Arias Sicht
Mit meiner Gabel stochere ich im Kartoffelbrei herum. Es duftet köstlich, doch der Hunger ist mir vergangen. Seit Stella weg ist, ist hier so Still geworden.
Auch die Tatsache, dass ich nun alleine mit Ruby bin, macht es nicht besser. Wieso ich alleine mit ihr bin? Hilley ist seit Stella uns den Rücken gekehrt hat, in ihrem Zimmer verschwunden und ist nicht einmal heraus gekommen. Ich habe keine Ahnung, wie sie sich ernährt, aber ich habe da so meine Theorien.
Wahrscheinlich schleicht sie sich nachts runter und isst dann den vom Vortag über gebliebenen Käse. Jedenfalls würde ich es so machen. Wenn ich genauer darüber nachdenke, ist das echt eklig. Wieso sollte sie ausgerechnet alten Käse essen?
Ach, was ich mir eigentlich vor? Diese verrückten Gedanken schaffen es nur sich in meinen Kopf einzuschleichen, weil ich nicht über Stella nachdenken möchte.
Stella! Bei diesem Namen beginnt mein Herz schneller zu schlagen. Sie war die erste richtige Freundin, die ich je hatte, obwohl wir uns noch gar nicht lange kennen. Ehrlich gesagt ist unser erstes Treffen erst seit etwa vier Tagen, aber bevor wir uns im echten Leben gesehen haben, habe ich manchmal von ihr geträumt.
Das war in den wenigen Nächten in denen ich endlich mal wieder zum Schlafen kam ohne schreien und Schweiß überströmt auf zu wachen. Wenn ich genauer darüber nachdenke, bin ich kein Mensch, der gerne schläft. Im Schlaf und in unseren Träumen verarbeiten machen Seraphinen die erlebten Dinge und leider waren diese selten positiv. Da waren die Träume von ihr eine schöne Abwechslung. Am Morgen bin ich nach einem dieser Träume immer gut gelaunt aufgewacht. Auch das ist leider einen ziemliche Seltenheit.
Ich bin eher eine der Seraphinen, die eher pessimistisch veranlagt sind. Das war aber nicht immer so. Es gab eine Zeit, eine sehr kurze, in der ich eine von Freude getriebene, optimistische Person war. Mit der Zeit wurde mir diese Freude immer weiter geraubt.
Das fing aber nicht, wie es die Meisten vielleicht erwarten würden, an als ich zu den Nexus kam. Nein, es begann nach dem Vorfall mit meinen Eltern so wie alles, was darauf folgt. Alles begann ausweglos in dieser schrecklichen Nacht, die mich innerlich und mein ganzes folgendes Leben zerstörte.
Ehrlich gesagt versuche ich aber nicht oft darüber nachzudenken. Mit der Zeit habe ich vor mir einen Schutzwall erbaut, den kein einziges Gefühl durchdringt.
Stella hat es geschafft, in der Nacht in der wir zum ersten Mal gesprochen haben, diese Wall Stück für Stück einzureißen. Doch seit das dunkelhaarige Mädchen mit den azurblauen Augen verschwunden ist, spüre ich wieder diese schrecklich Leere und Gefühllosigkeit in mir.
Ich hätte sie nicht gehen lassen dürfen, obwohl ich ihre Entscheidung sehr gut verstehe. Meine hingegen war vollkommen falsch. Anstatt ihr zu helfen, habe ich nur den Blick abgewendet. Wieso ich das getan habe, ist mir nicht ganz klar. Wahrscheinlich wollte ich Hilley einfach auch nicht in den Rücken fallen. Schließlich war der ganze Plan mich zu retten von ihr und ich habe ihr so viel zu verdanken. Außerdem hätte sie sowieso nicht auf mich gehört, wenn ich Hilley nur freundlich gebeten hätte Stella gehen zu lassen. Um zu erreichen, dass sie Stella vorbei lässt, hätte ich meine Kräfte benutzen müssen und genau das war, was ich nicht tun wollte. Ich kann meine Kräfte nicht gegen Freunde einsetzen, da ich dann immer Angst habe sie zu verletzen. Bei Fremden oder gar bösen Menschen ist mir das egal, doch bei den Menschen, die mir wichtig sind, würde ich es mir nie verzeihen sie verletzt zu haben. Nicht nachdem…
“Du solltest unbedingt etwas essen“, sagst plötzlich jemand mit einer gebrochenen, zitternden hinter mir und reißt mich abrupt aus meinen Gedanken. Ich lasse sofort den Löffel fallen und fahre herum. Meine Hände habe ich auf die Person gerichtet, bereit dazu meine Kräfte jeder Zeit zu verwenden und den potenziellen Angreifer hinter mir umzubringen.
Als ich jedoch erkenne wem die Stimme gehört, lasse ich meine Hände schnell sinken. Oh Gott, das war total knapp. Ich hätte ihr mit nur einer einzigen Handbewegung den Hals umdrehen können.
Nur wenige Meter von mir entfernt steht Hilley. Ihre Augen sind blutunterlaufen, ihre Schultern sind eingefallen und sie wirkt wie eine alte Frau oder eine Pflanze, die das Sonnenlicht schon lange nicht mehr gesehen hat. Die Arme baumeln kraftlos links und rechts von ihr hinab. Es wirkt als wären sie noch dünner als sonst. Hilleys Haare sind ungewaschen und scheinen an ihrem Kopf zu kleben.
Bei ihrem Anblick kommt mir fast das Essen wieder hoch, doch ich unterdrücke schnell ein Würgen. Dieser Anblick ist doch echt nicht mehr normal, oder? Wie lange hat sie schon Nichts mehr gegessen? Sie sieht ja schon fast so schlimm aus wie ich, als ich noch bei den Nexus gefangen war. Vermutlich hängt ihr Zustand mit Stellas Verschwinden zusammen. Ob sie nur aus meiner Sicht heraus so aussieht oder ob sie auch auf andere einen komplett herunter gekommen Eindruck macht? Rubys Würgen hinter meine zweite Vermutung.
Schnell springe ich von meinem Stuhl auf und führe sie zum Tisch, wo sie sich auf den hölzernen Stuhl neben mir sinken lässt. Sobald ich sicher bin, dass sie sicher sitzt, schiebe ich ihr meinen Teller hin und gehe in die Küche, um ihr einen Kaffee zu kochen. Wenn es jemandem schlecht geht, habe ich als kleines Kind immer ein Getränk gemacht.
Nach kurzer Zeit komme ich mit einer heißen Kaffeetasse in der Hand wieder und stelle sie zum meinem Teller, der nun Hilley gehört:“ Trink das! Es wird dir wieder ein wenig Kraft geben.“ Die Frau vor mir nicht und streckt ihre zitternde Hand nach dem Gefäß aus.
“So kann das nicht weiter gehen. Wir müssen Stella finden und sie davon überzeugen zurück zu kommen, sonst wird es keinem von uns besser gehen“, sage ich mehr zu mir selbst als zu den Anderen im Raum. “Also ich brauche sie nicht so dringend“, gibt Ruby von der anderen Seite des Tisches zu bedenken:“ Wie es mit dir steht kann ich nicht sagen, Lovergirl!“ Ich reagiere sofort:“ Halt die Klappe, Ruby!“ Sie kontert schnell auf ihre total anstrengende Art:“ Wieso? Habe ich etwa Recht mit meiner Vermutung, dass du…“ “ Nein, weil du mich nervst“, gebe ich in einem Ton zurück, der keinen Widerspruch zulassen, aber in meinem Innere bin ich mir gar nicht so sicher, ob sie mit ihrer Vermutung falsch liegt.