Es war mitten in der Nacht und der Mond war von Wolken verhangen.
Orion fragte sich zum wiederholten Male, was er hier überhaupt tat.
Neben ihm lief Sezuna. Durch die Tatsache, dass sie fast komplett in schwarz gekleidet war und ihre Haut auch noch die Farbe von dunkler Schokolade hatte, war sie nur durch ihre roten Haare zu erkennen.
Zusammen mit ihr lief er durch die Stadt auf dem Weg zum Friedhof.
Einen Friedhof, der ein Massengrab beherbergte. Dort hofften sie, die sterblichen Überreste der Geister zu finden.
Laut Sezuna war dies die einzige Möglichkeit Geister los zu werden.
Man musste die sterblichen Überreste komplett verbrennen.
Die Hexen wurden zwar auf dem Scheiterhaufen verbrannt, doch meist blieben dennoch Knochen übrig.
Der Werwolf seufzte laut, als er endlich aufgab diese Vampirin verstehen zu wollen. Vor nicht einmal drei Stunden war sie noch bewusstlos und blutete aus der Nase. Doch nun lief sie hier auf der Straße, fest entschlossen einen Friedhof aufzusuchen und ein Grab zu finden, das vermutlich vier duzend verschiedene Personen beherbergte.
„Was genau müssen wir eigentlich tun, wenn wir sie gefunden haben?“, fragte Orion und vergrub seine Hände in seinen Hosentaschen. Auch wenn er derjenige gewesen war, der den Plan vereinbart hatte, dass er mit Sezuna den Friedhof durchsuchen würde und Lika und Kaden im Hotel weitere Hinweise suchen sollten, so wusste er dennoch nicht so recht, was sie dort eigentlich sollten.
„Die Überreste suchen und verbrennen“, war Sezunas ruhige Antwort. Sie machte nicht den Anschein, als würde sie jeden Moment auf einem Friedhof eine Leiche ausgraben wollen. Auch wenn sie eine Schaufel dabei hatten. Die beide wirkten eher, als würden sie zu einem Baumarkt wollen, um Blumenerde zu kaufen.
Sezuna war einfach viel zu fein angezogen für das, was sie vorhatten.
Eine gute Tarnung, wie Orion fand. So fielen sie nicht so sehr auf.
Eine bemerkenswerte Frau war sie ja, musste er sich eingestehen. Stark, unabhängig und schien sich auf ihrem Gebiet zu verstehen. Wieso also, trieb sie sich mit einem Mann wie Kaden herum? Es machte für Orion wenig Sinn, was sie wohl an ihm finden könnte. Alles worauf er hoffen konnte war, dass Lika ihn nicht genauso sah wie Sezuna.
Schließlich war es immer noch seine Pflicht, auf Lika achtzugeben.
So wie er auch in den letzten Jahren auf sie Acht gegeben hatte.
„Hört sich ja gar nicht so schwierig an, wie ich dachte“, entgegnete er und sah sich einige Male um, nur um festzustellen, dass sie Menschenmengen langsam abnahmen und es immer abgelegener wurde.
„Sollte es auch nicht sein. Vorausgesetzt die Berichte, die ich gefunden habe stimmen. Es war nicht sonderlich leicht, aus den genannten Ortsangaben die Koordinaten festzulegen, wo sich das Grab befindet“, entgegnete Sezuna in ihrer ruhigen Art, während ihre Augen die Umgebung absuchten.
Orion wusste nicht, dass sie dabei alles aufnahm und jede Reaktion speicherte. Später würde sie sich diese noch einmal in aller Ruhe zu Gemüte führen, um zu sehen, ob vielleicht jemand zugehört hatte. Doch nicht jetzt.
Jetzt hatten sie andere Probleme.
Denn sie waren an dem Gelände angekommen, das von einer großen Steinmauer umgeben war.
Ein Eisengittertor versperrte ihnen den Weg und in der Dunkelheit konnte man ein Gebäude erkennen, was wohl das Mausoleum darstellte.
