Als Steppi am nächsten Morgen aufwachte, begrüßten ihn zuerst starke Kopfschmerzen. Stöhnend massierte er sich die Stirn, davon wurde es allerdings nicht besser. Dann kehrten allmählich die Erinnerungen der letzten Nacht zurück und er wandte sich zur Seite. Kein Frauenkörper lag dort, Lilja musste schon eine ganze Weile weg sein. Denn ihre Decke war achtlos zwischen seine Beine geknüllt. Er setzte sich auf und musste sich dabei abstützen, um das Schwindelgefühl unter Kontrolle zu bekommen. Steppi fragte sich, wie lange er wohl geschlafen hatte, hell war es jedenfalls schon. In der Wohnung waren keine Geräusche zu hören, aber bei Arons Alkoholpegel gestern war es kein Wunder, dass er wohl auch nicht so schnell fit sein würde. Mühsam stand Steppi auf und quälte sich in seine Klamotten. Er wollte nach Aron oder nach Lilja, besser nach allen beiden suchen.
In der Küche und im Wohnzimmer schien niemand zu sein. Überhaupt schien es so, als wäre Lilja überhaupt nicht mehr da, auch die Toilette war nicht besetzt. Nachdem Steppi sie in Anspruch genommen hatte, schlich er leise in Arons Zimmer. Aron saß auch bereits aufrecht, die Haare zerzaust und der Blick noch sehr verschlafen.
„Hej Steppi“, nuschelte er und gähnte ausgiebig, dann streckte er sich.
„Hej, Aron. Ausgenüchtert?“, gab Steppi zurück und gähnte ebenfalls.
„Geht. Kaffee?“.
Steppi nickte nur und schlurfte, Aron im Schlepptau in die Küche. Da er hier schon öfter gewesen war, war es für ihn kein Problem, Kaffee aufzusetzen. Er hörte, wie Aron sich geräuschvoll auf einen der Küchenstühle fallen ließ, der Stuhl knarzte ächzend unter Arons Gewicht.
„Wo ist Lilja?“, brummelte Aron, „war sie gestern Abend noch da?“.
„Ähm, ja, das kann man so sagen.“
Steppi konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen und das hörte man auch seiner Stimme an, Aron runzelte die Stirn.
„Was heißt das? Erzähl!“, forderte er.
„Wir haben dich gestern ins Bett getragen und dann uns noch ein bisschen unterhalten, und irgendwie kam es dazu, dass wir geknutscht haben und dann hat sie halt bei mir geschlafen und...“.
„Stopp! Keine Details!“.
Steppi grinste in sich hinein, dann goss er zwei Tassen Kaffee ein. Das Koffein belebte seine Sinne wieder und vertrieb die Kopfschmerzen schließlich.
„Wie kommst du denn nach Reykjavik? Wir könnten zusammen zum Trainingslager fahren“, fragte Aron dann nach ein paar Schlucken. Er war froh, ein anderes Thema anschneiden zu können. Es ging ihn nichts an, mit wem und mit wem nicht seine Cousine schlief.
„Steinunn nimmt mich mit, denke ich jedenfalls. Sie arbeitet an dem Tag und muss sowieso selbst nach Reykjavik.“
Aron brummte nur zur Bestätigung, dass er die Antwort zur Kenntnis genommen hatte. Seine Kopfschmerzen waren noch zu stark, um sehr lange Gespräche zu führen, auch wenn der Kaffee bereits half.
Steppi leerte seine Kaffeetasse genüsslich, dann stand er auf.
„Ich helfe dir noch aufräumen, immerhin haben wir das zusammen verursacht“, seufzte er und streckte die steifen Gliedmaßen.
