„So war das also!“
„Hätte ich mir ja gleich denken können. Es ist für uns Spieler einfach unmöglich eine Affinität von fünfundzwanzig Prozent mit einem der Elemente zu haben…“
„Aber wie geil ist das bitte?! Ein Formling?“
„Ja, nicht wahr?“
„TNL hat sich so viele Details einfallen lassen…“
Bahe fluchte im Stillen, als die vier Magier ihn an den Armen packten und abführten. Er versuchte erst gar nicht gegen die Männer anzukämpfen. Solange er noch in der Nähe des Meistermagiers war, hätte er eh keine Chance zu verschwinden.
Aber was war hier bitte los?
Es konnte doch unmöglich wahr sein, dass ihm nicht nur seine Berufsklasse aberkannt wurde, sondern er obendrein auch noch so viel Pech hatte und in den Kerker gesperrt werden sollte?
Konnte diese ganze Situation mit irgendeiner Quest zu tun haben?
Nein, wohl eher nicht… Es sei denn, es würde sich um eine Quest im zwielichtigen Bereich der Gesellschaft handeln. Aber damit wollte Bahe erst gar nichts zu tun haben. Er hatte von verschiedenen Spielern Berichte gelesen, dass diese die Rolle von Dieben oder Meuchelmördern nicht gerade empfehlen konnten. Die Berufsklassen eigenen Fähigkeiten waren zwar stark, standen aber in keiner Relation zu den vielen Nachteilen, die ein Leben auf der Flucht und im Schatten der Gesellschaft mit sich brachte.
Die vier Magier schleiften Bahe aus dem Rezeptionsbereich und verließen mit ihm das Hauptgebäude. Scheinbar wollten sie ihn zu einem Nebenhaus bringen, das aus der Tür kommend rechts neben dem großen Magierturm stand.
Bahe überlegte fieberhaft, wie er entkommen könnte, während ihn die Magier über den Rand des Vorplatzes eskortierten. In Bahes unmittelbarer Nähe blitzen ständig Lichter der unterschiedlichsten Zauber auf, als sich Novizen an ihren Zaubern versuchten.
Verdammt, dachte er angespannt. Die flackernden Lichter erschwerten ihm stark den Überblick über den Vorplatz.
Hier und da gelang ein Zauber und weiter hinten gab es scheinbar zwei Novizen die in einer Art Duell versunken waren. Einer der Novizen wirkte mit höchster Konzentration Erdzauber und schaffte es tatsächlich eine riesige und aus Erde bestehende Hand aus dem Boden zu beschwören.
Bahe staunte nicht schlecht, während er weiter vorwärts gezerrt wurde.
Der andere Novize hatte anscheinend eine starke Affinität mit dem Element Feuer und erschuf einen riesigen Feuerball, den er der Erdhand entgegen warf. Der Novize des Erdelements lachte siegesgewiss, bis sich der Feuerball plötzlich zusammenzog und kurz vor dem Aufprall mit der Erdhand explodierte!
„Erdwall!“, schrie der Novize des Erdelements panisch und warf sich der Länge nach zu Boden. Ein kleiner Erdwall erhob sich aus dem Boden und schützte den Novizen gerade genug, um nicht von den Auswirkungen des Aufeinandertreffens erwischt zu werden.
Die Erdhand konnte der Wucht der Explosion nicht standhalten und Brocken des Erdreichs flogen in alle Richtungen davon.
Bahe bekam große Augen, da er sich mit den vier Magiern gerade unmittelbar hinter dem Erdnovizen befand.
Die Wachen fluchten und bedienten sich ihrer eigenen Zaubersprüche, um sich die Klumpen grober Erde und Gesteins vom Leib zu halten und Bahe sah in der chaotischen Situation seine Chance zur Flucht gekommen!
Wie vom Wahnsinn getrieben preschte er zwischen den vier Magiern und ihren Schutzzaubern hindurch und rannte durch den Hagel aus Erdklumpen in die Menge der Novizen. Er versuchte sein Gesicht mit den Armen zu schützen und kniff die Augen zusammen, während einige Erdbrocken schmerzhaft seinen Körper trafen und Schadensmeldungen in mehreren, durchscheinenden Fenstern aufklappten.
Er biss die Zähne zusammen und hatte nach kürzester Zeit bereits zehn Meter hinter sich gebracht. Scheiße, dachte er wütend. Vierundachtzigprozentiges Schmerzempfinden? Der Unterschied zu den hundert Prozent war kaum zu spüren!
