Kapitel 3
Jillian fuhr ihren PC herunter und seufzte erleichtert. Das war es vorerst mit den Hausaufgaben, zumindest für dieses Wochenende. Wochenende! Sie ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen und streckte sich ausgiebig. Sie würde in den nächsten zwei Tagen sicher keinen Finger mehr für die Schule rühren... na ja abgesehen vom heutigen Abend, wenn Jonas ihr noch ein, zwei Dinge erklären sollte, aber das würde sicher schnell gehen. Jonas war geduldig und er konnte gut erklären.
Mit dem Schreibtischstuhl auf dem sie saß rollte sie an ihr Fenster und sah in den wolkenverhangenen Himmel hoch, von dem immer noch dicke Flocken fielen.
Der Winterdienst hat dieses Jahr ganz schön zu tun, dachte sie in diesem Moment und freute sich über die weiße Pracht in ihrem Garten. An ihrem Fenster hingen dünne Eiszapfen, die wie Diamanten funkelten, wenn die untergehende Sonne sich zeigte. Auf den Ästen des großen Kirschbaumes lag so viel Schnee, dass sie sich schwerfällig zur Erde neigten. Seit Tagen hatte es nicht mehr aufgehört zu schneien und es war kein Fleckchen Grün mehr zu sehen.
Suchend blickte sie zu dem Vogelhäuschen in Hills Garten hinüber, wo sich auch schon viele kleine Frechdachse satt aßen. Blaumeisen, Sperlinge und sogar ein Rotkehlchen war dabei. Sie stützte den Kopf auf ihre Hände und sah den kleinen Piepmätzen dabei zu, wie sie sich um die Körner stritten.
Ihr Blick schweifte wieder in Richtung Himmel. Wegen des ständigen Graus konnte man leicht vergessen, welche Tageszeit es gerade war und auch jetzt musste sie zur Orientierung auf die Uhr sehen – zehn vor Fünf. Sie freute sich, bald würde ihr DVD-Abend mit Jonas losgehen.
In diesem Moment nahm sie eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahr und schaute wieder nach draußen. Ihr Blick wanderte von dem schneebedeckten Kirschbaum, über das Vogelhäuschen in Hills Garten, bis hoch zu Jonas’ Fenster. Sie grinste. Er hatte dieselbe Pose wie sie eingenommen und starrte sie belustigt an. Hätte in seinem Zimmer kein Licht gebrannt, dann hätte sie ihn durch die dicken Schneeflocken hindurch sicher nicht sehen können.
Fröhlich winkte sie ihm zu. Er hielt einige DVDs nach oben und sah sie fragend an. Durch das Schneetreiben konnte sie die ausgewählten Filme nicht erkennen, aber da sie wusste, dass mit Jonas zusammen jeder Film gut war, zeigte sie beide Daumen nach oben. Er lächelte zufrieden, bevor er wieder hinter der Gardine verschwand.
Unten in der Küche herrschte schon die größte Aufregung. Katrin und René Seifert nahmen sich nicht oft die Zeit für einen gemeinsamen Kinoabend. Jetzt freuten sie sich umso mehr darauf.
„Wo bleibt denn Jillian? Ich dachte, wir wollen gleich los.“, fragte René ungeduldig an seine Frau gewandt und warf einen Blick zur Uhr. Sie würden über eine Stunde für die Fahrt in den nächsten Ort brauchen, das Schneegestöber draußen wurde von Minute zu Minute schlimmer.
Katrin legte sich ihre Lieblingsohrringe an, die sie diesen Valentinstag von ihrem Mann geschenkt bekommen hatte. Es waren zwei schlichte, goldene Stecker und doch das Wertvollste, das sie besaß, drückten sie doch Renés Liebe zu ihr aus.
Lächelnd wandte sie sich nun zu ihm um. „Jillian kommt nicht mit. Was machst du nur schon wieder?“ Sie lachte herzlich, als ihr Blick auf den Knoten seiner Krawatte fiel. „Lass mich das machen.“
„Was heißt hier, sie kommt nicht mit? Was hat sie denn vor?“ Enttäuschung machte sich auf dem Gesicht von Jillians Vater breit, während seine Frau versuchte, den Schaden an seiner Krawatte zu beheben.
