Julias Beine wurden weich, als sie aus dem Auto stieg, ob vor Freude oder vor Angst konnte sie allerdings nicht sagen. Natürlich freute sie sich, die Schwangerschaft endlich in die Öffentlichkeit zu tragen und das mit Steppi zu teilen, gleichzeitig hatte sie aber auch Angst, dass ihrem Kind etwas passieren könnte. Die Bücher hatten ihr so viele Möglichkeiten aufgezeigt, Kindern zu schaden, dass sie davon schon fast paranoid geworden war. Die Freude auf das Kind überwog die Angst allerdings. Sie hatte sich immer gewünscht, Mutter zu werden und sah in Steppi nicht die schlechteste Option, um Vater zu werden. Sie liebte ihn. Alles andere war zweitrangig.
Ob Steppi noch nervöser war, war schwer zu sagen. Das war sein erstes Mal bei einem Frauenarzt. Natürlich hatte er eine ungefähre Vorstellung davon, was ihn dort drin erwartete, aber die Anspannung ließ ihn trotzdem nicht los. Er wusste nicht, was mit Julia gleich passieren würde und ob er das alles mitanschauen wollen würde.
Er nahm Julias Hand und ließ sich von ihr über die Straße führen, dabei wuchs seine Anspannung immer mehr.
Die Praxis lag in einem Wohngebiet, das Haus sah von außen sehr unscheinbar aus, war weiß gestrichen so wie alle anderen Häuser in der Gegend auch. Nur neben der Eingangstür prangte ein Schild, das dieses Haus als Praxis für Frauenheilkunde auswies. Julia öffnete die Tür und während sie ihren Termin anmeldete, nahm sich Steppi einen Moment, um die Umgebung zu betrachten, denn schließlich war er doch ein wenig neugierig auf den Ort, von dem Julia ihm so viel erzählt hatte.
Die Wände waren alle in schlichtem weiß gehalten, nur hier und da hing ein Bild mit bunten Motiven. Rechter Hand war ein kleiner Warteraum, der mit Stühlen und Broschürenhaltern ausgestattet war, links an der Theke vorbei ging es einen Gang entlang zu mehreren Türen, vermutlich die Behandlungszimmer. Steppi wusste nicht so recht, ob er die Praxis auf den ersten Blick hin sympathisch finden sollte oder nicht, aber Julia ließ ihm keine Zeit, darüber klar zu werden.
Sie zog ihn sanft mit sich auf einen der Stühle im Warteraum. Steppi ließ sich nieder, die Stühle waren für ihn ein bisschen eng und klein, aber Frauen wurden eben einfach selten so groß wie er.
”Wir müssen noch einen Moment warten, aber da wir hier alleine sind, denke ich, dass wir gleich drankommen. Also gleich wissen wir über alles bescheid”, erklärte sie mit gedämpfter Stimme.
Gerade wollte sie sich neben Steppi setzen, als ihr Frauenarzt auch schon ihren Namen aufrief. Julia hob amüsiert die Augenbrauen und nickte, um Steppi zu bedeuten, mitzukommen.
Seine Hand mit ihrer verschränkt fühlte er sich halbwegs sicher in diesem fremden Gebäude, aber das Gefühl ein anderer Mann kannte seine Freundin nackt, war dennoch irgendwie seltsam, wenn man dem Mann begegnete.
Julias Artzt schien schon älter zu sein, seine Haare waren jedenfalls weiß, und Steppi überragte ihn gerade so. Seine Stimme war angenehm tief und Steppi verstand, wieso Julia ihm vertrauen konnte, der erste Eindruck von diesem Mann stufte Steppi als sympathisch ein.
Er führte sie in eines der Behandlungszimmer, wo sich Julia auf die Liege legte. Steppi bekam einen Stuhl neben Julias Kopf, ihr Arzt neben ihm. Er begrüßte sie beide noch einmal, dann erklärte er in kurzen Sätzen, was er heute vor hatte.
Während er das Ultraschallgerät vorbereitete, erkundigte er sich nach Julia und nach dem Stand der Schwangerschaft. Sie erzählte von den Tests und wurde gebeten, die ungefähre Länge der Schwangerschaft anzugeben. Mit einem Schreck stellte Steppi fest, dass sie wohl seit dem Besuch auf Island schwanger war, zumindest kam es ungefähr hin. Was hatten sie in Island bloß anders gemacht?!
„So, Achtung, das wird gleich kalt. Dann wollen wir doch mal sehen, ob es schon was zu sehen gibt.“
Bei dem kalten Gefühl des Gels auf ihrer Haut schauderte Julia einen kurzen Moment, die Kälte war ungewohnt, denn einen Ultraschall bekam sie ja nicht ständig. Ihr Arzt verschaffte sich auf dem Bildschirm erst einen Überblick, dann erklärte er den werdenden Eltern das Bild mittels einem Cursor, der Markierungen setzte.
„Sehen sie, da… und da, bis dahin geht die Gebärmutter“, zeigte er auf dem Bildschirm einen schwarzen Fleck mit weißer Umrandung.
Dann war er wieder einige Sekunden still und studierte das Ultraschallbild sehr genau. Er zog die Augenbrauen zusammen und lehnte sich noch ein wenig näher an den Monitor.
Der Arzt schluckte schwer, denn er wusste, dass der nächste Satz erhebliche Auswirkungen haben würde.
