Bahe wartete gespannt auf die erste Tutorialaufgabe, als sich ein ellenlanges Fenster vor ihm öffnete:
Willkommen bei den Tutorialmissionen zu Raoie!
Vorweg möchten wir Sie über die obersten 8 Prinzipien von Raoie aufklären!
1. Das Gameplay unterscheidet sich kaum vom realen Leben. Wie Sie sicherlich schon gemerkt haben, lenken Sie Ihren Avatar / Körper durch die Kraft Ihrer Gedanken.
2. TNL ist Ihre Gesundheit wichtig! Ihr Körper im realen Leben dient als Grundlage für Ihren Avatar in Raoie. Sollten Sie Ihren physischen Körper im realen Leben vernachlässigt haben oder einen ungesunden Lebensstil folgen, wird dies Auswirkungen auf die Bildung Ihres Charakterprofils gehabt haben.
Der Standardwert aller Attribute liegt bei 10/10
Es existieren folgende Möglichkeiten:
a) Sie haben Einbußen in Ihren Anfangsstatistiken (1-9/10) hinnehmen müssen. Dies ist die direkte Folge eines ungesunden Lebensstils
b) Sie haben durchschnittliche Werte in Ihren Anfangsstatistiken (10/10). Dies ist die direkte Folge eines normalen Lebensstils, mit akzeptabler Ernährung und gelegentlicher sportlicher Betätigung.
c) Sie haben überdurchschnittliche Werte in Ihren Anfangsstatistiken (maximal 20/10). Dies ist die direkte Folge einer gesunden Ernährung und regelmäßiger sportlicher Betätigung. Maximalwerte von 20/10 werden zumeist nur von Leistungssportlern oder körperlich sehr trainierten Menschen erreicht.
Allgemein gilt:
Sie sind jederzeit in der Lage Ihre Anfangsstatistiken aufzuwerten, indem Sie Ihren Lebensstil zum Positiven wandeln. Ein wöchentlicher 3D-Scan sorgt dafür, dass Ihre Statistiken immer auf dem neusten Stand sind.
Degradierungen sind allerdings im Umkehrschluss ebenfalls möglich.
Für Tipps zum individuell richtigen Gesundheitsverhalten sagen sie bitte: „HILFE“.In den Luxusausführungen des Dimensional Leap wird nach jeder Woche Spielzeit ein optionaler komplett Körpercheck (mit Blut und Gesamtkörperanalyse) angeboten.
3. Jeder Spieler darf maximal 12 Stunden am Tag in Raoie
4. Raoie kann problemlos in der Nach gespielt werden! Dimensional Leap wird Sie in einen künstlichen Schlaf versetzen. Ihre Erlebnisse in Raoie werden von Ihrem Körper als Traum wahrgenommen. Auf diese Weise können Sie Ihr Leben ganz normal fortsetzen und tagsüber arbeiten bzw. Zeit mit der Familie verbringen.
5. Sollten Sie sich zu irgendeiner Zeit in der Welt von Raoie unwohl fühlen, nennen Sie den Befehl „Ausloggen!“ oder denken Sie mit höchster Konzentration daran!
6. Spielen Sie Raoie wie Sie wollen! Seien Sie sich jedoch bewusst, dass jede Ihrer Entscheidungen Konsequenzen nach sich zieht! Raoie ist ein Spiel mit extrem hohen Realitätsgrad in den Interaktionen zwischen den Personen und Kreaturen im Spiel.
Einzige Ausnahmen, die sofort zum gezwungenen Log-out führen sinda) Folter
b) Vergewaltigung
Konsequenzen: Jede Ausübung, sowie jeder Versuch wird schwer bestraft! (Auch ihre Ausübung an spielinternen Personen (NPCs)!)
a) Beim ersten Vorkommen: Gezwungener Log-out + Geldstrafe, sofern Sie Raoie erneut spielen wollen (TNL gibt jeder Person genau eine 2. Chance!)
b) Beim zweiten Vorkommen: Gezwungener Log-out + Lebenslanges Spielverbot von Raoie + Übergabe der persönlichen Informationen an die örtlichen Polizeidienste!