„Sie geht rüber zu Jonas. Die beiden wollen sich ein paar Filme ansehen. Wieso ziehst du dich, wenn wir ausgehen immer an, als gingen wir in die Oper?“
„Weil ich hübsch für dich sein will.“, scherzte René und seine Frau zog ihm kurz an der Krawatte. Sie wusste, wie eitel ihr Mann war, da machte er fast schon seinem Sohn Konkurrenz. Und auch äußerlich hätte man sie fast nicht von einander unterscheiden können, wären Tims Haare etwas kürzer und etwas gebändigter gewesen. Ihr Mann hatte auch kein Piercing an der Unterlippe, wie sein Sohn. Sie kicherte, als sie sich ihn damit vorstellte.
„Ich finde es schade, dass aus unserem Familienabend wieder nichts geworden ist.“
Sie bemerkte, dass er schmollte und stemmte belustigt die Hände in die Hüfte. „Dann wird es eben ein Pärchenabend. Weißt du, wie lange es so etwas bei uns nicht mehr gegeben hat?“
René erkannte das gefährliche Aufblitzen in den Augen seiner Frau und beruhigte sie gleich: „Viel zu lange. Ich meinte ja nur, dass wir als Familie auch mal wieder an den Wochenenden zusammen sein sollten. Tim ist nur noch mit seinem Auslandspraktikum beschäftigt und Jillian scheint so langsam bei Jonas einziehen zu wollen.“
„Keine schlechte Idee!!“ Katrin war entzückt bei diesem Gedanken.
Erschrocken drehte René sich wieder zu ihr um. „Was?“, fragte er verwirrt.
„Oh ich kann mir alles bildlich vorstellen. Aber ich glaube, sie sollten in eine gemeinsame Wohnung ziehen und nicht ins Haus seiner Eltern. Wir könnten...“
„Stop!“, rief René und hob abwehrend die Hände. „Du denkst doch nicht im Ernst über so etwas nach?! Das sind Kinder, nichts weiter. Sie sind wie Geschwister aufgewachsen.“
„So ein Unsinn!“, widersprach Katrin heftig. „Sie sind beide volljährig und schlau genug zu erkennen, dass sie keine Geschwister sind.“
„Genau wie deine Tochter, hast du eine zu lebhafte Fantasie.“, stellte René trocken fest.
Seine Frau hob eine Braue. „Genau wie dein Sohn, siehst du mal wieder den Wald vor lauter Bäumen nicht. Du wirst schon sehen.“, sagte sie überlegen, bevor sie ins Badezimmer verschwand, um ihrem Gesicht etwas Farbe zu verpassen.
René blieb fassungslos in der Küche zurück. Wie kam seine Frau nur auf solche Gedanken? In seinen Augen war Jillian immer noch das kleine Mädchen mit der rosa Schultasche. Sie schaffte es morgens kaum, allein rechtzeitig aus dem Bett, von einer eigenen Wohnung ganz zu schweigen. Dann auch noch mit Jonas. Allein der Gedanke war völlig absurd. Der Junge war wie ein Sohn für ihn und er konnte sich nicht erinnern, dass er schon jemals eine Freundin gehabt hätte.
Genervt von der blühenden Fantasie seiner Frau, schüttelte er den Kopf und ging nach draußen, um das Auto aus der Garage zu holen. Vor der Haustür angekommen, warf er einen Blick in den düsteren Himmel. Es schneite immer noch, aber die Sicht würde ausreichend sein. Dennoch müssten sie bald aufbrechen, um den Anfang des Films nicht zu verpassen.
Als Jillian Tims Zimmer betrat, war dieser gerade damit beschäftigt, wie verrückt auf den Tasten seines Computers herum zu hämmern. „Brauchst du einen Exorzisten?“
Erschrocken drehte er sich zu seiner Schwester um und lachte dann. „Wann wirst du endlich lernen anzuklopfen?“
„Wieso? Hast du ein Rendezvous mit deinem Computer?“, entgegnete Jillian frech und schloss die Tür hinter sich.
„Nein, aber als ich damals eins mit Franziska Kler hatte, hast du auch nicht angeklopft.“ Jillian zog sich einen Stuhl zu ihm heran und kicherte bei der Erinnerung daran. „Glaub mir, auf diese Szene hätte auch ich gern verzichtet.“
Sie schaute auf den flackernden Bildschirm seines Computers und dann auf seine Hände, die flink über die Tasten der Tastatur schwebten. „Mit wem schreibst du dir da?“
Er gönnte sich eine kleine Pause und strich sich das Haar aus dem Gesicht. „Das ist ein Typ aus New York, er heißt Tom. Ich hab ihm echt ne Menge zu verdanken. Er ist in meinem Alter und hat früher auch in Deutschland gelebt.“
„Wieso ist er nach New York gegangen?“, fragte Jillian interessiert.