„Danke“, brummelte Aron, dann leerte er auch seinen Kaffee. „Ich habe noch große Müllsäcke im Keller, wir packen die Flaschen erst mal da rein, wegbringen tu ich die wann anders.“
Während Aron sich kurz verabschiedete, um in den Keller zu gehen, ließ sich Steppi noch einmal in den Sessel im Wohnzimmer fallen. Seine Gedanken wanderten zum gestrigen Abend und er fragte sich, was Lilja wohl gerade machte. Ob er sie wohl anrufen sollte? Eigentlich hatte er aber nicht das Bedürfnis. Nicht, dass er sie nicht mochte, aber auf eine Beziehung hatte er gerade keine Lust. Darauf würde es wohl aber hinauslaufen, falls er sich jetzt bei ihr meldete. Deshalb entschied er sich dagegen. Seufzend drehte er sich in dem Sessel hin und her. Die Sache mit den Frauen war wirklich kompliziert, wieso musste er so etwas auch anfangen?
Inzwischen kam Aron, angekündigt vom Rascheln der Müllsäcke, in die Wohnung zurück. Steppi nahm sich einem der Müllsäcke an und begann, ihn mit leeren Bierflaschen zu füllen. Die stumpfe, immer gleiche Arbeit tat ihm gut und sorgte dafür, dass er allmählich auch wacher wurde. Bis Tische und Böden frei von Bierflaschen waren, dauerte es eine ganze Weile, in der beide die Stille genossen. Schließlich aber waren die Säcke voll und auch die letzte Bierflasche aufgeräumt.
„Ich bringe die Dinger runter in den Keller, kannst du schnell die Tische abwischen? Dann sieht es wieder halbwegs in Ordnung aus“, schlug Aron vor und nickte dabei in Richtung Küche.
„Mach ich, bis gleich“, meinte Steppi und war schon auf dem Weg in die Küche, während Aron mit etwas Aufwand die beiden großen Säcke durch die Tür nach unten schleppte.
Bis Aron wieder in der Wohnung war, waren die Tische abgewischt und die Kissen auf den Sesseln wieder geordnet, das Wohnzimmer war also wieder absolut elterntauglich vorzeigbar.
„Puh, da bin ich aber froh“, seufzte Aron, „und der Kater geht auch wieder. Wie geht’s dir?“.
Steppi überlegte einen Moment, entschied sich dann aber für „okay, denk ich“.
Aron wurde hellhörig. Er hatte mitbekommen, dass Steppi mit seiner Cousine geschlafen hatte und er hatte das Bedürfnis, Lilja davor zu beschützen, verletzt zu werden.
„Was ist jetzt eigentlich mit Lil?“, fragte er deshalb, „hast du dich schon bei ihr gemeldet? Was wird das jetzt?“.
„Ich weiß nicht“, zuckte Steppi mit den Schultern, „ich weiß es wirklich nicht. Sie hat mich gestern quasi überfallen und ich weiß eigentlich noch gar nicht, ob ich überhaupt schon wieder eine Freundin will. Ich denke, eigentlich nicht, irgendwie liebe ich Julia ja noch, zumindest ein bisschen. Ob ich Lilja überhaupt als Freundin will, egal wann, weiß ich auch noch nicht. Nein, lass mich damit erst mal in Ruhe. Wenn sie sich meldet, ist das vielleicht was anderes.“
Aron war nicht wirklich glücklich mit der Aussage, aber bevor er seinem alten Freund Vorwürfe machte, wollte er erst einmal Liljas Seite anhören. Er wusste schließlich nicht, wie ernst es ihr gestern Nacht gewesen war, auch wenn sie schon länger in Steppi verliebt war.
„Ich muss noch irgendwie nach Hause“, stöhnte Steppi und rieb sich mit flachen Händen über das Gesicht. Normalerweise mietete er sich einfach ein Auto, das war in Reykjavik überhaupt kein Problem, aber mit Restalkohol zu fahren war ihm viel zu riskant.
„Hm, Steinunn?“, schlug Aron vor.