Soweit Sezuna gelesen hatte, waren die Leichen in einem namenlosen Grab an der Nordseite des Friedhofes vergraben. Das Problem war nur, dass im Laufe der Zeit die Friedhofsmauer versetzt wurden war. Außerdem wurde auch dieses Mausoleum später errichtet.
Das Grab mit den 'Hexen-Leichen' musste also in der Nähe des Mausoleums sein.
Während Sezuna damit beschäftigt war sich eine Karte im Kopf auszumalen von einigen wenigen Bildern, die sie gefunden hatte und diese mit dem jetzigen Stand des Friedhofes abglich, war Orion bereits dabei über die Mauer zu klettern, nachdem dieser seine Ärmel hochgekrempelt hatte. Er ließ sich auf das obere der Mauer fallen und reichte Sezuna eine helfende Hand, damit sie ebenfalls hochklettern konnte.
Sezuna griff danach und sprang ab. Orion merkte kaum, dass er sie gezogen hatte, da saß sie schon in einer kauernden Haltung neben ihm, auf der Mauer und ihre goldenen Augen schimmerten im Mondlicht, wie die einer Katze.
Dann sprang sie elegant hinab und kam in einer kauernden Haltung auf.
Leise und unbewegt suchte sie mit den Augen die Umgebung ab, ehe sie sich aufrichtete. Es war keine Gefahr zu erkennen, also konnten sie einfach normal laufen und mussten nicht aufpassen.
„Danke“, gab sie leise von sich und schenkte Orion ein Lächeln.
Dieser blieb einige Sekunden, ein wenig perplex, sitzen und sprang ihr letztendlich hinterher, ohne etwas zu erwidern.
Wieder in aufrechter Position, fuhr er sich einmal durch die braunen Haare, um einige Strähnen zurückzukämmen, die ihm ins Gesicht gerutscht waren.
„Man könnte glauben, dass du das öfters machst“, wechselte er das Thema und sah sich nun ebenfalls in der Dunkelheit um, doch alles was er erblickte waren bloß zahlreiche, verwachsene Grabsteine.
„Friedhöfe plündern, hatte ich bisher noch nicht“, erklärte die Rothaarige und trat recht selbstischer auf eine Stelle zu.
„Aber manche Museen bei uns besitzen auch hohe Zäune und Mauern“, sagte sie, während sie eine Stelle nachdenklich musterte.
Hier gab es einige Blumenbeete und es wäre sehr auffällig, wenn sie hier graben würden. Also mussten sie sich eine Stelle suchen, die weniger auffällig war.
Als Sezuna eine fand, deutete sie darauf. „Hier kannst du graben.“
Orion trat an die besagte Stelle heran und griff zuversichtlich nach der Schaufel, um zu graben. Wie schwer konnte es schon sein ein Grab auszuheben? Schließlich war es bloß Erde, die er ein wenig aufwühlen musste.
Er begann zu graben und bemerkte dabei, wie sich Sezuna auf einem Grabstein nieder ließ. Dabei wirkte sie, als hätte sie sich auf einen gewöhnlichen Stuhl gesetzt.
Orion runzelte die Stirn. „Willst du nicht mit helfen?“, fragte er. Sezuna machte eine wegwerfende Handbewegung und lächelte.
„Ich wurde in dem Glauben erzogen, dass Frauen Kinder bekommen und Männer die Leichen ausbuddeln.“
Orion schüttelte den Kopf und grub weiter, jedoch konnte er sich ein kleines Lachen nicht verkneifen.
„Einfach unglaublich“, murmelte er und merkte schnell, dass die Erde mehrmals zusammenrutschte. Das würde wohl doch länger dauern, als er vermutet hatte. Bereits nach einigen Minuten war sein Gesicht verdreckt von Schmutz und der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Wie er sich nun wünschte, dass Vollmond wäre, um mehr Energie zu schöpfen, doch das würde vermutlich noch einige Wochen dauern.