„Also, soweit ich sehen kann, haben wir hier kein Baby“, begann er und sprach aber gleich weiter, um den Schock abzumildern, „aber das muss nichts heißen. Wenn sie wirklich erst in der vierten Woche sind, passiert es, dass sich das Kind vor dem Ultraschall versteckt oder irgendwelche Organe liegen davor und verdecken die Sicht. Sie müssen also wirklich keine Panik haben. Ich kann ihnen vorschlagen, Blut zu nehmen und dann den HCG Wert zu testen. Dann wissen wir ganz sicher, ob Sie schwanger sind oder nicht, da nützt alles verstecken nichts.“
Wie er erwartet hatte, waren die Gesichter der beiden bleich und in Schock erstarrt. Julia löste sich als erstes wieder daraus, als er begann, das Gel sorgfältig wegzuwischen.
„Und… das mit dem Blut, das ist dann ganz, ganz sicher?“, krächzte sie mit belegter Stimme.
„Ja, das ist hundertprozentig sicher, dabei kann gar kein Fehler passieren. Dann wissen wir es ganz genau.“
Er fuhr mit dem Stuhl ein Stück von der Liege zurück, für Julia das Zeichen, dass die Untersuchung beendet war.
Sie setzte sich auf und schob den Ärmel nach oben, damit ihr Arzt Blut nehmen konnte.
„Machen Sie sich deshalb nicht zu sehr verrückt. In ein paar Tagen haben sie die Ergebnisse und meistens ist es dann so, dass wir das Kind am Termin einfach nicht gefunden haben“, erzählte er vor sich hin, während er Julia Blut abnahm.
Julia grummelte nur und betrachtete, wie sich die Spritze langsam mit ihrem Blut füllte. Ihre Gedanken sprangen wild umher, fragten sich, wie es sein konnte, dass man nichts sah; wie es sein konnte, dass es da kein Baby gab?
Sie traute sich nicht, Steppi den Blick zuzuwenden. Was er wohl dachte? Fühlte er sich hintergangen?
"In ein paar Tagen werden die Ergebnisse da sein, wir können Sie dann gerne telefonisch darüber verständigen, ihre Handynummer ist ja bei uns vermerkt. Ist das in Ordnung für Sie?".
Julia nickte steif. Die Verabschiedung nahm sie nur verschwommen war, in ihr funktionierten nur noch Mechaniken. Selbst die Verabschiedung von der Sprechstundenhilfe war nur automatisch. Nicht einmal die frische Luft, als sie wieder aus der Praxis trat, nahm sie richtig wahr. Erst als Steppi sie am Arm festhielt, erwachte sie aus ihrer Starre.
"Wieso hat man kein Kind gesehen?", fragte er ungehalten.
Er kam sich hinters Licht geführt vor. War diese ganze Schwangerschaft etwa doch eine Lüge? Wieso nahm sie ihn denn dann mit zum Frauenarzt? Damit er es gleich herausfinden konnte? Das machte doch alles nicht wirklich Sinn?!
"Keine Ahnung", nuschelte Julia immer noch betreten, "vielleicht ist es, wie der Arzt gesagt hat, es hat sich nur versteckt.
"Hoffen wir", grummelte Steppi, ließ Julia los und stampfte zum Auto. Seine Laune hatte einen Tiefpunkt erreicht, der nur schwer zu toppen war.
Julia eilte ihm hinterher. "Wie meinst du das? Denkst du etwa, ich hätte dich angelogen? Sowas kannst du doch nicht von mir denken!".
"Ich weiß nicht, was ich soll denken", erwiderte Steppi kalt, "und ich weiß nicht was ich soll die trauen! Wieso machst du das?".
Julia liefen Tränen über die Wangen. Das Misstrauen, das Steppi ihr gegenüber anbrachte, verletzte sie zutiefst. Natürlich verstand sie nicht, wieso sie kein Baby sehen konnte, aber wieso sollte das Absicht sein? Wie dachte Steppi von ihr, wenn er ihr soetwas unterstellte? Bis vor wenigen Augenblicken hätte sie Steppi niemals zugetraut, derart kalt zu einem Menschen zu sein. Das alles nur, weil sie eventuell doch nicht schwanger war?
Je länger sie die Situation sacken ließ, desto eher zweifelte sie selbst an der Schwangerschaft. Test hin, Test her. Das alles bereitete ihr starke Kopfschmerzen und sie fasste sich an die Stirn.
"Fährst du mit heim oder nicht?", fragte Steppi, er saß bereits im Auto. Julia öffnete die Tür und sank in den Sitz. Steppi würdigte sie dabei keines Blickes. Er war ähnlich aufgewühlt. Ebenso hatte er sich bisher nicht vorstellen können, dass Julia so berechnend war und ihn ausnutzte. Hatte Lilja wirklich recht gehabt mit dem, was sie ihm auf Island gesagt hatte? Wollte Julia ihm wirklich ein Kind anhängen? Es war zwar noch nicht endgültig, aber dennoch sah alles danach aus. Am liebsten wäre er davon gerannt, aber er beschloss, wenigstens noch auf die Ergebnisse vom Arzt zu warten, das würd alles nur um ein paar Tage verlängern. Er wünschte sich, dass der Arzt einfach die Schwangerschaft feststellen und damit seine Zweifel begraben würde. Bis dahin würde er darüber nachdenken, was er im negativen Fall tun würde.
Julia versuchte, ihren Tränen möglichst leise freien Lauf zu lassen. Sie hatte das Gefühl, der Arztbesuch hatte mehr zerstört als nur ihre Babyträume. Selbst wenn sie doch Eltern werden würden, das Vertrauen war nachhaltig geschädigt worden, zumindest von ihrer Seite aus.