7. Vorerst ist nur das menschliche Volk spielbar. Weitere Völker werden durch Kooperation aller Spieler im Laufe des Spiels entdeckt und freigeschaltet. Spieler werden zu diesem Zeitpunkt für einen kleinen Betrag spielinterner Währung in Verbindung mit einem eventuellen Berufsklassenwechsel, ihre Volkszugehörigkeit wechseln können.
8. TNL
soweit es technisch möglich ist ausgeglichen. Menschen die im realen Leben von fehlenden oder behinderten Körperregionen geplagt werden, können in Raoie alle Gliedmaßen einschränkungsfrei bewegen.
Bitte seien Sie sich jedoch der psychischen Auswirkungen bewusst und nehmen Sie unsere Hinweise und Warnungen ernst!Sollten Sie für Raoie einen Account für körperlich eingeschränkte Personen erworben haben, wählen Sie bitte Typ I für weitere Aufklärungen und Anleitungen zur Eingewöhnung.
Sollten Sie für Raoie keinen Account für körperlich eingeschränkte Personen erworben haben, wählen Sie bitte Typ II, um weitere Aufklärungen und Anleitungen zu überspringen.
Bahe überflog den Großteil des Textfensters, da er sich gerade über diese Informationen bereits anderweitig schlau gemacht hatte. Er konnte nicht umhin, sich an den Kopf zu fassen. Einen guten Teil seiner Recherche hätte er sich sparen können.
„Typ II“, sagte er noch schnell und schloss damit das erste Fenster.
Beinahe augenblicklich öffnete sich bereits das Nächste:
Nun zum Gameplay von Raoie in 5 verschiedenen Tutorialmissionen:
Tutorial I: Fähigkeiten erwerben
Raoie ist in Form eines klassischen Rollenspiels angelegt. Ein Ziel des Spiels ist es dementsprechend für den eigenen Avatar neue Fähigkeiten freizuschalten, indem man auf ein höheres Level aufsteigt oder spezielle Ereignisse auslöst.
Es gibt folgende Möglichkeiten, um neue Fähigkeiten zu erlernen:
- Sie sammeln genug Erfahrungspunkte (Exp) für den Levelaufstieg (nur mit Berufsklasse möglich!)
- Sie schließen eine Quest ab.
- Sie entdecken bestimmte Orte, Artefakte oder Wesen.
- Sie interagieren mit spielinternen Personen (NPCs)
- Sie beherrschen die Fähigkeiten bereits im realen Leben und wenden Ihre Kenntnisse mehrmals erfolgreich in Raoie an.
+
Eine Besonderheit in Raoie:
- Sie können eigene Fähigkeiten entwickeln! Wie dies möglich ist, müssen Sie selbst heraus finden!
Tutorial-Quest!
Sprechen Sie mit dem Ausbilder Tarat Derenir auf dem Trainingsgelände im nordöstlichen Teil der Stadt. Sie erkennen ihn an seinen roten Haaren und Schnurbart.
„Endlich!“, stieß Bahe enthusiastisch hervor. Anschließend schloss er das Benachrichtigungsfenster und lief zum Zentrum des Marktplatzes, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen.
Er hatte sich inzwischen relativ detailliert über die einzelnen Tutorialmissionen informiert und wie er nicht anders erwartet hatte, sollte er einen Ausbilder auf dem Trainingsgelände im nordöstlichen Stadtteil ansprechen. Vom Zentrum des Marktplatzes sollte in der Richtung des entsprechenden Stadtteils ein Kirchturm zwischen zwei Schornsteinen der umliegenden Gebäude aufragen.
Bahe schaute sich um und fand den richtungsweisenden Kirchturm einige Zeit später zu seiner Rechten. Er wollte schon loslaufen, als ihm eine noch viel wichtigere Sache durch den Kopf schoss. Er hatte sich noch gar nicht seine Berufsklasse angeschaut!