Kurz richtete er sich wieder auf, um sich über die Stirn zu wischen und blickte dabei zu Sezuna, die es sich scheinbar gutgehen ließ. Unter anderen Umständen könnte er sie dazu auffordern ihm zu helfen, jedoch war das auch überhaupt nicht seine Art.
Er steckte die Schaufel in die Erde, um sich darauf abstützen zu können und knöpfte einige Knöpfe seines Hemdes auf, um mehr Körperwärme zu verlieren.
Sezunas Augen waren dabei auf seine Brust gerichtete, die zum Vorschein kam, doch als Orion aufblickte, beschäftigte sich die Rothaarige mit ihrer Umhängetasche, welche sie dabei hatte.
Ihre Hände wühlten darin herum und schließlich zog sie ein kleines Päckchen hervor. „Möchtest du etwas essen?“, fragte sie und legte dabei den Kopf schief.
Sie hatte sich schon gedacht, dass es anstrengend werden würde, daher hatte sie vorgesorgt.
Der Werwolf musterte sie einen Moment, während er weitergrub.
„Und ich dachte du bist damit beschäftigt Kinder zu kriegen“, erwiderte er und warf eine weitere Ladung Erde aus der entstehenden Grube. Mit einem Satz rammte er die Schaufel wieder in die Erde und schaufelte weiter.
Sezuna gab ein leises Kichern von sich. „Noch bin ich dazu zu jung“, entgegnete sie mit einem schelmischen Grinsen. „Außerdem brauche ich ja wohl auch den richtigen Mann dazu“, fügte sie mit einem leichten Schnurren hinzu und räkelte sich ein wenig auf dem Grabstein, ehe sie sich so setzte, dass sie Orion gut beobachten konnte.
Dabei nahm sie ein Stückchen aus dem Päckchen. Darin waren getrocknete Fleischstreifen. Nach einem alten Familienrezept.
Sezuna begann darauf herum zu kauen, während sie Orions Muskelspiel beobachtete.
Auch wenn dieser sich nichts anmerken ließ, so dachte er dennoch darüber nach, ob das eine Anspielung sein sollte. Er schluckte und rammte nach vier weiteren Schaufeln, das Garteninstrument wieder in den Boden, um aus der Grube herauszuspringen.
„Ich wäre dir schon dankbar, wenn du etwas zu trinken dabei haben solltest“, gab Orion zurück, während er auf Sezuna zuging. Bereits bei einigen Metern Entfernung, schlug ihr sein Körperwärme entgegen, die einem Ofen glich.
Sofort kam ihr wieder in den Sinn, dass Werwölfe eine höhere Körperwärme besaßen, als Vampire.
Doch sie versuchte ihr Gehirn im Hier und Jetzt zu halten und auf seine Frage einzugehen.
„Moment“, meinte sie und wühlte in der Tasche. Sie hatte für sich selbst eine kleine Thermosflasche mit Blut mit, aber das wollte Orion sicherlich nicht trinken. Aber sie musste irgendwo noch eine Wasserfalsche haben.
Während sie suchte, fiel ihr wieder ein, dass sie nur diese Thermosflasche mit Blut mit hatte und sie musste sich demnächst unbedingt etwas besorgen. Sie ging immerhin nicht davon aus, dass Orion sie bei sich trinken ließ.
Schließlich fand sie eine Flasche Wasser und hielt sie Orion entgegen.
Dieser nahm sie dankend an und leerte die Flasche beinahe in einem Zug.
Er setze kurz ab, um inne zu halten und beobachtete Sezunas Mimik, während sie auf dem Stück Fleisch herumkaute.
Er hatte das Bedürfnis etwas zu sagen, doch er wusste nicht so recht was angebracht war. Wieder nahm er einen kleinen Schluck Wasser und wandte daraufhin den Blick wieder von ihr ab, um zurück in das Loch zu springen. Vorsorglich legte er die Wasserflasche neben sich auf den Boden und griff wieder nach der Schaufel, um seine Arbeit fortzusetzen.
Es dauerte nicht mehr lange, als er die ersten Knochen freilegte.
