Entgeistert sah ich Taylor nach wie er energisch durch den Flur Richtung Ausgang ging und ohne einen Blick zurück den Trakt verließ. Die Tür stand weit offen, so als warte sie darauf, dass mir endlich wieder einfiel wie ich meine Beine bewegte.
Meine Knie zitterten immer noch und drohten unter mir einzuknicken. Mein Herz schlug wie verrückt und pumpte Adrenalin durch meinen Körper. In meinem Bauch kribbelte und flatterte es als hätte ich tausende von Schmetterlinge darin. Schwer atmend fuhr ich mit meinen schweißnassen Händen über meine glühenden Wangen.
Langsam und mit immer noch bebenden Beinen stemmte ich mich von der Wand und bewegte mich zaghaft zur offenstehenden Tür. Während ich mich mit Beinen aus Wackelpudding zum Ausgang kämpfte, kam mir immer wieder derselbe Gedanke: Warum? Warum hatte Taylor mich geküsst?
Ich hatte die letzten Jahre immer wieder das Gefühl gehabt das ich ihm gleichgültig wäre. Darum vermutete ich, dass er mich immer nur als kleines Mädchen sah das nur aufgrund seiner Herkunft es so weit gebracht hatte. Als Tochter des höchsten Erzengels war ich es gewohnt ausgeschlossen zu werden. Die meisten dachten ich würde von den Mentoren und Professoren bevorzugt als Tochter eines Erzengels. Allerdings hatte Taylor auch nie wirklich dazu gehört. Wir waren beide Sonderlinge mit wenig Freunden die sich vollends auf die Akademie konzentrierten. Taylor war der Sohn eines berühmten Engelskriegers der bei einem Überfall der Rebellen meinem Vater das Leben gerettet hatte und dabei selbst gestorben ist. Damals war Taylor gerade mal auf der Welt. Wenn man es genau nahm, waren ich und Taylor uns sehr ähnlich: beide Halbwaisen, beide stammen wir von einem großen Krieger ab und die Menschen erwarteten viel von uns. Und doch lagen Welten zwischen uns.
Ich ließ die Eingangstür zu Trakt B hinter mir ins Schloss fallen, betrat die Halle zum Schlaftrakt der Akademie und machte mich auf den Weg zu den Treppen. Meine beste Freundin Haven wartete bestimmt schon auf unserem gemeinsamen Zimmer auf mich. Links und rechts von mir führten zwei Treppen hoch in den ersten Stock. Die Linke zu den Schlafräumen der Mädchen, die Rechte zu den Jungs. Während ich die linke Treppe hoch in den dritten Stock ging grübelte ich darüber nach ob ich meiner Freundin von dem Kuss erzählen sollte oder es lieber bleiben ließ.
Haven ist genau wie ich ein Halbengel. Sie ist die einzige Tochter des Erzengels Gabriel, des Herren der Wächter. Genau wie ich musste sie sich mit Vorwürfen herumschlagen und doch war sie die beste Wächterin unseres Jahrgangs. Dabei war die Ausbildung zur Wächterin um einiges Komplizierter als meine zur Kriegerin: Die Herausragende Fähigkeit eines Wächters sollte Selbstlosigkeit und Edelmut sein. Zwei Eigenschaften die selbst unter Engeln schwer zu finden sind.
Inzwischen stand ich vor unserer Zimmertür. Während ich in meinen Jeans nach meinem Zimmerschlüssel suchte, dachte ich daran was ich Haven sagen sollte. Von dem Kuss wollte ich ihr nichts erzählen. Sie konnte Taylor nicht ausstehen. Außerdem wusste ich nicht was er bedeutete. Mochte er mich? Oder war dieser Kuss nur Spaß für ihn gewesen? Rache für den verlorenen Kampf? Nichts machte wirklich Sinn. Ich beschloss es ihr erst zu erzählen sobald ich selbst wusste was es zu bedeuten hatte. Bedrückt schloss ich die Tür auf und stapfte in das Zimmer in dem, wie ich mir schon gedacht hatte, Haven im Schneidersitz auf ihrem Bett auf mich wartete. Vor ihr ein ganzer Berg Bücher.
„Da bist du ja endlich,“ empfing mich Haven und sah dabei nicht mal von ihrem dicken Schinken auf.
Erschöpft ließ ich mich auf meinem Bett fallen. „Wie du siehst, äh, hörst.“
„So wie du die Treppen hoch stapfst, würde man meinen es kommt eine Horde Nashörner.“ spöttelte sie. „Wie lief der Kampf? Hast du Taylor in den Arsch getreten?“
Genervt setzte ich mich auf und streifte meine Stiefel von den Füßen. Ich kannte Haven's Abneigung gegen Taylor: Sie hasste ihn und lies kein gutes Blatt an ihm. In ihren Augen war er nichts Anderes als ein Arrogantes Kleines Arschloch. Ich hatte bis jetzt noch nie verstanden woher Haven's Hass auf Taylor kam. Um ehrlich zu sein hatte ich sie noch nie danach gefragt, weil es mich schlichtweg noch nie interessierte.