Die Magierwachen fluchten hinter ihm lauthals und geboten ihm stehen zu bleiben.
Waren die noch bei Trost? Welcher Flüchtige würde in solch einer Situation auf sowas hören…
Bahe war erleichtert, dass sein Plan aufgegangen war und die Magier in der Menge der Novizen nicht mit ihren Zaubern um sich warfen. Mit absoluten Höchstleistungen rannte er im Zickzack durch die Menschenmenge des Vorplatzes und bog anschließend in eine kleine Seitengasse ab.
Entspannen konnte er sich nicht, da hinter ihm noch immer die wütenden Schreie der Magier erklangen. Was folgte war eine chaotische Verfolgungsjagd quer durch die Stadt, bei der sich Bahe so ziemlich jeder Chance bediente, um den Zaubern der Magier auszuweichen.
Bahe erkannte ziemlich schnell, dass die menschenleeren Seitengassen sein Verderben bedeuten würden, nachdem ein Eiszauber ihn beinahe an den Beinen erwischt hatte und wich anschließend auf die belebteren Hauptstraßen der Stadt aus, die sein Vorwärtskommen aber erheblich erschwerten.
Er brauchte insgesamt zwanzig Minuten, in denen Bahe mehrmals an seine Grenzen stieß und keuchend für einen Augenblick zum Stillstand kommen musste, was im Endeffekt dafür sorgte, dass er seinen Vorsprung nie ausbauen konnte.
Dann kam endlich ein Tor der Stadtmauer in Sicht und Bahe rannte mit letzter Kraft darauf zu. Kaum einen Moment später rannten die Magier um die Ecke und schrien der Torwache zu, dass sie unbedingt das Tor schließen sollten.
Bahe ignorierte das Geschrei und preschte mit allem was er hatte voran.
Zu seinem Glück schienen die Wachen etwas schwer von Begriff zu sein und blickten zunächst nur verwirrt auf die Magier. Dann entdeckten sie jedoch Bahe und machten sich plötzlich hecktisch am Tor zu schaffen, während einer der Wachen nach oben rannte und sich zu Bahes Schrecken am Fallgitter zu schaffen machte.
Mit einem Schrei beschleunigte Bahe seine erschöpften Schritte ein weiteres Mal, warf sich im letzten Moment zu Boden und rutschte unter dem herab fallenden Fallgitter hindurch.
Bahe zögerte nicht lange und kämpfte sich schnell wieder auf die Beine. Er musste den Wald erreichen, bevor ihm die Magier folgen konnten.
„Zieht das verdammte Gitter wieder hoch!“
„Beeilt euch! Der Formling entkommt!“
Keuchend durchbrach Bahe schließlich die ersten Büsche und tauchte immer tiefer in den Wald ein. Er blieb noch lange wachsam und entfernte sich immer weiter von den wütenden Stimmen der Magier, bis schließlich nichts mehr von seinen Verfolgern zu hören war.
Glücklicher Weise war er diesmal so geistesgegenwärtig gewesen und nach Süden gelaufen. Hier hielten sich in der näheren Umgebung der Stadt nicht nur weniger Kreaturen auf, sie waren gemeinhin auch harmloser und weniger angriffslustig wie im Norden von Waldenstadt.
Oben auf einem Hügel, in der Nähe eines kleinen Baches, war er letzten Endes zum Stehen gekommen und sackte erschöpft auf dem Boden zusammen. Nicht weit von ihm zog sich ein Trampelpfad durch die Natur, der jedoch Menschen leer war und von dem man die Stelle, die sich Bahe ausgesucht hatte, eh nicht einsehen konnte.
Es war ein Wunder, dass er den Magiern doch tatsächlich entkommen war…
Würde er nun als Geächteter gelten? Bahe war sich nicht sicher, inwieweit er sich wieder in die Stadt trauen konnte…
„Total bescheuert dieser Meistermagier, nicht wahr?“, meinte eine hohe Stimme fröhlich.
Bahe konnte nur zustimmend nicken.
„Dabei ist er nicht mal besonders gut in seiner Disziplin…“, sprach die Stimme erneut, diesmal jedoch geringschätzig.
