Lika spielte unter der Tischplatte stetig mit dem Schlüssel ihres Zimmers herum und schielte beinahe ununterbrochen zur Haustür, die verschlossen war. Orion sah sie verwirrt an. Die Sache mit dem Vampir hatte sie wohl doch mehr mitgenommen, als er anfangs gedacht hatte. Wo war dieser überhaupt? Er sagte bloß, er würde gleich nachkommen und war dann im Flur verschwunden.
War Lika deswegen so nervös? Mochte sie ihn etwa?
„Geht es dir gut?“, fragte Orion besorgt und runzelte die Stirn. Die Werwölfin zuckte kurz zusammen, als der Werwolf sie aus ihren Gedanken riss und zuerst ihn ansah und dann zu Sezuna, die immer noch in der Küche stand.
Sie werkelte geschickt mit allen möglichen Dingen herum und der leckere Geruch von Essen füllte immer mehr den Raum.
„Alles in Ordnung“, murmelte Lika und blickte weiter auf die Tischplatte.
Sie machte sich Sorgen, weil Kaden scheinbar beschlossen hatte, die kommende Nacht bei ihr auf dem Sofa zu verbringen und das gefiel ihr nicht. Sie wollte aber auch nicht zu Orion laufen. Irgendwie hatte Kaden Recht.
Es reizte sie etwas Verbotenes zu tun. Das war auch der Grund, warum sie so unschlüssig und teilweise nervös war.
„Wenn du möchtest, rede ich mit ihm. Also mit dem Vampir, meine ich“, flüsterte der Grünäugige leise und bückte sich etwas zu Lika, um besser mit ihr reden zu können.
Natürlich war es offensichtlich, dass sie sich um ihn Gedanken machte, doch ob dem Werwolf überhaupt bewusst war, dass Kaden scheinbar vorhatte bei Lika zu nächtigen?
Wohl kaum.
Im selben Moment stelle Sezuna auch schon das dampfende Essen auf den Tisch. Und Lika hoffe innig, dass dieses Thema somit beendet war. „Ich will nicht, dass er dich belästigt... es sei denn du... hast nichts dagegen?“, fragte Orion dennoch weiter und schien diese Frage schon länger mit sich herumzutragen.
Lika seufzte. „Wir müssen zusammenarbeiten. Ich denke wir sollten nicht wegen allen Dinge gleich einen Aufstand machen. Ich komme damit klar“, erklärte sie und blickte noch immer auf das Essen.
Die gefüllten Teigtaschen dampften und es gab eine lecker aussehende Soße dazu.
Außerdem hatte Sezuna frisch gepressten Saft gemacht, der in einer Kanne auf dem Tisch stand.
„Lasst es euch schmecken“, meinte sie und stellte auch Kadens Portion auf den Tisch.
Sie hoffte, dass der Essensgeruch ihn herlocken würde. Hauptsache es wurde nicht kalt.
Sobald sie diese Gedanken gefasst hatte, klopfte es im nächsten Moment an der Tür.
Gerade, als Sezuna zu dieser hinüber gehen wollte, stand Orion auf und bedeutete ihr, dass sie sich setzten sollte. Sobald die Tür geöffnet war, stolzierte Kaden mit nassem Haar herein und einige Wasserspritzer hatten sich sogar auf sein Shirt verirrt.
Sezuna sah diesen verwirrt an und blicke zum Fenster, da sie davon ausging, dass es regnete, doch Fehlanzeige. Alles war trocken und auch die Sonne, die den kommenden Sonnenuntergang ankündigte, stand sehr tief.
Sezuna runzelte die Stirn.
Immerhin hatte sie seinen Schlüssel noch in der Tasche. Wo war er also duschen gewesen? Wenn er denn duschen war.
Verwirrt schüttelte Sezuna den Kopf.
„Setz dich und iss“, murmelte sie und nahm selbst einen Bissen.