„Charakterprofil!“
Charakter: Anael Lerua
Level: 1
Beruf: –
Erfahrungspunkte: 1503/2050
Titel: –
Volkszugehörigkeit: Mensch
Fraktionszugehörigkeit: Neutral
Gesundheit / HP: 2/100
Energie / Mana: 0/0
Ruhm: 110
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Spielerstatistiken:
Kraft: 03/12
Physische Konstitution: 02/11
Intelligenz: 10/10
Gelehrtheit: 10/10
Schnelligkeit: 02/11
Geschicklichkeit: 10/10
Ausdauer: 10/10
Widerstandsfähigkeit: 02/11
_________________________________________
Willensstärke: 12/12
Konzentration: 12/12
Reflexe: 10/10
Wahrnehmung: 12/12
Glück: 05/05
Charisma: 05/05
_________________________________________
Angriff: 1
Energietoleranz: 0
Verteidigung / Rüstung: 1
Energieresistenz: 0
_________________________________________
Bedürfnisse:
Hunger gestillt: 100/100
Durst gestillt: 100/100
_________________________________________
Weitere Charakterinformationen:
Momentan keine weiteren Informationen.
Bahe erstarrte.
„Was zum Henker?“, brachte er schließlich vollkommen verblüfft heraus.
Wo war seine Berufsklasse?!
Panisch schloss Bahe sein Charakterprofil-Fenster und öffnete es ein weiteres Mal. Das Ergebnis blieb jedoch gleich.
Gab es etwa irgendeine Regel, dass man mit dem Tod in Raoie auch seine Berufsklasse verlor?
Nein, soweit er wusste nicht. Es wäre auch mehr als nur Hardcore, wenn man mit jedem Tod komplett von vorne beginnen müsste… Kaum ein Spieler würde daran Gefallen finden…
Die schockierende Erkenntnis, dass ihm aus irgendwelchen Gründen seine versteckte Berufsklasse nicht mehr zur Verfügung stand, brachte einige seiner Pläne für die nächsten Wochen durcheinander.
Immer noch am gleichen Fleck auf dem Marktplatz, rasten Bahes Gedanken, doch er kam auf keine Situation, die das Verschwinden seiner Berufsklasse erklären konnte. Zumal sich das System selbst doch noch vor ein paar Augenblicken geweigert hatte, die Spieloption des Schmerzempfindens aufgrund seiner Klasse zu reduzieren.
Um schließlich keine Zeit mehr zu verlieren, änderte er sein Ziel und machte sich auf den Weg zum größten Turm der Stadt. Der steinerne Turm befand sich zwar in der entgegengesetzten Richtung zum Trainingsgelände, machte in Bahes Augen aber im Moment mehr Sinn.
Er hatte sich stundenlang mit allen möglichen Hintergrundinformationen über Raoie versorgt. Nur hätte er nie gedacht, dass er so schnell darauf zurückgreifen musste.
Sein Ziel war der Magierturm der Stadt, der den Spielern unter anderem die Möglichkeit bot, die Berufsklasse eines Magiers anzunehmen. Früher hatte er immer den Beruf eines Magiers annehmen wollen und die Klasse in Form einer Art Nahkampfmagier spielen wollen. Genau diese Spielweise hatte ihn und seinen Vater in Dreamworld auch zum Erfolg geführt und berühmt gemacht. Es lag ihm einfach.
Trotzdem ärgerte er sich schwarz, dass irgendetwas mit seiner besonderen Berufsklasse schief gelaufen war. Er bog noch zwei Mal ab und kam kurz vor dem Eingang zum Vorplatz des Magierturms schließlich zum Stehen.
Es tummelten sich unzählige Menschen in Magierroben oder in Gewändern der Novizen auf dem Vorplatz des Turms und Bahe stach bereits jetzt aus der Masse der Menschen stark hervor.
Etwas weiter hinten ragte der gigantische Turm in den Himmel empor. Insgesamt wies er zwölf Stockwerke auf und überragte damit jedes andere Gebäude der Stadt. Architektonisch war er nicht unbedingt eine Meisterleistung, da er auf dem Dach eines fast schon gewöhnlich wirkenden Reihenhauses mit zwei Stockwerken errichtet worden war.
Im Nu legte Bahe die letzten Meter über den Vorplatz zurück und ließ sich dabei auch nicht von den überall bunt aufleuchtenden Lichtern ablenken, die von verschiedenen Magiern und Novizen zu Demonstrationszwecken oder zur Übung hervor gebracht wurden.
Anschließend betrat er durch die große doppelflügelige Tür den Innenraum im Erdgeschoss und fand sich in einer Art Rezeptionsbereich wieder. Verschiedene Schilder über einer Art Schalter, wie man sie aus der realen Welt in der Öffentlichkeitsarbeit kannte, erklärten die Funktion des jeweiligen Standorts und Bahe erkannte recht schnell, dass er sich ans Ende einer Schlange von sechs Leuten stellen konnte.