Bahe war kurz davor, wieder zu zustimmen, als ihm plötzlich klar wurde, dass jemand mit ihm sprach und er vor Schreck einen Satz in die entgegengesetzte Richtung machte.
Als er sich wieder gefangen hatte, traute er seinen Augen kaum. Nicht weit von ihm entfernt saß ein kleines Mädchen auf einem Felsen und spielte mit einem Finger in ihren knallblauen Haaren. Sie besaß ein zierliches Gesicht mit einer kleinen Stubsnase und trug ein Lächeln zur Schau, das einem den Atem raubte.
Doch das Merkwürdigste an ihr war, dass ihr Körper seltsam durchscheinend wirkte. Bahe fragte sich tatsächlich, ob er einen Geist vor sich hatte und brachte lieber ein paar Schritte mehr Abstand zwischen sich und das kleine Mädchen.
Die Kleine kicherte darauf hin und fragte: „Was hältst du von unserem Meister, Brocken?“
„Ich bin mir noch nicht sicher… Er scheint ganz nett zu sein…“, ertönte plötzlich eine dunkle und raue Stimme unmittelbar hinter Bahe.
„Wah!“, rief er vor Schreck und machte schnell zwei Schritte zur Seite, um den Ursprung der Stimme in Augenschein zu nehmen.
Bahe hatte vorhin schon kaum seinen Augen trauen können, doch jetzt fragte er sich langsam, ob er halluzinierte.
Zu seiner Rechten saß ein kleiner Junge mit braunem Haar, der ebenfalls merkwürdig durchscheinend wirkte. Das Gesicht des Jungen war etwas rundlich, als ob er noch nicht allen Babyspeck losgeworden war und zusammen mit den weit aufgerissenen Augen wirkte er recht naiv.
„Denkst du eigentlich manchmal nach, bevor du sprichst? Woran willst du denn bisher erkannt haben, dass er nett ist?“, wies das Mädchen den Jungen zurecht.
„War nur so ein Gefühl…“, zuckte der Junge kleinlaut mit den Schultern.
Bahe wandte währenddessen gerade noch rechtzeitig den Blick, um aus dem Staunen nicht mehr heraus zu kommen.
Das Mädchen stellte sich auf den Felsen und verwandelte ihren Körper plötzlich komplett in Wasser!
Für einen kurzen Moment waren die Körperproportionen in dem Zustand noch gut zu erkennen, bis ihr Körper regelrecht zerfloss und über den Boden zu Bahe strömte. Keinen Wimpernschlag später sprudelte das Wasser senkrecht vom Boden empor und machte die Verwandlung rückgängig, indem es erneut den Körper des Mädchens bildete. Die Kleine vollführte einen leichten Knicks und stellte sich vor: „Entschuldige bitte Meister, wir haben uns noch gar nicht vorgestellt. Ich heiße Limona und das da drüben ist Brocken“, sagte sie grinsend und ging anschließend um Bahe herum.
„So sieht also ein Elementflüsterer aus… wirklich mächtig scheinst du nicht zu sein… merkwürdig…“
„Zu Hause hat Großvater auch immer davon berichtet, dass die Elementflüsterer vergangener Zeiten unglaublich mächtig waren… Aber er… erscheint mir auf dem ersten Blick auch ein Wenig dümmlich…“, meinte der Junge langsam.
Bahe kam sich vor wie ein Tier im Zoo, als die beiden Knirpse ihn so kritisch musterten und gar nicht erst in Betracht zogen, ihre Meinung über ihn zurück zu halten.
Und ausgerechnet dieser einfältig wirkende Junge meinte, er sehe dümmlich aus?!
Genervt schluckte Bahe seinen Zorn runter und stellte stattdessen die Frage, die ihm viel dringender auf den Lippen lag: „Was meint ihr mit Elementflüsterer? Ich habe gar keine Berufsklasse…“
„…“
„…“
Die beiden Knirpse starren ihn verblüfft an, bis das Mädchen mit einem Nicken meinte: „Du hast recht mit dem dümmlich… nur ist ein Wenig vielleicht ein Bisschen untertrieben.“
„Hey!“, brauste Bahe auf.
„Dir ist schon klar, dass wir gar nicht hier erscheinen würden, wenn du kein Elementflüsterer wärst, oder?“
„Eh…“, Bahe wusste nicht was er sagen sollte.
„Menschen! Unglaublich!“, stampfte das Mädchen mit den Füßen auf und schüttelte den Kopf.