Er schien selbst nicht wirklich auf das Thema eingehen zu wollen, weshalb er nasse Haare hatte und setzte sich deswegen auf seinen Platz und blickte auf seinen Teller, als sein gewöhnliches Lächeln erstarb. Einige Sekunden blieb er wie paralysiert sitzen und starrte auf seinen Teller. Tortellini? Während er den Blick auf die Teigtaschen gerichtet hielt, spürte er nach Sezunas Gefühlen, ob sie das denn aus Provokation tat.
Vielleicht hatte sie es auch vergessen? Nein... unmöglich. Sezuna vergaß nie irgendwas, außer vielleicht die Tatsache dieses Streits, den sie seit Jahren führten, so jedenfalls dachte Kaden.
Sezunas Gefühle jedoch waren erschreckend normal und sie unterhielt sich mit Orion und Lika über den kleinen Einkaufsbummel, als wäre nichts Ungewöhnliches an diesem Essen.
Sie selbst aß ebenfalls, obwohl Kaden sich noch daran erinnerte, dass sie gar kein großer Freund von Tortellinies war.
Zumindest glaubte er, dass sie es ihm gegenüber einmal erwähnt hatte.
Warum also tat sie das hier?
Die Rothaarige, die Kaden schon die ganze Zeit aus den Augenwinkel heraus musterte, drehte kurz ihren Blick und musterte nun den blonden Vampir offensichtlich.
„Schmeckt es nicht?“, fragte sie und Kaden spürte, dass sie diese Frage ernst meinte und scheinbar ohne jegliche Hintergedanken.
Er richtete seinen Blick wieder auf seinen Teller und stocherte darin rum.
„Nein, alles in Ordnung“, entgegnete er kalt und versuchte sich nicht seine Stimmung anmerken zu lassen.
Egal wie banal die Tatsache war, dass sie ihm sein Lieblingsessen gekocht hatte. Es war dennoch eine wahre Qual für ihn und erst Recht ein Gefühlschaos höchsten Niveaus.
Er hoffte einfach, dass sie ihn nicht weiter beachten würde, denn wie er feststellen musste, war ihm der komplette Appetit vergangen. Sein Magen hatte sich zu einem schmerzhaften Knoten verformt und Kaden überlegte sogar schon, ohne weitere Worte, einfach zu gehen.
Das war einfach nur Folter und er war sich ziemlich sicher, dass Sezuna bewusst war, was genau diese Geste bei ihm auslöste.
Die Rothaarige beobachtete ihn verstohlen aus den Augenwinkeln und spielte mit ihrer freien Hand an ihrem Ohrring herum, weil sie irgendwie nervös war.
Was hatte Kadens Verhalten zu bedeuten?
Schmeckte ihn das Essen nicht, oder war er sauer?
Sezuna hatte sich nicht bewusst entschieden ihr Gehirn nach der Lösung suchen zu lassen, doch irgendwie tauchte vor ihren inneren Augen auf, dass er doch Tortellinies am liebsten aß.
Etwas, was ihr bis gerade eben gar nicht bewusst gewesen war. Wahrscheinlich hatte sie sich daher für das Essen entschieden.
Mit ihm zusammen zu sein fühlte sich so vertraut an, dass ihr Kopf sofort darauf reagiert hatte.
Ohne groß nachzudenken, hatte sie Kadens Lieblingsessen gekauft! Wie konnte sie nur so dumm sein?
Kein Wunder, dass Kaden so verloren wirkte. Wahrscheinlich war er sich nicht sicher, ob er diese Geste so werten sollte, dass zwischen ihnen wieder alles in Ordnung war.
Am Ende dachte er auch noch, Sezuna hätte ihm vergeben.
Die Rothaarige versuchte ihre Gedanken abzuschütteln, doch sie stürmten auf sie ein und es bildeten sich Hinweise, die sie aufgenommen, aber bisher übersehen hatte und ihr Kopf spielte alle Möglichkeiten durch, die noch auf sie warten könnten.