„Aus den gleichen Gründen wie ich, schätze ich. Rastlosigkeit und zu viel Ehrgeiz. Er wollte immer schon Journalist werden.“ Jillian lächelte. „Er hat dort erst einen Au-pair-Job gemacht, um sich etwas Geld zu verdienen und die Gegend zu erkunden. Ein Jahr später hat er einen Job bei der New York Times bekommen. Da staunst du, was?“
Und ob sie staunte. „Die New York Times? Diese weltberühmte Zeitung?“ Tim nickte und Jillian legte ihre Hand auf seinen Arm. „Was willst du in New York?“
Er lächelte. Er wusste, dass die Frage nicht böse gemeint war, sondern reines Interesse widerspiegelt – Jillian glaubte an ihn, das hatte sie schon immer getan. „Ich weiß es nicht. Erschrocken?“
Stumm schüttelte sie den Kopf und hörte ihrem Bruder weiter zu. Er stand auf und zog die Vorhänge des Fensters zu, dann schob er die Hände in die Hosentaschen und erzählte weiter: „Ich will alles vom Leben. Ich möchte nicht, dass ich später denke: Was hab ich da nur verpasst? Ich hab diesen Traum schon so lange, New York ist mein Traum. Ich lese Bücher, schaue Filme darüber, aber so richtig habe ich diese Stadt nie verstanden. Sie ist einfach magisch und ich stelle mir jeden Morgen, wenn ich aufwache vor, wie es wohl sein würde, dort zu leben.“ Er drehte sich wieder zu seiner Schwester um und sah sie an. Ihre Augen leuchteten, so sehr freute sie sich für ihn. „Ich möchte mit den gestressten Menschen dort morgens zur Arbeit hetzen, im Central Park spazieren gehen, jeden Freitag einen anderen Nachtclub besuchen. Ich will in diese andere Welt eintauchen, englisch sprechen, neue Leute kennen lernen und erfahren, wie sie ihr Leben leben. Sind Menschen aus anderen Ländern wirklich anders? Wie benehmen sie sich, wenn sie traurig oder wütend oder glücklich sind? Ich will Aufstiegschancen haben und trotzdem das Gefühl behalten, immer hierher zurückkommen zu können. Ich will...“ Er suchte nach den passenden Worten. „... nie vergessen sein.“
Jillian war gerührt. Ihr Bruder hatte nie den nötigen Ehrgeiz gehabt, um in der Schule besonders gut abschneiden zu können, aber diesen Traum hatte er schon seit er denken konnte. Sogar über seinem Bett hing ein riesiges Plakat, auf dem die Freiheitsstatue abgebildet war. Sie wünschte sich so sehr für ihn, dass er in New York das Leben fand, das er hier niemals hatte finden können.
„Ich sehe dich genau vor mir, wie du dort stehst.“ Sie lächelte warm. „Am Flughafen von New York City. Es schneit heftig und der Wind ist kalt. Dein Gepäck ist sperrig und du bekommst nicht gleich ein Taxi, aber das ist dir egal. Dein Kopf ist voller Erinnerungen und Träume.“
Tim war sprachlos. „Komm her.“, sagte er nur und breitete seine Hände aus. Jillian hatte ein unglaubliches Gespür für die Gefühle der Menschen.
Sie umarmte ihn fest und holte gedanklich noch einmal alle vergangenen Jahre zurück. Er hatte immer Zeit für sie gefunden. Als sie sich von ihm löste, sah sie ihm ins Gesicht und fragte dann: „Also hast du jetzt endlich eine Bleibe gefunden?“
Er nickte. „Ja. Ich werde vorerst mit Tom und noch einem Typen zusammen in einer WG wohnen. In der Gegend soll es viele Nachtclubs geben, in denen sie Aushilfen suchen. Vielleicht jobbe ich erst mal etwas, bevor ich mich für eine Richtung entscheide und sollte doch alles schief gehen...“
„Dann kannst du jeder Zeit hierher zurückkommen.“, beendete Jillian den Satz für ihn.