Die Sechs vor ihm schienen auch allesamt Spielanfänger zu sein, die sich der Prüfung unterziehen wollten, die feststellte, ob sie überhaupt als Magier in Frage kamen. Der Test überprüfte außerdem für welches Element der Magie man am besten geeignet war. Leider wies der Test auch durchaus negative Ergebnisse auf und brachte die Spieler, die sich nichts sehnlichster wünschten, als Magier zu werden, zur Verzweiflung.
In Raoie war nichts absolut. Selbst wenn man dem Feuerelement zugeordnet wurde, konnte ein Spieler durch eigene harte Arbeit immer noch ein Wassermagier werden. Dabei spielte vor allem die Affinität mit dem jeweiligen Element eine große Rolle. Jeder Mensch und ebenso jeder Spieler, der die Berufsklasse der Magier wählen wollte, brachte in dieser Hinsicht andere Voraussetzungen mit. Ein Spieler, der eine Affinität von zehn Prozent mit dem Element Feuer und von acht Prozent mit dem Element Wasser aufwies, würde von den Magiern zunächst selbstverständlich als Feuermagier empfohlen.
Umso größer die Affinität mit einem Element, umso besser war es für den Magier, wenn er entsprechende Zauber wirkte. Die Zauber wurden nicht nur um den jeweiligen Prozentsatz verstärkt, sie benötigten sogar weniger Mana, um gewirkt zu werden. Beides waren enorme Vorteile für jeden Magier.
Nahezu alle Spieler versuchten deswegen ständig ihre Affinität mit den Elementen zu verbessern. Allerdings war dies ein sehr langwieriger Prozess bei dem selbst die kleinsten Fortschritte groß gefeiert wurden.
Der erfolgreichste Spieler in dieser Hinsicht sollte ein Magier namens Tallios sein, der eine Affinität von siebzehn Prozent mit dem Element der Blitze aufwies. Bahe hatte gelesen, dass er gemeinhin bereits als der Donnergott verschrien war.
Damals hatte er nur den Kopf schütteln können, doch umso länger er in der Reihe stand und darauf wartete, dass er endlich dran kam, umso mehr musste er schlucken. Zwei Spieler waren bereits weg geschickt worden, nachdem ihnen mit keinem Element eine Affinität von mehr als zwei Prozent attestiert wurde.
Wie Bahe erfuhr brauchte man eine Affinität von mindestens fünf Prozent mit irgendeinem Element, um überhaupt als Magiernovize akzeptiert zu werden. Die letzten vier Leute vor ihm erzielten diesmal bessere Ergebnisse. Zwei junge Mädchen, bei denen Bahe wirklich in Frage stellte, ob sie schon sechszehn waren, hatten mit dem Element Wasser beziehungsweise mit dem Element Luft jeweils eine Affinität von sechs Prozent.
Der vorletzte Kandidat vor Bahe erzielte mit einer Affinität von acht Prozent mit dem Element Feuer schon ein überdurchschnittliches Ergebnis und wurde von dem Novizen, der den Test durchführte, überschwänglich beglückwünscht.
Diesmal kam Bahe auch dazu, sich den Ablauf des Testes genauer anzuschauen und stellte überrascht fest, dass man nur die Hände an einen großen Monolithen legen musste. Irgendwie hatte er mehr erwartet.
Je nachdem wie hoch die Affinität war, begann der Monolith in der Farbe des Elementes bis zu einem bestimmten Punkt von unten nach oben zu leuchten. Markierungen am Monolithen zeigten dabei die Prozentzahl der Affinität mit dem Element an. Alles was der Novize machen musste, war dementsprechend die Markierungen an der Skala des Monolithen abzuzählen.
Der letzte Kandidat vor Bahe kam schließlich dran und wurde als Magiernovize mit ganzen sechs Prozent Affinität mit dem Element der Dunkelheit aufgenommen. Auch diesmal beglückwünschte der Prüfer den Spieler überschwänglich, was diesmal jedoch daran lag, dass der Spieler eine Affinität mit dem sehr seltenen Element der Dunkelheit aufweisen konnte.