Aber heute war das anders: Heute hatte Taylor mich geküsst und wenn ich ehrlich war, war er mir seitdem nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Der Gedanke an ihn ließ mein Herz schneller schlagen, es kribbelte in meinem Bauch und auf meinen Lippen. Ich schüttelte meinen Kopf um den Gedanken an ihn zu verscheuchen. Vor Haven an Taylor zu denken war keine gute Idee. Ich räusperte mich lautstark um ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Wie erwartet sah sie nicht von ihrer Lektüre auf.
„Haven? Darf ich dich mal was fragen?“ begann ich meine Frage vorsichtig.
„Hm?“ kam es von ihr.
Genervt rollte ich mit den Augen. Lernen war für sie das wichtigste überhaupt. Nur Bestnoten zählten bei ihr.
„Was hast du gegen Taylor?“ fiel ich mit der Tür ins Haus. Wenn schon, denn schon! dachte ich mir. Was nützte es schon um den heißen Brei herum zu reden. Haven hob langsam den Kopf von ihren Büchern und sah mich mit gerunzelter Stirn an.
„Warum fragst du?“
„Warum antwortest du mir nicht auf meine Frage?“
Haven seufzte und klappte den dicken Wälzer der „Geschichte der Engelsheere“ in dem sie gerade gelesen hatte zu und streckte genüsslich ihre Beine.
„Die Frage ist lächerlich, Raven, und das weißt du. Du weißt nämlich genau warum: Er ist ein arrogantes, selbstverliebtes Arschloch. Ganz einfach,“ antwortete sie hochmütig und klang dabei wie unsere Lehrerin für Ethik.
Ich erhob mich langsam von meinem Bett und ging in die Mitte des Raumes.
„Wie kommst du darauf, dass er das sei? Du hast doch kaum mit ihm zu tun? Unsere Kurse sind vollkommen verschieden.“ hackte ich nach.
„Oh bitte, Raven. Bist du blind? So wie er durch die Akademie stolziert, sieht man doch gleich das er sich für den aller größten hält,“ entgegnete Haven entnervt während sie die Bücher auf ihrem Bett zusammensuchte. Sie lügt. Das merkte ich sofort.
„Das heißt du urteilst über einen Menschen obwohl du ihn gar nicht kennst. Du siehst etwas was dir nicht gefällt und steckst ihn daraufhin sofort in eine Schublade. Dort drin kann er dann versauern, den ändern könnte sich nach dir nie ein Mensch. Du bist Perfekt, Fehlerlos und stehst so was von über allem. Habe ich recht?“ zischte ich säuerlich. Innerlich kochte ich vor Wut. Ich hatte immer gedacht Haven sei nicht so kleinlich und verbissen wie die anderen. Aber ich hatte mich geirrt.
„Was redest du da, Raven? Das würde ich nie tun.“ verteidigte sich Haven während sie ihren Bücherberg auf ihren Schreibtisch stellte. „Du hast da was falsch verstanden, Raven.“
Ich schüttelte leicht den Kopf. „Nein, Haven. Ich habe alles richtig Verstanden. Aber ich gebe dir einen Tipp: Ändere deine Ansichten ansonsten waren wir die längste Zeit Freunde.“ beendete ich das Gespräch und ging wieder zu meinem Bett auf der anderen Seite des Zimmers. Stinkwütend ließ ich mich angezogen auf das Bett fallen und drehte mich zur Wand.
Ich spürte Haven's Blick auf mir, bis ich hörte wie sie sich ebenfalls ins Bett legte und das Licht ausmachte.
Erschöpft vor Wut und Ärger schlief ich ein und träumte.
In diesem Traum stand ich mitten in einem Wald. Rings um mir waren hohe Bäume. Unter meinen Stiefeln federte das Moos des Waldbodens und dämpfte jedes Geräusch. Pilze und Farne sprossen in der feuchten Erde. Die Stämme der Bäume waren mit Moos bedeckt. Überall wo ich hinsah leuchtete es Grün. Die Sonne stand hoch am Himmel und leuchtete durch das Blätterdach. In meinen Händen hielt ich meinen Bogen. Auf meinem Rücken spürte ich den Köcher und das Gewicht der Pfeile. Wachsam lauschte ich in den Wald. Nur die Melodie des Waldes drang an mein Ohr: Zwitschernde Vögel und das Plätschern eines Baches. Ein Eichhörnchen sprang fast lautlos von Baum zu Baum und ein Specht klopfte ein Loch in einen Baumstamm.
Müde ließ ich meinen Bogen sinken und sah mich um. Nichts als Sträucher, Bäume und Farne. Keine Spur von... Ja von was eigentlich? Was suchte ich?