Tim lächelte seine Schwester dankbar an. Es gab nicht viele Mädchen die waren wie sie – so klug und einfühlsam und unendlich geduldig. „Was machst du eigentlich heute Abend? Ich hab gehört, wie Pa ein Klagelied über unseren verlorenen Familienabend angestimmt hat.“
„Ehrlich?“ Jillian bekam ein schlechtes Gewissen. „Ich wollte eigentlich rüber zu Jonas... vielleicht sollte ich doch absagen.“
„Jetzt mach mal keinen Quatsch!“ Tim winkte ab. „Du weißt doch wie unser Vater ist. Der sähe dich am liebsten noch mit Puppen spielen.“
Jillian kicherte. „Ja, ich weiß. Und was machst du?“
„Ich muss noch eine Menge Dinge für meine Zeit in New York erledigen.“
Jillian schüttelte ungläubig mit dem Kopf. „Ich kann immer noch nicht fassen, dass du wirklich bald dort sein wirst.“
Tim legte einen Arm um seine Schwester. „Es ist doch erst mal nur für ein halbes Jahr. Ich schreibe dir jeden Tag Mails, versprochen.“
Jillian stemmte die Hände in die Hüfte, wie es auch ihre Mutter so gerne tat. Sie wusste genau, wie faul und vergesslich ihr Bruder sein konnte.
„Na gut.“ Er ergab sich. „Jeden zweiten Tag.“
Sie lachten. „Okay, ich nehme dich beim Wort.“
In dem Moment klopfte es an der Tür. „Wenn du nicht schon in meinem Zimmer wärst, wüsste ich trotzdem, dass du das nicht sein kannst, da du ja leider nicht weißt, wie man anklopft.“, stellte Tim belustigt fest und rief dann: „Kommt rein!“
Katrin und René öffneten die Tür. Es war keine Überraschung, die Kinder zusammen in Tims Zimmer zu sehen. Früher war Jillian nur dort gewesen, sodass sie anfangs ernsthaft darüber nachgedacht hatten, ihr Zimmer in einen Fitnessraum zu verwandeln. Doch als sie Jonas kennen gelernt hatte, hatte Tim seine Privatsphäre zurückgewonnen und Jillian etwas Gespür für Ruhe im Leben.
„Wir wollten nur tschüß sagen. Wegen dem Schneegestöber werden wir wohl erst in einer Stunde im warmen Kino sitzen. Die Straßen sind sehr glatt.“, sagte Katrin Seifert und umarmte ihre beiden Kinder zum Abschied.
Tim warf noch einen Blick nach draußen, es hatte wieder angefangen, heftiger zu schneien. „Fahrt vorsichtig!“
„Wir rufen an, wenn wir angekommen sind.“, versprach René seinem Sohn und fügte an seine Tochter gewandt hinzu: „Mach dir einen schönen Abend und grüße Jonas von uns.“
„Mach ich.“, strahlte Jillian, bevor ihre Eltern die Tür wieder hinter sich schlossen.
„Das weht ganz schön da draußen.“ Tim runzelte die Stirn.
Jillian ging zum Fenster, schob die Gardine bei Seite und spähte in die Dunkelheit. „Alles glitzert.“ Sie lächelte warm, als sie das Licht in Jonas’ Zimmer flackern sah.
„Geh endlich rüber. Du bist bestimmt sowieso schon wieder viel zu spät dran.“, sagte Tim, als er ihrem Blick gefolgt war.
Er hat Recht, stellte sie nach einem raschen Blick auf ihre Armbanduhr fest. „Na gut, bis morgen.“ Sie eilte aus dem Zimmer.
„Viel Spaß!“, rief Tim ihr noch hinterher, aber da hatte sie auch schon die Haustür hinter sich zugeschlagen.
Draußen wehte Jillian ein kalter Windhauch entgegen, sie fröstelte. Der Schnee ging ihr fast bis zu den Knien und sie musste aufpassen, dass sie nicht fiel. Als sie das Hoftor hinter sich schloss, warf sie einen Blick zurück zum Haus. In meinem Zimmer brennt noch Licht, stellte sie genervt fest, kümmerte sich aber nicht weiter darum. Das Haus ragte gespenstig vor ihr auf und die zwei beleuchteten Fenster von ihrem und Tims Zimmer starrten wie Augen auf das Haus der Hills hinüber. Ein kalter Schauer fuhr ihr über den Rücken und sie setzte ihren Weg schnell fort.
„Huch!“ Erschrocken seufzte sie auf. Beinah hätte sie auf dem Gehweg gelegen. Mit wackeligen Beinen hielt sie sich am Zaun fest und sah die Straße im Licht eines vorbeifahrenden Wagens glänzen. Vorsichtig setzte sie ihren Weg fort und war erleichtert, als sie endlich sicher und fest vor Jonas’ Haustür stand.