„Die Idee ist gut“, murmelte Steppi, überrascht davon, dass er nicht selbst darauf gekommen war. Er holte sein Handy aus der Hosentasche hervor und wählte die Nummer seiner Schwester. Sie nahm erst nach dem zweiten Anruf ab, mit merklich müder Stimme.
„Steppi, was ist denn los? Was ist so wichtig, dass du mich zwei Mal anrufst?“, gähnte sie.
„Ich sitze in Reykjavik bei Aron und naja, ich komme nicht los“, brummelte ihr Bruder.
„Wieso? Du nimmst doch sonst auch immer einen Mietwagen, außer du hast...“, mit einem Schlag war Steinunn wacher, „sag bloß, ihr habt getrunken?“.
„Das könnte man so sagen, ja...“.
Die große Schwester seufzte tief. „Und ich dachte, aus dem Alter seid ihr mittlerweile raus. Von mir aus, ich komme ich holen. Du bist bei Aron, hast du gesagt?“.
„Ja, bin ich. Bis gleich“, grinste Steppi.
Die Fahrt dauerte ungefähr 20 Minuten, je nach Verkehrsaufkommen, das wusste er aus Erfahrung.
„Sie holt dich ab?“, fragte Aron sicherheitshalber, auch wenn er das aus der Verabschiedung schon schließen konnte. Steppi nickte.
„Sie fährt dann los. Bis sie da ist könnten wir uns aber noch ein Frühstück holen, oder was meinst du?“.
„Ja, gerne. Lass uns zum Bäcker gehen“, stimmte Aron zu und die beiden machten sich zu Fuß auf den Weg, denn er Bäcker war nur wenige 100 Meter entfernt. Während sie liefen, sah Steppi noch einmal auf sein Handy, er hatte eine Nachricht bekommen. Neugierig öffnete er sie und erschrak einen Augenblick, als er Lilja als Absender identifizierte.
‚Guten Morgen Steppi, ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt. Ich wollte dir das peinliche aufwachen ersparen. Aber wenn es nach mir geht, können wir das gerne öfter machen, du warst großartig. Kuss‘
Aron hatte den gequälten Gesichtsausdruck seines Freundes erkannt. Für ihn gab es nur zwei Möglichkeiten, wer einen derartigen Gesichtsausdruck auslösen konnte, deshalb riet er ins Blaue hinein.
„Ist das Lil? Darf ich wissen, was sie schreibt?“.
„Ja, das ist sie“, brummte Steppi, „aber ich glaube nicht, dass du wissen willst, was sie schreibt. Ich muss mir selbst erst mal überlegen, was ich ihr antworte.“
„Solange du sie nicht verletzt, ist ja alles in Ordnung“, meinte Aron nur dazu.
Nach den Worten Arons war sich Steppi nicht so sicher, unbeschadet aus der Sache wieder herauszukommen. Er wusste bei Lilja nicht einzuordnen, wie oberflächlich sie die Beziehung tatsächlich sah. Die SMS klangen sehr oberflächlich, aber er wusste gleichzeitig, wie lange Lilja schon versuchte, mit ihm auszugehen. Wie er es auch drehte und wendete, er sah am Ende nur einen Konflikt mit Aron und das bereitete ihm Bauchschmerzen.
Weil er sich nicht vor dem Frühstück auch noch damit beschäftigen wollte, steckte er das Handy erst einmal weg. Vielleicht hätte Steinunn eine gute Idee, wie man die Situation lösen konnte, immerhin hatte sie ihm bei Julia auch schon Tipps gegeben die funktioniert hatten.
Steppi beschloss, später auf der Heimfahrt mit Steinunn darüber zu reden, denn auch von der Trennung hatte sie bisher wenig mitbekommen. Vielleicht könnte sie ihm helfen, auch diese zu verarbeiten.
In solchen Momenten war er heilfroh, eine ältere Schwester zu haben, die ihm die Welt der Frauen erklären konnte.