Ein wenig gequält schloss sie die Augen und lehnte sich zurück.
Ihr Teller war noch halbvoll, aber auch ihr war das Essen vergangen.
Stattdessen machte sich gerade Enttäuschung in ihrem Bauch breit.
Und Ärger darüber, dass Kaden das Essen scheinbar verschmähte. Aber allen voran Enttäuschung pur.
Kaden, der Sezunas Enttäuschung spüren konnte, kniff frustriert die Augen zusammen, doch öffnete sie gleich wieder mit dem Vorhaben Sezunas Gefühle zu ignorieren. Sonst fiel es ihm immer leicht solche auszublenden. Bereits im Kindesalter fühlte er sich oft überfordert mit seiner Gabe und lernte diese fremden Gefühle nicht als seinen eigenen zu sehen, doch bei Sezuna war ihm das schon immer schwer gefallen. Oder besser gesagt kostete es ihm enorm viel Willenskraft diese nicht zu beachten.
Auch Orion und Lika merkten, dass irgendwas zwischen den beiden nicht zu stimmen schien.
Die Spannung, die in der Luft lag, schwoll immer mehr an und schien für ein betretenes Schweigen zwischen den Anwesenden zu sorgen.
Mit einem leisen Seufzen spießte der Vampir eine der Teigtaschen auf seine Gabel und nahm einen Bissen, obwohl ihm schon fast nach brechen zumute war.
Bei dem Geschmack der vertrauten Köstlichkeit, hätte er am liebsten den Teller vom Tisch geschlagen und Sezuna angeschrien, wieso sie ihm das denn antat. Doch stattdessen, kaute er gefühlte zehn Minuten an derselben Teigtasche und war in altern Erinnerungen versunken.
Sezuna hingegen lehnte sich zurück und rieb sich die Nasenwurzel.
Hinter ihrer Schläfe machte sich bereits ein pochender Schmerz breit und sie wusste, dass es sich in heftige Kopfschmerzen ausarten würde, wenn sie nicht ein Thema fand, bei dem sie sich nicht permanent im Kreis drehte.
Früher hätte Kaden einfach irgendwas Dummes gesagt und sie so auf andere Gedanken gebracht, doch so wie früher war es nicht mehr.
Außerdem wollte sie nicht mehr darüber nachdenken, doch sie konnte nicht verhindern, dass die Erinnerungen auf sie einstürzten. Sie konnte sie einfach nicht mehr zurückhalten.
Es fühlte sich so an, als würden diese sie erschlagen!
Ihr Kopf füllte sich mit immer mehr Bildern und schon nach kurzer Zeit bemerkte sie nicht mehr, was am Esstisch vor sich ging.
Schon fast panisch versuchte sie sich an etwas zu klammern, was ihr den Weg aus diesen Erinnerungen und Bildern bahnen würde.
So bemerkte sie auch gar nicht, dass es bereits so schlimm war, dass ihre Nase begann zu bluten.
Besorgt legte Orion sein Besteckt zur Seiten und berührte Sezuna an ihrer Schulter.
„Alles okay? Hey, Sezuna!“, panisch begann er sie leicht zu schütteln.
War das normal? Sie hatte ihm erzählt, dass ihr Gehirn leicht überhitzte, doch wieso sollte es das jetzt tun? Sie hatten doch nur gegessen.
Kaden, der Sezuna abwesend musterte, blieb teilnahmslos sitzen und sah nach einigen Sekunden wieder auf seinen immer noch vollen Teller.
„Habt ihr euch schon mal gefragt wieso Orangen eigentlich orange sind? Ist doch komisch eine Frucht nach deren Farbe zu benennen“, fragte Kaden beiläufig und begann wieder in seinem Essen rumzustochern.
Wütend und verständnislos richtete sich der Werwolf zu dem Vampir und packte diesen am Kragen, wobei er ihn beinahe über den halben Tisch zog.
