Ein Kampf tobte im Körper des Grafen, eine Schlacht, die niemand außer ihm wahrnehmen konnte. Er wusste nicht, dass sich die Dienerschaft bereits das Maul darüber zerriss, was geschehen würde, wenn ihr Herr sterben würde. Und auch nicht, dass Sebastian mit aller Macht zu verhindern versuchte, dass das neugierige Gesinde ihn, Viktor, zu Gesicht bekam.
Alles was er wusste war, dass es schlecht stand. Alles, was er fühlen konnte, waren Schmerzen, wie sie nur aus der Hölle kommen konnten. Ein Bohren und Reißen in seinen Organen erfüllte ihn mit dem Wunsch, so laut zu schreien, bis ihm die Stimme versagen mochte. Das Glühen in seinen Knochen riss an seinem Verstand, der trotz der tiefen Ohnmacht, in die er gefallen war, aktiv und hellwach war. Er wollte um Hilfe rufen, wollte Sebastian um ein weiteres Zaubermittel bitten, damit dieses unsägliche Leid aufhören mochte, doch sein Körper rührte sich nicht. Weder ein Fingerzucken noch das Abgeben eines einzelnen Tons war ihm möglich. Alles was ihm blieb, war diese Stille, erfüllt von unheilvollem rotem Licht und höllischen Schmerzen.
Er würde sterben. Dieser Gedanke war so laut und klar in Viktors Kopf, dass es ihm nicht einmal mehr Angst machte. Konnte der Tod schlimmer sein als diese Folter? Der Adlige begrüßte es sogar, dass es nun bald zu Ende gehen sollte, hätte es am liebsten heute statt morgen. Er bedauerte, dass er seinen treuen Sebastian allein lassen würde, der ihm nie sein Geheimnis hatte verraten können, und er bedauerte auch einen Augenblick all die Menschen, die von ihm, Viktor, abhängig waren. Und dennoch erwartete er den Sensenmann mit einer Wärme, wie sie nur jemand verstehen konnte, der Leid zu erdulden hatte.
Die Erschöpfung ließ ihn schließlich einschlafen.
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Sebastian wachte am Bett seines Herrn. Dieser hatte seit der Nacht, in der er krank wurde, das Bewusstsein nicht wiedererlangt. Er dämmerte zwischen einer tiefen Ohnmacht und einem zitternden Halbschlaf, bei dem er zwar wach, aber nicht ansprechbar war. Als wäre er gefangen in einem Kokon, der ihn taub und blind machte.
Alles, was der Diener tun konnte, war seinem Herrn den Schweiß abwaschen, seine Lippen feucht halten und dafür sorgen, dass es niemals zu kalt in dem Gemach werden würde. Graf Viktor hatte Fieber, doch so, wie er an manchen Tagen glühte, so kalt war er am nächsten.
Sebastian mochte das Gesinde fürs Erste davon überzeugt haben, dass ihr Herr nicht lebensbedrohlich krank war, doch allmählich verließ auch den Diener der Glaube, dass es so war. Er hatte bereits einen Boten nach Bistritz geschickt, um den jüdischen Medicus kommen zu lassen, dem die Grafenfamilie stets die Gesundheit anvertraut hatte. Doch der Mann zweifelte, dass dieser mehr würde tun können als Sebastian mit seinem Kräuterwissen. Auch wenn er wusste, dass dieser Arzt im Orient ausgebildet worden war, wo das medizinische Wissen weiter ging als das der Christenheit, glaubte er nicht daran, dass es wirklich etwas bringen würde. Er hatte den Juden nur rufen lassen, um jede Möglichkeit ausgeschöpft zu haben.
»Ihr müsst es allein schaffen, Herr ... ich habe nichts mehr, das ich geben könnte, um Euch zu retten«, murmelte der Diener und legte ein frisches kaltes Tuch auf des Grafen Stirn. Dieser antwortete auf Sebastians Worte nur mit einem gequälten Stöhnen, das diesem im Herzen weh tat.
»Euer Vater hat Euch mir anvertraut. Wenn Ihr jetzt sterbt, wie kann ich meine Aufgabe erfüllen? Reißt Euch gefälligst zusammen, hört Ihr?«
Der Graf krampfte einmal heftig und sank dann mit einem Seufzen wieder in sich zusammen.
»Wenn Ihr sterbt, seid Euch gewiss, dass ich diesen Hurensohn von Engländer auf links drehe, und wenn es das Letzte ist, was ich tue.«
Müde setzte sich der Diener wieder auf den Stuhl neben dem Bett und versuchte, sich auf ein Buch zu konzentrieren, was ihm nicht gelingen wollte. Ihm war nicht nach Liebesgeschichten, wo doch sein Kopf ganz woanders war. Seufzend legte er die Lektüre auf den Nachtschrank zurück und starrte einfach nur Löcher in die Luft.
