Die Zeit bis zur nächsten Nachhilfestunde verging schnell. Julia, die zwischen Uni, lernen und arbeiten kaum Luft hatte, schaffte sie es gerade noch pünktlich und nahm dafür immer zwei Stufen auf einmal. Natürlich saßen die Jungs schon da, Julia blieb erst ein Mal stehen undv holte Luft. Ihrer miesen Kondition war es zu verdanken, dass sie jetzt schon leichtes Seitenstechen bekam.
Stefán drehte sich als erster um, als er es poltern hörte und er lächelte, als er Julia als Ursache erkannte. Sie hatte einen Arm um ihren Oberkörper geschlungen und sah ein bisschen gequält drein. Er stand auf und ging, das Pfeifen von Mads ignorierend, zu ihr. Von nahem konnte man die Schweißperlen sehen, die sich von der Stirn einen Weg nach unten suchten. Julia atmete unregelmäßig und Stefán legte ihr eine Hand auf den Rücken.
"Ist alles in Ordnung mit dir? Du musst gerannt sein, so du switzt ja wie verrückt."
"Ja...zu spät... Seitenstechen", hechelte sie und krümmte sich noch ein wenig mehr.
"Dann ist dein Körperhaltung nichts. Stell dich gerade hin und atme tief ein und aus, so es geht wieder weg."
Stefán nahm sanft ihren Arm von der Seite und drückte seine Hand in ihr Kreuz, um sie zum Geradestehen zu bewegen. Vor Erschöpfung ließ Julia den Kopf gegen seine Schulter sinken, aber das Seitenstechen ebbte tatsächlich langsam ab, mit jedem tiefen Atemzug ein wenig mehr. Schließlich straffte sie wieder ihre Schultern und lächelte zu ihm hoch. "Vielen Dank, das Seitenstechen ist weg."
Er lächelte zurück und folgte Julia, die zum Pult ging, um sich auf seinen Platz zu setzen. Sie klopfte auf einen kleinen Papierstapel neben sich. "Also Jungs, ich habe hier mal einen kleinen Test vorbereitet. Da ihr ja schon ein paar Wochen in Deutschland seid, kann es ja sein, dass ihr schon ein paar Sachen könnt. Je nachdem kann ich dann weitefördern. Das dauert nur 20 Minuten."
Während sie die Tests verteilte, jammerte Harald: "Ein Test?! Ick dachte, Niklas hat gesagt die Nachhilfe war toll. Von Test schreiben hat er nie was gesagt. I hate it."
Harald erntete nur mitleidige Blicke und Julia ließ sich davon nicht beirren. "Ich schaue auf die Uhr. Los geht's. Viel Erfolg."
Alle drei beugten sich über das Papier und während Stefán sofort den Stift zückte und schrieb, sahen Mads und Harald eher ratlos aus. Hier und da schrieben sie Wörter auf, aber so souverän wie Stefán waren sie nicht. Julia bemühte sich, sich auf alle drei Jungs zu konzentrieren, aber ihr Blick wanderte automatisch immer zu Stefán. Als ob er sie magisch anziehen würde, betrachtete sie ihn genauer. Die kurz geschnittenen Haare, das kantige Gesicht, die konzentriert zusammengezogenen Augenbrauen und die blauen Augen, die schnell über das Geschriebene huschten, das alles übte eine Faszination auf Julia aus.
Sie kniff kurz die Augen zusammen und heftete ihren Blick auf die Wanduhr, die ihr direkt gegenüber oberhalb der Tür angebracht war. Sie hatten noch ein paar Minuten Zeit, aber Stefán schien schon fertig zu sein. Mads und Harald hatten den Stift geschlagen zur Seite gelegt und Julia hatte nicht den Eindruck, dass da noch viel passieren würde. "Jungs, wie sieht es aus?", fragte sie deshalb und sie schauten auf.
"Da hättest du mick auch Chinesisch abfragen könne, no way", grummelte Harald, während Julia einen Blick auf sein Blatt warf. Die Ausbeute war relativ mager, aber ein paar Grundlagensachen wie begrüßen konnte er schon. "So schlimm war es doch gar nicht, dafür, dass du keinen Unterricht hattest. Ich finde, das ist eine gute Basis", machte sie ihm Mut und lächelte ihm zu.