„Findest du das etwa witzig?“, brüllte Orion wütend und musste sich zusammenreißen Kaden nicht durch eine Wand zu werfen.
Eine Hand legte sich auf seinen Oberarm und zuerst glaubte er, dass es sich um Lika handelte, die versuchte ihn zurück zu halten, doch dann bemerkte er, dass es Sezunas Hand war.
Die andere hatte sie sich unter die noch blutende Nase gehalten, während sie mehrere Male blinzelte.
„Nicht die Orange ist nach der Farbe benannt, sondern die Farbe nach der Orange“, murmelte Sezuna, die endlich wieder etwas hatte, auf das sie sich konzentrieren konnte und bei dem es eine einfache Lösung für das Problem gab, bei dem es sich nicht um hunderte von Bildern handelte, die auf sie ein stürzten.
Zeit zum Nachdenken zu haben war überhaupt nicht gut, wenn sie diese Zeit mit solchen Erinnerungen vollstopfte.
Also versuchte sie sich krampfhaft im Hier und Jetzt fest zu halten und nachdem Kaden mit dieser, scheinbar völlig sinnlosen Frage, ihre Gedankenprozesse durchbrochen hatte, war es auch nicht mehr so schwer.
Die Bilder stürzten immer noch auf sie ein, doch es gelang ihr, diese bei Seite zu schieben und sich auf die Orange und die Umgebung zu konzentrieren.
Leicht perplex sah Orion zu Sezuna, dann zu Kaden und wieder zurück.
Zögernd ließ er den Vampir los, der eher unbetroffen auf Orions Ausbruch reagiert hatte.
Auch wenn sich die beiden schon von Anfang an nicht gut verstanden hatten, so stärkte dieses kleine Geschehnis nicht gerade ihre Beziehung und Teamfähigkeit.
Auch wenn Orion nicht verstand, was gerade passiert war, so schien er sich doch nicht weiter darüber äußern zu wollen. Es war ihm eher unangenehm, dass er sich mal wieder nicht unter Kontrolle hatte.
Langsam erhob sich Sezuna und schien ein wenig wackelig auf den Beinen, als sie Lika ein zögerliches Lächeln schenkte. „Tut mir leid, ich würde dich mit dem Abwasch alleine lassen, ich glaub, ich sollte mich hinlegen“, meinte sie leise und verschwand danach erst einmal im Bad.
Lika, die lediglich genickt hatte, blickte der Rothaarigen nun hinterher.
„Passiert das öfter?“, fragte sie und wusste nicht, dass Sezuna sie hören konnte.
„Nur wenn sie sich zu viele unnötigen Gedanken macht“, murmelte Kaden in einer halbwegs normalen Lautstärke und wunderte sich selbst, wieso genau sie nun diesen Zusammenbruch hatte. Er konnte zwar ihre Gefühle spüren, doch nicht ihre Gedanken lesen. Obwohl er sich ziemlich sicher war, dass er das gar nicht wollte.
Langsam stand er auf und brachte seinen Teller in die Küche. „Ich helfe dir beim Abwasch. Ich denke wir sollten lieber erst morgen zum Hotel zurückkehren. Du kannst also gehen“, erklärte Kaden so teilnahmslos wie möglich, ohne einen Bezug zu Sezuna deutlich zu machen, auch wenn es doch ziemlich offensichtlich war.
Nach seinem letzten Satz wandte sich Orion zu Lika und wartete auf ihr Einverständnis, dass er sie mit dem Vampir alleine lassen würde.
Lika wirkte erst sehr unschlüssig, nickte dann aber Orion zu.
Sie würde das schaffen. Es war immerhin nur Kaden. Er würde ihr schon nichts tun. Sonst hätte der Rat sie gar nicht in ein Team gesteckt.
Außerdem konnte sie ihn so ein bisschen besser kennen lernen.