Endlich war Bahe dran und ging einen Schritt auf den Magiernovizen zu, der den Test abnahm.
„Willkommen bei der Magiergilde von Waldenstadt“, folgte der Magiernovize dem Protokoll. „Du bist hier, um deine Affinität mit den Elementen zu prüfen?“
„Ganz genau“, antwortete Bahe sofort nickend.
„Dann gehe zum Monolithen und berühre ihn mit deinen Händen in der Mulde unterhalb der Skala.“
Bahe nickte ein weiteres Mal und folgte den Anweisungen. Er war inzwischen ziemlich nervös.
Als seine feuchten Handflächen den kalten Stein des Monolithen berührten, hoffte er mit aller Kraft bloß genug Affinität mit einem der Elemente aufweisen zu können.
Einen Moment geschah nichts und Bahe wollte schon fast verunsichert seine Hände vom Monolithen nehmen, als dieser plötzlich in zwei Farben zu leuchten begann!
„Was…?“, zog der Magiernovize neben ihm plötzlich scharf den Atem ein und starrte wie gebannt auf den Monolithen.
Ein braunes und ein blaues Licht umhüllten den Fuß des Monolithen jeweils von einer Seite und mit stetigem Pulsieren stiegen die Lichter nach und nach empor.
In ein paar Sekunden hatten die beiden Lichter bereits die fünf Prozentmarke der Skala erreicht und allem Anschein nach, hatte die empor wandernden Lichter noch keine Absicht zum Stillstand zu kommen.
„Hey, schaut euch das an! Bei dem Jungen da, leuchtet der Monolith in zwei Farben!“
„Wie geht das denn?“
„Scheinbar muss er gleich starke Affinitäten mit zwei verschiedenen Elementen haben, der Glückspilz.“
„Seht euch das an, der Junge ist schon über sechs Prozent hinweg und es steigt immer noch!“
Bahe nahm die rege Diskussion, die hinter ihm entbrannte nur unterbewusst wahr. Er war vielmehr mit den immer noch ansteigenden Lichtern beschäftigt, die inzwischen die acht Prozent Marke überschritten.
„Acht Prozent!“
„Unfassbar!“
„Der Typ hat so ein Glück!
„Neun Prozent!“
„Zehn Prozent!“
„Und es steigt immer noch!“
Die Stimmen drängten sich Bahe langsam in die Ohren, als sie immer hysterischer wurden. Mit aller Kraft löste Bahe kurz seinen Blick von den Lichtern und blickte zum Magiernovizen neben ihm, der die Prüfung abnahm. Der Novize hatte seinen Mund vor Stauen weit geöffnet und blickte dümmlich auf die immer noch steigenden Lichter.
Von dem Anblick und den schreienden Stimmen im Hintergrund überzeugt, dass er es sich nicht einbildete, wandte Bahe seinen Blick wieder dem Monolithen zu.
Die Lichter überschritten gerade die fünfzehn Prozentmarke!
Die Aufschreie wurden hinter ihm immer lauter, doch die Lichter hielten nicht.
Siebzehn Prozent!
Achtzehn Prozent!
…
Zwanzig Prozent!
…
Vierundzwanzig Prozent!
Fünfundzwanzig Prozent!
Bahe konnte sein Glück kaum fassen!
Die Lichter blieben an der fünfundzwanzig Prozentmarke endlich stehen und tauchten einen Großteil des grauen Monolithen in ihr buntes Licht.
Keine Sekunde später brach ein riesen Tumult aus, als die Umgebung hinter ihm regelrecht explodierte!
„Fünfundzwanzig Prozent in zwei Elementen!“
„WTF?!“
„Wie ist das möglich?!“
„Sagt schnell unserem Gildenanführer Bescheid! Wir müssen den Typen anwerben!“
„Fünfundzwanzig Prozent! Sobald der ein paar Zauber wirken kann, ist er bereits jetzt schon so unglaublich übermächtig!“
„Der Donnergott ist ein Witz gegen den Jungen!“
Bahe brauchte einen Moment, um wieder zu sich zu kommen, löste seine Hände vom Monolithen und wandte sich dann an den Magiernovizen neben ihm.