„Vielleicht kann… er… nichts dafür… Er ist seit Jahrhunderten der erste Elementflüsterer…“, versuchte der Junge auf seine langsam sprechende Art scheinbar zu vermitteln, als prompt ein Fenster aufklappte:
Herzlichen Glückwunsch!
Du bist seit Jahrhunderten der erste Elementflüsterer in Raoie!
Belohnung: Hinweis zu einer klassenspezifischen Quest
„Die Luft ist der Ozean der Vögel.“
„Was…?“, Bahe war für einen Moment sprachlos, bis er das Fenster schloss und verwirrt vor sich hin murmelte: „Aber vorhin in der Stadt hatte ich doch gar keine Berufsklasse…“
„Was ja auch kein Wunder ist, Bahe!“, verdrehte die Kleine ihre Augen.
„Was meinst du?“
„Du bist anscheinend durch einen glücklichen Zufall der erste Elementflüsterer seit vielen Jahrhunderten geworden! Anders kann ich es mir gar nicht erklären, wie ich an so einen Einfallspinsel geraten bin… Ihr Menschen seid noch lange nicht für die Fähigkeiten und die Verantwortung bereit, die diese Berufung mit sich bringt!“
„Das erklärt immer noch nicht meine Frage…“
„Boar, wir haben dir geholfen, du Idiot. Sag mal, kommt er nur mir so dumm vor?“, wandte die Kleine sich an den Jungen.
„Wir haben dafür gesorgt, dass in der Stadt niemand herausbekommt, dass du bereits ein Elementflüsterer bist“, erklärte der Junge ernst. „Du solltest in Zukunft darauf achten, niemanden deine Klasse zu verraten, bis der Rest der Menschheit bereit ist, mit Elementaren umzugehen.“
Deswegen wurde seine Berufsklasse nicht angezeigt?! Bahe raufte sich die Haare und wusste nicht wie er seiner Wut Luft machen sollte.
„Du solltest das ernst nehmen! Selbst vor… Jahrtausenden… waren die Elementflüsterer legendär. Sie waren unglaublich mächtig… überall wurde mit… Ehrfurcht von ihnen gesprochen…“, sprach der Junge langsam mit seiner tiefen Stimme. „Wenn du… unsere Bemühungen zu Nichte machst… und jemanden von deiner Berufung erzählst, werden wir uns von dir trennen!“
„Verlass dich drauf!“, stimmte das Mädchen zu.
Bahe wollte noch etwas erwidern, als ein neues Fenster aufklappte:
Deine Berufsklasse der Elementflüsterer besitzt unglaublich mächtige Fähigkeiten und ist legendär. Die Menschheit ist für deine Berufung noch nicht bereit und da es bisher nur Mythen und Sagen über deine Berufung gibt, sollte es vorerst auch so bleiben.
Du darfst deine Berufsklasse Niemanden verraten, bis die versteckte Berufsklasse der Elementarbeschwörer vom Volk der Menschen entdeckt wird!
Verrätst du deine Berufung an irgendjemanden, werden die legendären Elementare den Seelenbund mit dir trennen. Deine Seele wird ernsten Schaden nehmen, was zur Folge hat, dass du deine Berufsklasse, Erfahrung und sämtliche Fähigkeiten verlierst!
„Oh man…“, entfuhr es ihm.
Das waren ganz schön heftige Konsequenzen, dachte Bahe mit einem mulmigen Gefühl. Er würde in Zukunft wahrscheinlich auch aufpassen müssen, dass er die Berufsklasse nicht durch die Aktivierung seiner Fähigkeiten verriet…
Allein bei dem Gedanken daran, auf wie viele Dinge er in Zukunft achten musste, bekam er bereits Kopfschmerzen…
„Ah, scheinbar hast du jetzt verstanden wie ernst die Lage ist“, meinte das Mädchen und wandte sich an den Jungen. „Wir sollten Ihn vielleicht einen Moment zum Nachdenken geben… Er scheint ja immer eine Weile zu brauchen.“
Der Junge nickte nur und zusammen gingen sie ein paar Schritte weiter und unterhielten sich leise untereinander.
„…“, Bahe wollte genervt schon wieder aufbrausen, ließ es dann mit einem Seufzen jedoch bleiben und öffnete stattdessen mit neuer Hoffnung neugierig sein Charakterprofil.