Es wehte eine leichte, warme Briese vom Meer her über das Land und wiegte das Graß auf den Auen und Weiden sacht von einer zur anderen Seite. Zwischen den Kiefern und Tannen eines Wäldchens zwitscherten Vögel und balzten um die Gunst der Weibchen, während durch das Unterholz Eichhörnchen und Füchse huschten. Die Sonne schickte ihre letzten Fühler über den Horizont und schien den Himmel, an welchem vereinzelte Kumuli gemächlich dahinzogen, in Brand zu stecken. Golden spielte das Licht auf Farnen und Buschwerk.
Ein einzelner Mann ritt auf einem großen und ruhigen Rappen einen schmalen Feldweg entlang. Seinen Kopf zierte eine wulstige, frische Narbe. Den Schädel hatte er kahlrasiert. Er trug einen weiten, derben Ledermantel und ein langes Kavallerieschwert. Er beobachtete den Flug einiger Gänse, welche in V-Formation einem, ihm unbekannten, Ziel entgegen strebten. Er überlegte gerade, was er sich zum Essen jagen sollte, als er um eine scharfe Kurve ritt und sich hinter einer dichten Reihe von Buchen und Eichen eine Weggabelung auf tat. Auf der Weggabelung stand ein Wagen mit einem angebauten Baldachin und einer Art Theke, welche von zwei Schwingtüren flankiert wurde. Ein typischer, fahrender Händler.
„Hey, du da, Freund, komm und sieh dich um, Ösgierd hat die besten Waren, von weit und fern.“, der Händler winkte ihm zu und zeigte sein breitestes Grinsen. „Komm, du siehst müde aus. Dagegen hab ich etwas, Ösgierd hat feine Sachen, du wirst sehen. Hier, schau!“, der fremdländisch wirkende Mann hielt eine kleine Flasche mit einer bernsteinfarbenen, klaren Flüssigkeit in der ausgestreckten Hand. Redawend, durstig und hungrig von der weiten Reise, vom Lager der Bawaruter hinaus ins Saskische Hinterland, lenkte sein frisch gestohlenes Pferd zu dem Wagen des freundlichen Händlers hin. „Hier mein Freund, ein Schluck aufs Haus, ich teile mit dir, weißt du? Ösgierd lädt dich ein.“
Der Söldner zögerte keine Sekunde, leerte den Becher in einem Zug und hustete kräftig. Der Händler lachte laut auf und klatschte sich auf die Schenkel. Dann setzte er sich auf den Rand seines Karrens und ließ die Beine baumeln. Hinter einer Kiste holte er ein Laib Brot, einen Weinschlauch und einen gereiften Käse hervor. „Komm setzt dich. Lass uns, wie man bei uns sagt, das Brot brechen“, ein kurzer Moment des Schweigens, auf welchen ein weiterer Lachanfall Ösgierds folgte „Und ordentlich Wein saufen, was hast du denn gedacht?“
Redawend zögerte nun doch: „Warum bietet‘n ihr mir das alles an. Ihr kennt mich nich. Ich, mein Schwert, ich könnt sonst wer sein, ein Räuber oder so.“ Der fliegende Händler schmunzelte und strich sich über sein Ziegenbärtchen. „Vergesst nicht“, erwiderte er nach kurzem warten „eure hässliche Narbe, die euer Gesicht so schön ziert. Glaubt mir, einen geschlagenen Hund erkenne ich, wenn ich ihn sehe. Ihr seid harmlos wie eine müde Katze an einem warmen Sonntagmorgen. Und selbst wenn…“ Der Händler griff unter den Bock und hielt eine gespannte Armbrust in der Hand. Redawend griff sich reflexartig an den linken Oberarm und wich einen Schritt zurück. „Seht ihr?“, Ösgierd lächelte böse „Was hab ich gesagt. Aber keine Sorge, Ösgierd ist kein Schlagetot, danach steht mir nicht der Sinn. Also, trinkt und esst nun endlich. Ich fange nicht ohne euch an, aber mir knurrt schon tüchtig der Magen.“
Die Sterne erstrahlten einige Zeit Später am Himmel, spiegelten sich in den Teichen und Pfützen am Wegesrand wider. Der Halbmond zog langsam und ruhig seine Bahn, während grillen Zirpten und Glühwürmchen phosphoreszierten. Sie hatten ein kleines Feuer entzündet und sich, an den Wagen gelehnt, niedergelassen. Redawend zog gleichmäßig und ruhig einen Schleifstein über die Klinge seines Schwertes. Er prüfte regelmäßig die Schärfe mit seinem Daumen und war sichtlich unzufrieden mit seinem Ergebnis. Den Mantel hatte er abgelegt, darunter trug er ein linnenes Hemd. Den linken Ärmel hatte er bis über die Bolzenwunde hochgerollt. Die Narbe war rosig und gut verheilt, doch brannte immer noch gelegentlich. Ösgierd lag ausgestreckt da und spielte auf einem Instrument, welches einer Laute ähnelte, eine traurige Ballade.
„Sag mir, großer Krieger, was ist deine Geschichte, hä? Du hast mit mir gespeist, meinen Wein getrunken, hier nimm ruhig noch einen Schluck, und sitzt an meinem Feuerchen. Wer bist du also?“ Redawend hielt in der Bewegung inne und legte den Kopf nach hinten, so dass er das Funkeln der Sterne bewundern konnte. Er atmete tief ein und sprach ruhig: „Ich bin, das heißt, ich war‘n Doppelsöldner. Ich hab mich für’n Kriegsdienst verkauft. In erster Reihe ‘kämpft. Mir wurd ‘ne Zahl an Köpfen genannt, die ich hab liefern solln. Ich habe sie immer geliefert.“ Schweigen. Ein sehr langes, tiefgründiges Schweigen.