„Habe ich bestanden?“
Der Novize klappte hörbar seinen offen Mund zu und stotterte dann: „Ich… Ich… weiß es nicht. Sowas… ist noch nie vorgekommen… Fünfundzwanzig Prozent… und das mit zwei Elementen… Ich muss meinen Meister fragen. Bitte entschuldige mich einen Moment.“
Daraufhin verschwand der Novize in Windeseile in einem Gang und kam keine Minute später mit einem alten, aber noch sehr fit wirkenden Magier im Schlepptau wieder angerannt.
„Du bist also der Junge, der eine Affinität von fünfundzwanzig Prozent mit zwei Elementen aufweist, ja?“, fragte der alte Magier, den eine ungewöhnliche, fast schon knisternde Aura umgab.
„Ähm, ja…?“, nickte Bahe zögerlich und der Blick des Magiers verfinsterte sich.
„Das ist mein Meister, Magier Hohest. Er hat bereits vor vielen Jahren den Rang eines Meisters erlangt. Du solltest ihm den gehörigen Respekt zollen!“, wurde Bahe von den Novizen lautstark ermahnt.
Erneut entbrannte hinter ihm wildes Getuschel.
„Ein Meistermagier!“
„Das erste Mal, dass ich einen sehe.“
„Findet ihr nicht auch, dass ihn eine besondere Aura umgibt?“
„Verdammt richtig, der Magier wirkt allein beim rum Stehen schon mächtig!“
„Der Junge hat so ein Glück! Glaubt ihr, dass er von dem Meistermagier direkt eine Quest auferlegt bekommt?“
Bahe blendete die Spekulationen hinter ihm aus und kam schnell der Aufforderung nach und verbeugte sich leicht: „Entschuldigen Sie bitte, Meister Hohest, dass wusste ich nicht.“
„Ach, lass gut sein, Derk. Der Junge scheint vom Lande zu sein, da kennt man nicht alle Verhaltensregeln der Stadt“, winkte der Meistermagier mit einem Mal großmütig ab.
Soviel dazu, dachte Bahe genervt. Zunächst der finstere Blick und beim ersten Anzeichen von Unterwürfigkeit wird mit Großmut um sich geworfen…
„Kannst du bitte noch einmal deine Hände auf den Monolithen legen, mein Junge?“, bat ihn der Meistermagier.
„Selbstverständlich, Meister Hohest“, sagte Bahe nickend und wandte sich erneut dem Monolithen zu.
Wieder stiegen zwei Lichter parallel zu einander am Monolithen empor und Bahe sah, wie sich im Gesicht des Meistermagiers blankes Erstaunen breit machte.
Hätte Bahe nicht Angst gehabt den Magier zu verärgern, hätte er vermutlich laut losgelacht, als dieser doch tatsächlich die Augen mehrmals schloss und wieder öffnete, als könne er nicht glauben, was er am Monolithen sah.
Am Ende blieben die Lichter wieder an der fünfundzwanzig Prozentmarke stehen und Bahe nahm kurze Zeit später die Hände vom Monolith.
Der Meistermagier starrte eine Weile vor sich hin und murmelte leise vor sich hin: „Das kann unmöglich sein… Sowas gab es noch nie… Könnte der Zauber des Monoliths an Wirkung verloren haben…?“
Anschließend musterte er Bahe mit einem merkwürdig, nachdenklichen Blick, bis er plötzlich weit die Augen aufriss. Scheinbar war er zu einer Erkenntnis gekommen, denn er grinste auf einmal selbstgefällig.
„Könntest du den Test noch ein letztes Mal wiederholen?“, fragte er Bahe ohne Erklärung.
„Sicher, Meister Hohest“, antwortete Bahe achselzuckend und legte die Hände wieder an den Monolith.
Das Schauspiel wiederholte sich, bis die Lichter erneut an der fünfundzwanzig Prozentmarke verweilten.
„Bitte lass den Monolithen nicht los, bis ich es sage“, gebot der alte Magier, als Bahe die Hände zurücknehmen wollte.
„Wie Sie wünschen, Meister Hohest.“
Der Meistermagier nickte mit einem breiten Lächeln und ging um Bahe und den Monolithen mehrmals herum, als ob er irgendetwas prüfe und musterte zwischendurch immer wieder Bahe von oben bis unten.