Bei Stefán sah die Sache schon anders aus. Das mit den Artikeln war ihm wohl immer noch fremd, aber über den Rest konnte man sich nicht beschweren, der größte Teil war richtig. "Und?", fragte er grinsend. "Streber. Du bist gut", grinste Julia zurück, "nur das mit den Artikeln üben wir nochmal."
Mads allerdings hatte außer 'hallo' nur Strichmännchen und Herzchen zustande gebracht. Er grinste und zwinkerte zu ihr hoch. Seufzend formte Julia seinen Test zu einer Rolle und tippte ihm damit auf den Kopf. "Nimm das mal ernster, Casanova. Nur mit 'hallo' gewinnst du nicht bei vielen Frauen einen Blumentopf."
"Auch nickt bei dir?".
Julia fühlte die Röte ins Gesicht steigen. Mit Schülern souverän umgehen war das eine, aber mit Anmachen was ganz anderes. Stefán knuffte seinen Kollegen mit einem genervten Seufzer in die Seite. "Jetzt lass doch mal gut sein, Mads. Kannst du dein Hormone außerhalb unseres Unterrichts freilassen, so wir können auch noch was lernen?".
"Und genau deshalb übe ich jetzt mit Harald und Mads mit Stefán vorstellen und begrüßen, Grundlagen eben. Stefán, kannst du?".
"Natürlich. Aber nenne mich bitte in Zukunft Steppi. Stefán klingt danach, als hätte ich was verbrochen. Jedenfalls ruft mich meine Mutter so wenn ich habe etwas getan."
Er nahm Mads mit in eine ruhige Ecke des Raumes und sprach mit ihm. Julia war sich sicher, dass Steppi das gut hinkriegen würde und setzte sich zu Harald. "So, ich denke eigentlich, du konntest das schon, dem Test nach, oder? Stell dich mir mal vor."
Akzentfrei war es nicht, aber Harald schlug sich wirklich gut. Deshalb gab sie ihm eine kleine Aufgabe und huschte zu Steppi und Mads.
"Und, wie läuft es bei euch?", fragte sie und unterbrach ihren Dialog damit.
"Er kann besser reden als schreiben, du hast Glück. Eigentlich kann er es ganz gut", berichtete Steppi und Julia nickte anerkennend. "Das klingt gut. Danke für deine Hilfe, Steppi. Aber ich glaube, wir üben noch ein bisschen Grammatik, damit die Stunde gut genutzt ist, Harald langweilt sich nämlich schon."
Nachdem keiner irgendeine Ahnung von Grammatik hatte, begann Julia seufzend bei den Grundlagen, die schon die ganze Stunde auffraßen, ohne wirklich etwas für die deutsche Grammatik getan zu haben. Julia beließ es trotzdem dabei, eigentlich hatten sie heute eine Menge geschafft. "Vergesst nicht, euch das zwischendurch mal anzuschauen, gerade das Theoriezeug", verabschiedete sie alle mit einem Augenzwinkern, aber es reagierte keiner mehr darauf, wie üblich bei Schülern.
Steppi hielt ihr die Tür auf und ging dann hinter ihr wieder nach unten. "Nervt dich Mads?", fragte er, während sie gemeinsam zum Auto gingen. "Nein, eigentlich nicht. Aber es ist trotzdem gut, dass du mich vorhin gerettet hast. Er nervt nicht, aber er überfordert mich ein bisschen."
"Ich beschütze dich gerne weiter, wenn dir das gut tut."
Julia strahlte ihn an und ließ sich die Autotür öffnen. Schon beim zweiten Mal war ihr das Auto jetzt so vertraut, dass sie sich sofort wohl fühlte und es sich auf dem Sitz bequem machte. "Wie war es denn heute an der Uni?", eröffnete Steppi das Gespräch. "Viel Arbeit, wie immer. Ich hatte heute mein Seminar und habe den Nachmittag damit verbracht, einen ganzen Autor vom Deutschen ins Lateinische zu übersetzen, die Prüfung ist nämlich bald fällig. Und bestehen muss ich sie auch, sonst kann ich das Studium nämlich leider vergessen."