Kaum kam etwas Weißes zum Vorschein, sprang Sezuna katzenhaft zu ihm nach unten, um die Knochen zu untersuchen.
Sie schien keine Probleme damit zu haben, die, teilweise verkohlten, Knochen von Menschen zu betrachten.
„Hm“, gab sie leise, nachdenklich von sich. „Die hier sind zu groß. Es müssen Kinder gewesen sein“, erklärte sie langsam.
Orion stöhnte leise auf, bei dem Gedanken weitergraben zu müssen, doch es führte wohl kein Weg drum herum. Er hoffte nur, dass Lika keine Begegnung mit einem Geist zu spüren bekommen würde. Oder sogar mit Kaden...
„In Ordnung.“ Mit neuem Elan begann Orion weiter zu graben, um dem ein Ende zu setzen.
„Warte kurz“, mit diesen Worten hielt Sezuna ihn davon ab, die Schaufel noch einmal in die Erde zu rammen.
Er trat ein Stück zur Seite und beobachtete, wie Sezuna sich hin hockte, um etwas zu inspizieren.
Es war dunkel und sie hatten kein Licht dabei. Daher war er sich nicht sicher, ob sie etwas sehen konnte. Er hingegen sah, als wäre es Tag. Oder zumindest fast so gut.
Ein Geräusch sorgte dafür, dass er wieder zu Sezuna blickte und verwundert zog er eine Augenbraue nach oben.
Wie eine Katze grub sie sich mit den Händen in die Erde, ehe sie ein kleines Loch in der Seite der Grube ausgehöhlt hatte.
Dann beugte sie ihren Kopf nach unten und schien an etwas zu schnüffeln.
Orion hob eine Augenbraue und wartete einfach ab.
„Das hier ist das richtige. Wir beschütten einfach alles mit Benzin und fackeln es ab“, entschloss Sezuna schließlich und erhob sich wieder.
Orion bemerkte gerade noch, wie ihre Fingernägel wieder kürzer wurden.
Krallenartige Fingernägel. Das musste er sich merken. Und nach den Kratzgeräuschen, die er vernommen hatte, waren sie scheinbar auch noch sehr scharf. Wahrscheinlich ebenfalls so hart, wie die von Werwölfen.
Erleichtert warf Orion die Schaufel zur Seite, um aus dem Loch zu klettern und konnte nicht anders als zu lächeln. Vielleicht würde sich dieser Auftrag doch schneller erledigen, als er dachte. Er hatte es sich viel komplizierter vorgestellt, mit viel mehr Umwegen und Sackgassen. Doch vielleicht würde er sich schneller wieder beim Hohen Rat befinden, als er dachte und wer weiß, vielleicht würde man es ihm auch endlich zutrauen den Platz seines Vaters zu übernehmen, der sich schon langsam seinem Alter hinzugeben schien.
Schwungvoll nahm er den Benzinkanister aus einer Sporttasche und nickte Sezuna zu, um ihr zu deuten sie solle sich entfernen.
Das tat sie auch mit schnellen Schritten, denn Vampire waren sehr empfindlich, wenn es um Feuer ging. Sie trug aus diesem Grunde auch feuerfeste Spezialkleidung.
Wenn ein Funke sie traf, würde also nicht viel passieren, dennoch wollte sie es nicht riskieren. Daher suchte sie sich Schutz auf einem Grabstein, der mindestens 10 Fuß von dem Grab entfernt war. Erst dann nickte sie Orion zu.
Dieser nickte kurz zurück, bevor er ein gutes Stück des Kanisters auf den ausgegrabenen Knochen verteilte und letztendlich zu einer Packung Streichhölzer griff.
Vorsichtig zündete er eines an und warf es in die Grube, die sofort begann zu brennen. Feuerzungen schlängelten sich wild umeinander, während er Sezuna über das große Feuer hinweg beobachtete. Unter Umständen könnte das ein gemütlicher Abend am Lagerfeuer werden... würde man die Tatsache vergessen, dass sie sich gerade auf einem Friedhof befanden und quasi Leichen schändeten.