Bahe stand derweil mit den Händen am Monolith und wartete auf die nächste Anweisung, während die inzwischen zahlreichen Zuschauer hinter ihm erneut in wilde Spekulationen verfielen.
„Was untersucht der Magier? Habt ihr eine Ahnung?“
„Wer kann von uns schon einen Meistermagier und seine Beweggründe verstehen…“
„Vielleicht sieht er irgendetwas, dass wir nicht wahrnehmen können…?“
„Er schaut auch immer zwischen dem Monolithen und dem Jungen hin und her…“
Es vergingen mehrere Minuten, in den Bahe stets am Monolith stand und das Lächeln im Gesicht des alten Magiers immer breiter wurde.
Wenn er auf die Lösung gekommen war, könnte er ihn ruhig erlösen, dachte Bahe genervt. Es wurde langsam ziemlich anstrengend die Hände gegen den Monolith zu drücken. Bahe hatte beinahe das Gefühl, dass ihm seine Kraft aus den Händen gezogen wurde. Etwas so Merkwürdiges hatte er noch nie empfunden.
Irgendwann konnte er seine Hände einfach nicht mehr oben halten und torkelte erschöpft zwei Schritte zurück, während er keuchend versuchte zu Atem zu kommen.
„Meister, habt ihr Lösung, für das Phänomen?“, fragte er Magiernovize Derk vor Neugier fast platzend.
„In der Tat, Derk“, lächelte der alte Magier selbstgefällig und lief, um die Spannung noch ein wenig auszukosten ein weiteres Mal um den Monolith herum.
„Dieser Junge da, ist in Wirklichkeit gar kein Junge“, meinte er dann gefährlich fröhlich und zeigte auf Bahe.
„Wie… Was meint ihr Meister?“
„Wachen!“, rief der alte Magier plötzlich und ging mit höhnischer Miene auf Bahe zu. „Du hast wohl gedacht, du könntest uns mit deinen Fähigkeiten austricksen und unsere Zauber lernen, du ekelhafte Kreatur!“
Bahe war vollkommen überrumpelt und wich verdattert ein paar Schritte zurück: „Ich verstehe nicht wovon ihr sprecht, Meister Hohest…“
„Hör gefälligst auf mich bei meinem Namen anzusprechen, du jämmerlicher Wurm!“, schrie in der Meistermagier plötzlich wutentbrannt an. „Du dachtest wohl, deine Fähigkeiten als Formling würden dich an unseren Auslesezaubern vorbei schleusen, was? Dummer Weise hast du es übertrieben und wolltest dir ein Bisschen zu viel Ruhm einheimsen, he?!“
„Formling…?“, fragte Bahe verwirrt.
„Du wirst in den Kerker geworfen, bis ich dich persönlich dem Grafen von Waldenstadt übergebe! Kein Mensch kann eine solch starke Affinität mit zwei Elementen aufweisen! Und weißt du, was dich erst recht verraten hat? Deine riesigen Manareserven! Kein Anfänger ist im Besitz von so viel Mana, dass er den Monolith solange erleuchten kann! Pah!“
Bahe schwante langsam, dass er in ernste Schwierigkeiten gekommen war und wollte gerade abhauen, als er plötzlich komplett bewegungsunfähig war.
Der alte Magier lachte: „Du wolltest wohl abhauen, was? Glaubst du wirklich, ein einfacher Formling kann mir entkommen?!“
War das Magie? Fragte sich Bahe entsetzt.
„Aber ich bin kein Formling! Ich wollte doch nur ausprobieren, ob ich das Zeug zum Magier habe!“, rief Bahe wütend, während er verzweifelt darum kämpfte, sich aus dem unsichtbaren Griff zu befreien, der ihn erfasst hatte.
Er bemühte sich vergebens für ein paar Sekunden, bis vier weitere Magier auftauchten und sich um ihn postierten.
„Ob du ein Formling bist oder nicht, werden die Wachen im Kerker schon herausfinden“, meinte der alte Magier mit einem süffisanten Grinsen und nickte den vier Magiern zu. „Ab in den Kerker mit ihm und schont diese abscheuliche Kreatur nicht!“
„Sehr wohl, Meister Hohest!“, riefen die vier Magier gemeinsam.