Der fliegende Händler zog zischend Luft ein und pfiff respektvoll. „Ay, das ist übel. Ein übles Leben. Aber, du hast aufgehört. Willst ehrenhaft werden?“ Redawend zuckte mit den Schultern. „Weiß nich“, begann er „Ehrenhaft, was isn das schon. N‘ Ehrenhafter, der kann lesen, kann schreiben, hatn Weib und Kinder, ‘n Hof und so. Ich hab das alles nich.“ Wieder Schweigen, nur das Knistern des Feuers und das Surren des Schleifsteins auf dem kalten Stahl.
Eine Eule zog dicht über sie hinweg. Ein Wolf heulte in weiter Ferne und bekam von noch weiterer Entfernung eine Antwort. Der Wind lies kleine Wellen auf den Teichen der Umgebung entstehen, in denen die Reflexion der Sterne verschwamm und flimmerte.
„Ich habe Kinder, weißt du? Ich habe auch eine Frau, und ein Haus. Aber ich habe auch noch meine Armbrust“, Ösgierd lächelte aufmunternd und nahm einen großen Schluck aus dem Weinschlauch bevor er fortfuhr „Unten, in Sunderland, da wo es keinen Winter gibt, da ist meine Familie. Der Großvezir schenkte mir meinen kleinen Hof persönlich, weißt du? Für meine Taten während des Krieges mit den Stämmen der Dschungel. Ich sag dir, mein Freund, das war ein Stechen und Hauen. Aua ja, es ging zur Sache. Am Ende habe ich meinem König dreiunddreißig Köpfe beschert. Du siehst, ich war auch einmal ein Söldner.“ Redawend seufzte und legte Holz nach.
„Sag, weißt du, mein Freund, warum die Völker aus dem Osten und Norden in letzter Zeit so häufig hier einfallen?“, Ösgierd hatte die Laute weggelegt und musterte den Söldner aus tiefen, schwarzen Augen. Der zuckte nur mit den Schultern und machte ein absolut uninteressiertes Gesicht. „Weiß nich. Mich bezahln’se, um die zu erschlagen, nich um zu fragen, was sie hier her treiben tut.“ Der Händler zwirbelte den Ziegenbart und seufzte dann aufrichtig und traurig. „Das ist es ja, mein Freund“ fing er an „das ist es ja. Man fragt sie nicht. Man redet nicht mit ihnen. Was sollen sie dann auch tun.“ Erwartungsvoll blickte er auf Redawend, der zuckte aber wieder nur unbedarft mit den Schultern. „Weißt du denn nicht, das sie dort oben keine Sommer mehr haben, nicht einmal Frühling würde ich das nennen. Oy! Kein Essen, nur Kälte und Stille. Deswegen kommen sie hierher. Sie wollen, das wir den Kuchen mit ihnen teilen, weißt du?“ Redawend sah Ösgierd lange an, dann endlich fand er seine Sprache wieder: „Das heißt, wenn man’n kein Hof mehr hat, dann wird man wieder’n Söldling.“ Er nickte wissend und starrte wieder ins Feuer. Ösgierd seufzte und warf noch einen Holzscheit in die knackende Glut. „Ja“, sagte er schließlich, traurig und gedankenverloren „das Leben ist kein Ein-Spur-Weg.“
Am nächsten Morgen, die Sonne stand noch tief und lies eine orangene Märchenlandschaft um den kleinen Wagen und das Nachtlager entstehen, hatte Redawend bereits seinen Rappen gesattelt und war dabei ihm Futter zu geben, als sich Ösgierd, die verschlafenen Augen reiben, aus seinem Schlafsack heraus schälte. „Ah, ein guter Mann, steht früh auf, tüchtig bist du mein Freund.“, dabei lächelte der Sunderländer freundlich. Redawend hielt in der Bewegung inne und fixierte die Tasche, an der er sich zu schaffen machte. Eine unangenehme Stille breitete sich aus. Dann endlich drehte sich der große, glatzköpfige Mann um und lächelte seinem neuen Freund zu. „Ja. Danke, für deine Gastfreundschaft, aber ich muss los.“ Ösgierd winkte ab und gab zu verstehen, dass dies für ihn eine Selbstverständlichkeit war. „Todo lo que es bueno, wie wir zu sagen pflegen, mein Freund. Alles ist im reinen. Wohin wirst du jetzt reiten? Suchst du dir eine Frau? Einen kleinen Hof, ay?“ Redawends Miene verdüsterte sich etwas. Er schüttelte fast unmerklich den Kopf. „Nein“, begann er schließlich „Ich reite nach Nauembrug. An den Hof von Herzog Hedwig. Er zieht gegen Fürst Bodobrock, den Herren vom Regenstein, eine Rechnung begleichen. Man wird sicher gut zahlen.“ Der Händler schüttelte wieder traurig den Kopf, wischte sich sogar diesmal eine Träne aus dem Gesicht: „Ay, Amigo, was soll ich nur tun.“ Ruhe folgte. Dann blickte Ösgierd dem Söldner direkt, mit einer sehr ernsten Miene, ins Gesicht, packte ihn bei den Schultern. „Pendejo, jetzt hör mir mal zu, nichts dergleichen wirst du tun. In welcher Richtung liegt Nauembrug? Die rechte Abzweigung? Gut, dann reite links. Reite einmal in deinem Leben nach links. Nicht zu den Spießen, weißt du? Nicht zu dem Kriegsvolk, nein! Nach links, zu deinem Mädchen, Pendejo!“