tisch zu, auf dem das Tablett mit der Teekanne stand.
»Mein Herr? Hat er Euch etwas angetan?«
»Nein ...«
»Wäre nichts geschehen, würdet Ihr nicht mit Melancholie geschlagen sein. Also ... Ihr könnt mit mir reden.«
Der junge Graf setzte sich in den Sessel und nahm die Tasse von Sebastian entgegen.
»Er ...«, Viktor seufzte, »ich hatte einen kleinen ... Zusammenbruch auf den Zinnen.« Er berichtete seinem Leibdiener von der Situation in der Wachkammer und blieb anschließend stumm und mit verkniffenem Gesicht sitzen, schweigend in das Feuer starrend.
»Und deswegen habt Ihr ihn des Schlosses verwiesen? Gute Entscheidung. Ich habe ihm eh nicht über den Weg getraut ...«
Viktor brummte leise und schwermütig. »Ich weiß. Aber das bringt mir gerade auch nichts, Sebastian.«
»Weil Ihr bedauert, nicht auf ihn eingegangen zu sein?«
»Ich ...« Der Graf schluckte.
»Mit Verlaub, mein Herr, doch Ihr steht Euch selbst zu sehr im Weg.«
»Ist es verwerflich, wenn ich an mein Seelenheil denke?«
Sebastian legte seinem Herrn einen Moment lang vertraulich die Hand auf die Schulter. »Nein. Doch Ihr solltet dabei auch das Leben nicht vergessen.«
»Ich werde mich eine Weile hinlegen. Ich glaube, ich finde an diesem Tag keine Freude mehr, also werde ich ihn beenden. Sollte etwas sein, entscheide du.«
»Ja, mein Herr.«
~
Mit einem dunklen Knurren betrat Lord Sandringham nach der Ankunft sein angemietetes Schloss und warf den Mantel achtlos in eine Ecke des Salons. Das Dienstmädchen ergriff erschrocken die Flucht, als ihr Herr plötzlich im Raum stand und sie harsch anfuhr, sie möge ihn allein lassen.
Dumpf grübelnd ließ er sich in den Sessel vor den leeren Kamin fallen und starrte diesen nieder, als hätte er ihm persönlich etwas angetan.
War es die falsche Entscheidung gewesen, Viktor nahe zu kommen? Er, Hiram, hatte schließlich das Gefühl gehabt, der junge Graf hätte Vergnügen an den Neckereien gehabt und es genossen, etwas umworben zu werden. Vielleicht war er mit dem Kuss doch zu schnell einen Schritt zu weit gegangen.
Es spielte keine Rolle, wann Viktor Sein sein würde, denn dass es geschehen würde, dessen war sich Hiram sicher. Je stärker der Rumäne allerdings sein Herz an ihn gehängt hatte, desto leichter wurde es für den Engländer und umso glücklicher würde ihr Zusammenleben sein. Und das wollte Hiram.
Er wollte etwas Neues, wollte mit dem Grafen irgendwo ganz neu anfangen, weg von seiner ungeliebten Ehegattin, von der Familie, die nicht seinen Lenden entsprungen war und ihn nur daran erinnerte, dass er als Mann versagt hatte. Er wollte leben als der, der er war und sich nichts diktieren lassen und wollte Viktor als seinen Gefährten bei sich haben. Er würde nicht aufgeben, bis dieser rettungslos in ihn verliebt war und freiwillig mit ihm kam.
Diese Situation am heutigen Nachmittag war nur ein temporärer Rückschlag und Hiram glaubte zu wissen, dass Viktor sich bereits in der Sekunde zerfleischt hatte, als er ihn weggeschickt hatte. Denn er spürte, dass der junge Adlige sich zu ihm hingezogen fühlte und ihn nur weggestoßen hatte, weil sein Kopf ihn daran hinderte, zuzulassen, was er wollte.
Mit einem Schmunzeln lehnte der Lord sich in dem Sessel zurück und rieb sich das Kinn. Er würde dem Grafen etwas Ruhe gönnen. Vielleicht kam er von allein wieder auf ihn zu. Die Höflichkeit gebot es ihm eigentlich. Sich gänzlich von einem Gast abzuwenden, schickte sich nicht. Tat Viktor es nicht, würde Hiram sich seinerseits reumütig bei dem jungen Adligen melden, vorstellig werden und um Verzeihung bitten.
Der Engländer war sich sicher, dass das Spiel noch nicht verloren war. Viktor war zu fasziniert von ihm und er selbst zu verzaubert wiederum, als dass die beiden nun nie wieder miteinander reden würden. Beruhigt griff er nach dem Klingelzug, um sich von dem Dienstmädchen einen Tee zubereiten zu lassen ...