Julia hatte sich zwar den Flughafenplan vorher unzählige Male angeschaut und gedacht, sie wüsste genau, wie sie zu dem vereinbarten Treffpunkt käme, aber in der Realität war das noch einmal etwas anderes. Die Menschenmassen, die durch die Flughafenhalle hetzten oder flanierten, mit und ohne Koffer, machten Julia die Orientierung schwer und die Geschäfte hatte sie sich zwar in ihrer Lage angeschaut, aber alle abzulaufen war noch einmal eine andere Sache. Sie brauchte mehr Zeit als gedacht, um das Restaurant zu finden, an dem sie sich mit Steinunn verabredet hatte. Trotzdem war sie, und das beruhigte sie sehr, noch pünktlich, denn sie hasste Unpünktlichkeit. Steinunn schien noch nicht da zu sein, denn niemand sonst stand vor dem Restaurant herum und blickte suchend umher.
Die Menschenschlange an der Essensausgabe war lang, ob wegen des Hungers oder des guten Essens würde sie später herausfinden, sie hoffte auf Letzteres.
Julia versuchte, unter all den Menschen Steinunn auszumachen, aber es war unmöglich, jeden Menschen zu betrachten, der an ihr vorbelief.
Schließlich war es Steinunn, die Julia zuerst entdeckte und sie begrüßte. Das Mädchen wirkte völlig verunsichert und die Umarmung war seltsam steif. Auch Steinunn war unsicher vor dem Treffen, sie wusste ja nicht, was Julia jetzt noch von ihr halten mochte. Steinunn war gespannt auf ihre Geschichte, aber zuerst wollten sie sich etwas zu Essen besorgen.
Während sie in der Schlange standen, überlegte Steinunn, was sie Julia außer einem ‚schön, dich zu sehen‘ sagen konnte. Die obligatorische Frage wie es ihr ging, hatte sie ausgelassen, die Antwort konnte sie sich denken. Wenigstens schien Julia keine Abneigung gegenüber ihr zu hegen, das Schweigen deutete sie als Angespanntheit. Julia aber war genau so unsicher wie Steinunn. Sie wollte Steinunn nicht gleich mit Fragen nach Steppi überfallen, aber für Smalltalk war sie zu angespannt. Steinunn in ihrem blauen Kostüm und den streng zurückgebundenen Haaren wirkte ohnehin so einschüchternd, dass Julia jedes Wort im Hals stecken blieb.
Ebenso schwierig war es, einen freien Tisch zu bekommen, aber schließlich erkämpften sie sich einen Platz und aßen schweigend, nur mit einem ‚Guten Appetit‘. Als das Essen aber schließlich auch leer war, gab es keinen Grund mehr, zu schweigen. Wenigstens war das Essen genau so lecker, wie es die lange Schlange vermuten ließ.
Schließlich machte Steinunn den Anfang, sie fühlte sich verpflichtet, immerhin hatte sie quasi um das Treffen gebeten.
„Ich weiß gar nicht richtig, wo ich anfangen soll“, meinte sie und lockerte damit die verkrampfte Stimmung zwischen den beiden, Julia grinste. Es war erleichternd, dass Steinunn genau so nervös war wie sie.
„Du siehst ganz gut aus, fröhlich meine ich damit. Wie geht es dir?“, fragte sie dann schließlich und hoffte, damit nicht ins Fettnäpfchen zu treten.
„Danke“, gab Julia zurück, „eigentlich geht es auch. Aber das alles hier macht mich nervös, es kommt alles wieder hoch...“.
Steinunn beeilte sich, weiterzusprechen, auch weil ihre Neugier geweckt war.
„Das verstehe ich, aber wieso willst du dich dann treffen? Was hoffst du?“.
„Naja… sonst kriege ich nicht viel mit von Steppi, ich dachte...“.
Julia fixierte ihren leeren Teller und sie spürte, wie ihr die Röte in die Wangen schoss. Jetzt, wo der Name ausgesprochen war, fühlte sie sich erst richtig schlecht.
Steinunn wollte nach ihrer Hand greifen und sie beruhigend streicheln, aber sie entschied sich dagegen. Sie als Schwester des Übeltäters war vielleicht nicht die richtiger Person, um zu trösten.
„Ich weiß nicht, ob es dich beruhigt, aber Steppi redet auch mit mir nicht darüber. Er stellt sich stur und hat natürlich in allem Recht und ich soll aufhören zu fragen. Wenn du mich fragst, weiß er, dass er Mist gebaut hat und will es nur nicht hören. Er verdrängt es.“
Julia sank auf ihrem Stuhl zusammen. Es tat gut und gleichzeitig nicht gut, von Steppi zu hören. Die Interpretation von Steinunn tat gut, es war schön, zu hören, dass Steppi seiner Fehler bewusst war, vielleicht.
Seine Sturheit tat weh. Aber so war er. Auch kleine Fehler konnte er nur schwer einsehen, das hatte sie in der kurzen Zeit mit ihm gelernt.
„Er hat mir auch nur gesagt, dass du ihm einfach ein Kind unterschieben willst. Aber ich glaube ihm nicht so ganz. Willst du mir deine Geschichte erzählen? Ich will nur… ich meine, ich möchte wissen, was wirklich passiert ist. Ich kenne dich so nicht. Und ich will wissen, ob ich Steppi die Ohren langziehen soll für seinen Fehler.“
Über den letzten Satz lachte Julia. Wenigstens war sie sich jetzt sicher, dass Steinunn gewissermaßen auf ihrer Seite stand. Sie wollte Steinunn alles erzählen, aber die Erkenntnisse in Worte zu fassen fiel ihr noch schwer. Das Gefühl, ein Kind verloren zu haben, nagte noch an ihr,auch wenn sie eigentlich keines verloren hatte.