Nachdenklich kaute ich auf meiner Unterlippe. Was machte es für einen Sinn etwas zu suchen, wenn ich nicht einmal wusste nach was?
Urplötzlich schlang sich ein Arm um meine Taille und hielt mich fest. Mein Herz schlug augenblicklich schneller. Allerdings nicht vor Angst. Ich freute mich. Meine Mundwinkel zogen sich hoch zu einem Lächeln. Ich wusste anscheinend wer dies war.
„Hab ich dich, kleiner Rabe.“ drang Taylor's raue leise Stimme an mein Ohr. Hitze stieg in mir hoch.
„Sieht so aus. Und was machst du jetzt mit mir?“ neckte ich ihn und lehnte mich an seinen Oberkörper. Ich spürte wie sich seine Brust hob und senkte als er leise lachte. Mit einem Ruck drehte er mich einfach um und ich sah ihn grinsend ins Gesicht. Seine Augen glänzten belustigt.
„Dass was ich am liebsten mit dir tue.“ schnurrte er und schon lagen seine Lippen auf meinem Hals und arbeitete sich bis zu meinem Ohr hoch. Ein sanfter Schauer lief mir über den Rücken und ein stöhnen verließ meinen Mund. Hitze durchfuhr meinen Körper als seine weichen Lippen schließlich auf meinen trafen und ich schreckte schweißgebadet auf.
Ich fühlte mich als würde ich in Flammen stehen. Zitternd saß ich ihn meinem völlig zerwühlten Bett. Meine Kleider klebten an meiner schweißnassen Haut, mein Herz schlug wie verrückt und mein Atem ging stoßweise. Taylor schien mich heute zu verfolgen.
Der Wecker neben meinem Bett zeigte drei Uhr morgens an. Mit einem Blick auf die sorglos schlafende Haven, stieg ich leise und vorsichtig aus meinem Bett dabei bedacht sie nicht zu wecken. Das hasste Haven wie die Pest. Schnell schnappte ich mir mein Schlafshirt mit den Shorts und tappte Barfuß in unser kleines Bad.
Nachdem ich die Badezimmertür leise hinter mir verschlossen hatte schälte ich mich seufzend aus meinen schweißnassen Klamotten und stieg in die Duschkabine.
Genüsslich schloss ich meine Augen als das angenehm warme Wasser der Dusche meine Nackte Haut traf. Sanft trommelte das Wasser auf meine verspannten Muskeln und ich entspannte mich.
Eine Zeitlang stand ich einfach nur da und genoss die Wärme und die Massage des Wasserstrahles. Meine Gedanken drifteten schon bald ab und Bildfetzen meines Traumes erschienen vor mir: Taylor's starke Arme die mich umschlingen. Sein Körper an den ich mich schmiege. Sanfte Lippen die über meine Haut streifen. Ein Kuss der mir den Atem raubt. Mein Herz schlug augenblicklich schneller, Hitze schoss durch meinen Körper und meine Atmung beschleunigte sich.
Erschrocken riss ich die Augen auf und stellte das Wasser ab. Keuchend stand ich unter der Dusche. Dampf stieg hoch und doch zitterte ich am ganzen Körper. Was war nur los mit mir? Morgen war meine große Prüfung und alles an was ich denken konnte war an Taylor. So konnte es nicht weitergehen. War der Kuss von Taylor Absicht gewesen? War er wirklich so wie Haven sagte?
Genervt öffnete ich die Duschkabine und wickelte ein Handtuch um meinen Körper und ging zum Waschbecken. Schnell wischte ich mit meiner Hand den Wasserdampf vom Spiegel und betrachtete mich. Meine Bernsteinfarbenen Augen glühten mich aus dem Spiegel an und meine Pechschwarzen schulterlangen Locken hingen nass herunter. Mein ovales Gesicht war nichts Außergewöhnliches, doch hatte ich wunderschöne volle Lippen.
Mit einem Seufzer ließ ich das Handtuch sinken und trocknete meine Haut. Vom Jahrelangen Training hatte ich Muskeln und doch hatte ich Kurven. War es wirklich so abwegig das Taylor mich hübsch finden könnte?
Nachdenklich zog ich meine Schlafklamotten an und trat leise aus dem Bad raus.
Haven schnarchte immer noch vor sich hin. Scheinbar hat sie nichts bemerkt. Geräuschlos ging ich zu meinem Bett. Als ich meine Decke anhob hörte ich ein knistern, wie von Papier. Erstaunt tastete ich im Dunkeln über die Bettdecke, als ich ein Briefkuvert erfühlte.
Neugierig hob ich den Brief auf und ging damit bis zu meinen Schreibtisch, auf den das Licht des Vollmondes durch das Fenster schien.
Entgeistert betrachtete ich den Brief im Mondlicht. Für Raven, stand in geschnörkelter Handschrift groß auf dem Kuvert. Eine Handschrift die mir seltsam vertraut vorkam. Von wem könnte der Brief sein? Und wie kam er in mein Bett?