Als Jonas das Klingeln hörte, stürmte er sofort aus seinem Zimmer und die Treppe hinunter. Er öffnete Jillian die Tür, wobei ihm ein eisiger Windhauch entgegenschlug.
Sie kam sofort ins Haus und das erste, was sie sagte war: „Mach die Tür zu, verdammt!“
Grinsend folgte er ihrer Anweisung und besah sie sich dann genauer. Ihre Nase war knallrot und auf ihrem Haar hatte sich schon eine kleine Schneeschicht gebildet, die nun langsam zu tauen begann.
„Was gibt es denn da zu grinsen?“ Noch immer fröstelnd zog sie ihre Schuhe und Jacke aus, bevor Jonas und sie die Treppe hoch gingen.
„Du siehst aus wie Väterchen Frost.“, lachte er nun und Jillian stimmte mit ein.
Jillian betrat Jonas’ Zimmer zuerst. Es war mal wieder alles genauso wie sie es sich vorgestellt hatte, wie es zu einem perfekten DVD-Abend einfach sein musste. Jonas hatte ihnen beiden eine köstliche Lasagne gemacht. Sie hatten die Vereinbarung getroffen, dass Jillian wenigstens an diesem einen Abend im Monat nicht kochen sollte. Auf seinem Bett lag eine gemütliche schwarze Decke und viele Kissen zum Anlehnen. Auf dem Nachttisch thronte eine große Flasche Coca Cola und eine Tüte Kartoffelchips. Im Fenster stand Jonas’ heißgeliebte Lavalampe, die einen unwirklichen, grünen Schein in sein Zimmer warf.
„Du bist einzigartig.“, sagte Jillian erstaunt und kuschelte sich sofort auf Jonas’ Bett.
Lächelnd und froh darüber, dass es ihr gefiel, setzte er sich neben sie. Sie nahmen ihre Lasagnen auf den Schoß und aßen mit großem Appetit.
„Hat dein Vater dich also doch gehen lassen?“, fragte Jonas Jillian mit vollem Mund.
„Gerade so. Tim meint gehört zu haben, wie er meiner Mutter mal wieder die Ohren vollgejammert haben soll.“
Jonas bekam ein schlechtes Gewissen. „Vielleicht hättest du ja doch lieber mit ihnen ins Kino fahren sollen.“
Jillian blieb der Bissen im Hals stecken und Jonas klopfte ihr auf den Rücken. „Du bringst mich noch um.“, brachte sie dann lachend hervor. „Ich hab so schon ein riesiges schlechtes Gewissen und dann sagst du auch noch so etwas. Ich dachte, du freust dich auf heute.“
„Tu ich ja auch. Aber... ich will nur nicht, dass es bei euch Streit gibt.“
„Keine Sorge, so schnell geht das bei uns nicht.“, antwortete Jillian ohne nachzudenken, merkte aber sofort, was sie unabsichtlich ausgesprochen hatte und sah Jonas entschuldigend an. „Tut mir Leid.“
„Ach, mir geht es gut.“ Er winkte ab.
„Hast du mal versucht, mit deiner Mutter zu reden?“ Jillian wandte sich dem Thema vorsichtig zu, zu Recht - Jonas blockte sofort ab: „Was ich zu sagen hatte, habe ich gesagt. Sie hat mich in meinem Zimmer stehen gelassen und das Thema für den Rest des Tages nicht mehr angesprochen. Am nächsten Tag war alles wieder wie immer.“
Jillian stellte den leeren Teller auf das Tablett zurück und sah zum Fenster raus. „Es schneit immer noch.“
Jonas wusste, dass sie ihn nur von dem Streit mit seiner Mutter ablenken wollte. Ein kläglicher Versuch, wie er fand. „Jillian, du musst nicht immer aufpassen, was du sagst, nur weil du Angst hast, dass ich es dann sofort auf meine Familie beziehen könnte.“
Seufzend wandte sie sich wieder ihrem besten Freund zu. „Es tut mir Leid, aber ich weiß manchmal einfach nicht, wie ich mich verhalten soll. Ich kenne so etwas nicht und ich finde, das ist auch nicht normal. Ich möchte dich nicht jeden Tag so unglücklich sehen und ich will auch nicht, dass du dein Leben mit lernen vergeudest, nur weil deine Eltern das von dir verlangen.“
„Wir schreiben dieses Jahr unser Abitur, Jill.“, machte Jonas noch einmal darauf aufmerksam.