Sie versuchte sich zu fassen und erzählte stockend Satz für Satz.
„Ich dachte wirklich, dass ich schwanger bin, ich habe ja zwei Tests gemacht. Ich wusste nicht, was ich falsch gemacht haben könnte mit der Pille oder so, aber manchmal passiert es ja. Der Arzt hat mir erklärt, dass ich gar nicht schwanger war eigentlich. Ich hatte ein Windei, das sich manchmal einfach einnistet ohne befruchtet zu sein, das kann dann auch einen Schwangerschaftstest überlisten, nur die HCG-Wert-Messung kann es nicht veräppeln. Deshalb wurde es auch erst da gemerkt. Ich würde das doch niemals bösartig einsetzen um Steppi an mich zu binden oder so, ich weiß gar nicht, wie er überhaupt auf solche Ideen kommt, dass das Absicht gewesen wäre...“.
Julia barg ihr Gesicht in den Händen, bevor jemand ihre Tränen sehen konnte.
Jetzt stand Steinunn auf und ging um den Tisch herum, um Julia in den Arm zu nehmen. Sie war sich sicher, dass Julia sie nicht anlügen würde, aber die Geschichte war einfach unglaublich. Das Problem war ihr nicht fremd, sie hatte selbst eine solche ‚Schwangerschaft‘ durchlitten und wusste, wie schlimm sich Julia fühlen musste. Gerade deshalb verstand sie nicht, wieso Steppi Julia eine Lüge unterstellte. Vielleicht hatte das aber zu dem Zeitpunkt noch gar nicht festgestanden, dachte sie dann.
Steinunn streichelte Julia beruhigend über den Rücken, die stumm weinte. Julia tat es gut, in den Arm genommen zu werden.
„Ach, du Arme. Ich verstehe dich, so ähnlich ging es mir auch mal. Mach dir keine Gedanken, ich glaube dir. Dir muss es schrecklich gehen damit. Du tust mir so leid. Kann ich irgendwas tun für dich?“.
Spontan schüttelte Julia den Kopf. Sie war gerührt davon, dass Steinunn ihr helfen wollte, aber zuerst fiel ihr nichts ein. Während sie sich langsam beruhigte, kamen ihr doch ein paar Gedanken.
„Steinunn… ich weiß nicht, ob du mir helfen kannst, aber vielleicht… würdest du nochmal versuchen, mit Steppi zu reden? Vielleicht hört er ja auf dich, zumindest hoffe ich das.“
Steinunn lächelte nachsichtig. „Natürlich rede ich nochmal mit ihm, das hätte ich sowieso getan. Aber jetzt kann ich es dir versprechen, ich werde nochmal mit Steppi reden. Aber wenn du noch weiter meinen Rat hören willst, ich würde mir überlegen, ob ich ihn noch einmal zurücknehme. Er hat sich ganz schön fies verhalten.“
Julia schwieg betreten. Darüber hatte sie sich noch keine Gedanken gemacht, sie wollte Steppi nach wie vor zurück haben. Aber Steinunn hatte natürlich recht, er war sehr gemein zu ihr gewesen.
„Da habe ich dir ganz schön was zum Nachdenken gegeben, was?“.
Steinunn lachte und tätschelte ihr die Schulter. „Ich werde trotzdem mit ihm reden, egal was für eine Entscheidung du triffst. Ich wollte es dir nur einmal sagen, dass du vielleicht auch mal darüber nachdenkst.“
Sie lächelte und umarmte Julia. „Ich denke du wirst schon die richtige Entscheidung treffen. Jetzt habe ich dir erst mal genug zum Nachdenken gegeben, oder?“.
„Ja, irgendwie schon“, nuschelte Julia, sie war bereits tief in Gedanken versunken.
„Ich muss bald weiter. Lass uns die Teller wegbringen, ist das okay? Kann ich dich alleine lassen?“.
Steinunn stand bereits auf und griff nach ihrem Teller, während Julia erst aus ihrer gedanklichen Starre erwachte. Die Frage war gut, konnte man sie alleine lassen? Sie fühlte sich ausgelaugt von dem Gespräch, aber gleichzeitig auch gestärkt. Es tat gut, Steinunn auf ihrer Seite zu haben.
Mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen folgte sie Steinunn zur Tellerabgabe und stellte ihren Teller dazu.
„Ich glaube, ich komme gut alleine heim“, verkündete Julia und lächelte dabei immer noch.
Steinunn bemerkte, dass sie Zuversicht ausstrahlte und freute sich darüber. Das hatte sie mit dem Treffen bezwecken wollen. Zufrieden mit ihrer Leistung umarmte sie Julia.
„Das freut mich, und wenn noch irgendwas ist, kannst du mich immer anrufen. Und wenn ich irgendetwas weiß, dann werde ich mich melden, ich verspreche es dir.“
Sie umarmten sich noch einmal und verabschiedeten sich dann. Steinunn ging in die eine, Julia in die andere Richtung und beide waren glücklich darüber, dass sie sich getroffen hatten.
Während Steinunn ihrem Bruder eine SMS schrieb, in der sie sich ankündigte, schrieb Julia Liv eine Nachricht. Natürlich wollte ihre Freundin wissen, wie das Treffen gelaufen war und Julia konnte nicht ihr Grinsen verbergen, als sie Liv all die guten Nachrichten überbrachte. Steinunn hingegen wollte sofort mit ihrem Bruder reden. Abgesehen davon, dass sie das schon geplant hatte, war sie nach diesem Gespräch noch viel neugieriger darauf, was ihr Bruder zu ihr sagen würde, wenn sie ihn mit alldem konfrontieren würde.