Sie sprach nicht gerne darüber, dass sie im ersten Anlauf letztes Semester gescheitert war. Damals war es aber vermutlich daran gelegen, dass sie noch eine Menge Kurse nebenher hatte und kaum lernen konnte. Dieses Semester war das nicht der Fall und sie war optimistisch. "Das wirst du schon schaffen, wenn du so viel lernst. Ich werde dir die Daumen drücken."
"Danke, das kann nicht schaden. Aber jetzt will ich das Thema wechseln, sonst macht mich das nervös - wie geht es dir denn hier? Du hast letztes Mal von deiner Familie erzählt, die vermisst du doch sicher, oder?".
Steppi schwieg erst für einige 100 Meter, bevor er mit dem Blick auf die Straße zu sprechen anfing. "Ja doch, ich vermisse sie schon, vor allem weil das ist mein erste Auszug und dann so weit weg. Aber wir skypen sehr oft und besuchen uns so oft es geht. Ich habe zwei kleine Nichten und ich will sie schon auch aufwachsen sehen so gut es geht. Meine Familie ist mir sehr wichtig."
"Das ist gut. Ich wünschte, bei meiner Familie wäre es so eng. Wir kommen zwar zu Familienfeiern zusammen, aber es ist immer sehr gestellt, weil irgendwer meistens vorher Streit hat und dann so tun muss, als mag man sich."
Julia wischte sich aufkommende Tränen aus dem Augenwinkel und merkte so gar nicht, dass Steppi nach ihrer Hand griff und sie sanft drückte. "Lass dir jetzt davon nicht so die Laune verderben. Wir haben auch mal Streit, das kannst du mir glauben. Vielleicht es wird bei euch irgendwann auch wieder besser."
Ihre Hand wirkte gegen seine fast winzig, stellte sie lächelnd fest. Die Berührung tat ihr gut und beruhigte sie wieder ein wenig, lenkte ihre Gedanken weg von ihrer Familie. "Sag mir lieber ¢ein bisschen) wo es lang geht, ab der Autobahnausfahrt bin ich mir nicht mehr ganz sicher", unterbrach Steppi ihre Gedanken (und gab ihr damit noch mehr Chance zur Ablenkung). Seine Hand brauchte er wieder zum Schalten und ließ sie deshalb los. Julia mochte das im ersten Moment gar nicht, im zweiten Moment schalt sie sich für den Gedanken. Sie durfte ihm nicht zu viel Hoffnung machen und vor allem sich selbst nicht.
Nach wenigen Straßen hatte sie ihn zu sich nach Hause gelotst. "Und, kanntest du den Weg noch?".
"Ja, eigentlich schon, aber ganz sicher war ich mir nicht. Nächste Woche kann ich ihn schon wieder mehr."
Julia schulterte ihren Rucksack und wandte sich dann noch einmal Steppi zu, der sie fest umarmte. "Sehen wir uns noch vor deiner Prüfung? Sonst muss ich dir jetzt schon viel Glück wünschen."
"Falls wir uns Dienstag wiedersehen, dann ja."
"Hmm", machte Steppi, "ich glaube, wir müssen es verschieben, wir fahren Dienstag nach Kiel. Aber ohne Glück kann ich dich nicht gehen lassen. So gibst du mir deine Nummer? Dann ich kann mich melden."
Julia fand nichts dabei, deshalb tauschten sie die Nummern. Es war schön, dass sich jemand so um sie sorgte und doch war nicht viel dabei, denn Glück konnte man ja jedem wünschen, da mussten nicht zwingend Gefühle im Spiel sein.
"Danke, und komm gut nach Hause. Ich werde dir gegen Kiel auch viel Glück wünschen. Vielleicht schaffe ich es ja sogar, den Fernseher einzuschalten."
"Bis zum nächsten Mal, ich würde mich freuen, wenn du schaust", verabschiedete sich Steppi, umarmte sie noch einmal kurz und stieg dann wieder in sein Auto. Julia sah ihm noch nach, bis er um die Ecke gebogen war, dann ging sie hinein.