„Es ist Februar!“, stöhnte Jillian genervt.
„Ach was!“, erwiderte Jonas sarkastisch.
Jillian verwuselte ihm freundschaftlich das Haar und sagte dann: „Lass uns nicht mehr streiten. Ich wollte mich nicht in deine Angelegenheiten einmischen, ich mach mir nur Sorgen um dich und deine Eltern.“
Jonas seufzte. „Ich weiß. Lass uns endlich mit den Filmen beginnen.“
Misstrauisch sah Jillian ihn an. „Wollten wir nicht noch etwas für den Mathetest nächste Woche tun?“
„Das hat auch noch bis morgen Zeit.“, antwortete Jonas zu ihrem großen Überraschen und stand auf. Er hielt zwei Filme hoch und sah sie fragend an. „Welchen zuerst?“
Jillian sollte es Recht sein, dass sie sich an diesem stürmischen Samstagabend nicht mehr mit Matheaufgaben herumquälen musste und zeigte spontan auf den Film, den Jonas in der rechten Hand hielt.
„Sleepy Hollow.“
„Kennst du den Film?“, wollte Jillian wissen.
„Noch nicht.“, entgegnete Jonas und setzte sich wieder neben sie.
Während es sich die beiden in Jonas’ warmen Zimmer gemütlich machten, tobte draußen weiter der Sturm. Die Äste des großen Kirschbaums in dem Garten von Jillians Eltern schlugen bedrohlich auf den Zaun ein, der das Grundstück der Seiferts von dem der Hills trennte. Schneeflocken wirbelten wie kleine Feen durch die Luft und Eiszapfen glitzerten im fahlen Licht des Mondes. Vorbeifahrende Autos bewegten sich nur im Schritttempo über die glänzende glatte Straße. Alle Katzen aus der Nachbarschaft hatten sich in warme Verstecken verzogen oder sich einen Platz im Haus ihrer Besitzer erbettelt.
Tim stand in seinem Zimmer vor dem Fenster und starrte in die Dunkelheit hinaus. Es braute sich noch etwas zusammen, das spürte er. Das mulmige Gefühl in seinem Magen und die Gänsehaut ließen sich einfach nicht vertreiben. Er war froh, seine Schwester sicher bei Jonas zu wissen.
Seufzend wandte er sich wieder seiner Bewerbung zu und beschloss, dass es für heute genug war mit der Anwendung längst vergessener Englischkenntnisse. Er fuhr den Computer herunter und ging aus seinem Zimmer, um sich noch etwas zu Essen zu machen. Da bemerkte er, dass durch die Tür zu Jillians Zimmer ein kleiner Lichtschein fiel.
Anscheinend hatte seine Schwester in ihrer Hektik einfach mal wieder vergessen, das Licht auszuschalten. Er ging zu ihrem Fenster, um die Vorhänge zuzuziehen, da sah er das schwache grüne Licht, das aus Jonas’ Zimmer bis zu ihm herüber drang. Sein Fenster schwebte wie ein leuchtendes Viereck im Himmel. Es war das einzige, was man in dem Schneetreiben draußen erkennen konnte. Lächelnd zog Tim endlich die Vorhänge zu, machte das Licht aus und ging hinunter in die Küche, da klingelte plötzlich das Telefon.
Er nahm den Hörer sofort ab und sein Herzschlag beruhigte sich, als er endlich die warme Stimme seiner Mutter vernahm. „Hallo, Schatz. Ich bin es. Ich wollte nur sagen, dass wir gut angekommen sind. Der Film geht gleich los. Ist Jillian bei Jonas?“
Tim schloss beruhigt die Augen und atmete tief durch. Der Druck der Angst in seiner Brust, löste sich endlich auf. „Ja, sie sind zusammen in seinem Zimmer und schauen sich DVDs an. Viel Spaß bei eurem Film.“
„Danke. Mach du es dir auch gemütlich.“
„Ich geh dann sicher gleich ins Bett, ich bin völlig k.o. Wir sehen uns dann morgen.“
„Ruh dich aus, du hast es dir verdient! Bis morgen.“
Das gleichmäßige Tuten des Telefons dröhnte in sein Ohr. Sein Herzflattern war verschwunden und er konnte sich nun auf ein gemütliches Abendessen freuen.