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Tief in der Nacht erwachte der Leibdiener so plötzlich, dass er von dem Stuhl fiel, auf dem er gesessen und geschlafen hatte. Es war stockfinster, da sowohl die Kerzen als auch der Kamin erloschen waren. Doch hinter den dichten Vorhängen war der Schein eines silbernen Mondes zu erkennen. Sebastian zog den Vorhang zur Seite, um wenigstens etwas Licht in das Gemach zu bekommen, und versuchte dann, die Ursache für sein plötzliches Erwachen herauszufinden. Ihm wurde kalt, als er sah, dass das Bett leer war.
»Mein Herr?«, flüsterte er fast, mit einem unerklärlichen Gefühl der Angst in seiner Brust. Etwas sehr merkwürdiges ging hier vor und der Diener konnte es sich nicht erklären, wie sein Herr, der vor Stunden noch dem Tode nahe war, auf einmal von seinem Lager verschwunden sein konnte.
Sebastian entzündete eine der Öllampen auf dem Nachttisch und bemerkte durch das zunehmende Licht, dass auch die Tür des Raumes einen Spalt offen stand.
Hatte sich das Fieber so weit gesenkt, dass sein Herr in der Lage gewesen war, aufzustehen? Warum hatte er nicht ihn, Sebastian, geweckt? Der hätte seinem Herrn all das gebracht, wonach er verlangt hätte.
Mit einem mulmigem Gefühl verließ der Diener das leere Zimmer und trat in den Korridor, der zu der Treppe führte. Seine Nackenhaare stellten sich hoch und er spürte die winterliche Kälte in den Gängen. Das plötzliche Hochschrecken aus dem Schlaf hatte sich in seinen Knochen noch nicht ganz verflüchtigt und ließ ihn nun erschaudern.
Langsam stieg er die Treppe hinunter und betrat den anderen Korridor, aus dem er ein Geräusch zu hören glaubte. Der nächtliche Wind, der aufgefrischt zu haben schien, rüttelte an den Scheiben der Fenster, als der Mann um eine Ecke bog und sich ihm ein sonderbarer Anblick bot, einer, der ihm einen eiskalten Schauer über den Rücken jagte.
»Sebastian ...« Die matte und sehr rau klingende Stimme seines Herrn war das erste, was der Diener realisierte, als er die sich ihm bietende Szenerie betrachtete. Graf Viktor kauerte, in seinem Nachthemd, in einer Nische, seine langen Haare fielen wirr um sein Gesicht und im Licht der Laterne glaubte der Diener, ein helles, rotes Glimmen in seinen dunklen Augen erkennen zu können. Sein Mund und Kinn waren mit etwas dunklem, feucht schimmerndem verschmiert. Der junge Adlige zitterte und die glühenden Augen fixierten einen hellen Punkt vor sich, etwas, das wie ein zusammengeknüllter Stoffsack aussah.
»Ich ... hatte ...«, stammelte der Graf und Sebastian trat an das Bündel heran, das er mit Schrecken als das Dienstmädchen erkannte, das er noch vor einem Tag gerügt hatte, weil es hatte spionieren wollen.
»Agneska.« Mit steifem Kreuz kniete er sich neben die junge Frau und drehte sie vorsichtig auf den Rücken. Ihre Augen waren weit aufgerissen, der blanke Horror lag darin, doch sie hatten all ihren lebendigen Glanz verloren. Eine tiefe, unsaubere Wunde legte einen Teil ihres Halses frei, doch nur wenig Blut war in ihr Nachtgewand gesickert. Sebastian hob den Kopf zu seinem Herrn, der den Blick seines Dieners leidvoll erwiderte, und konnte sich vorstellen, wo der ganze Lebenssaft hin verschwunden war. Graf Viktors Gesicht und der Kragen seines eigenen Nachthemdes waren damit besudelt.
»Ich hatte ... solchen Hunger ...«, murmelte der Adlige rau, »und ... da war sie plötzlich. Sie hätte ... gar nicht hier sein dürfen ...«
Sebastian nickte leicht und schloss dem Mädchen die Augen. »Ja, Herr. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, herauszubekommen, was Euch fehlt.«
»Dummes Mädchen«, schluchzte der Graf und presste sich die schmutzigen Hände auf die Augen. Er wiegte sich wie ein Kind und Tränen zeichneten Bahnen in das noch immer feuchte Blut in seinem Gesicht.
»Ihr hättet ... von mir trinken können, Ari ...« Sebastian sprach leise, sich längst der Tatsache bewusst, was mit seinem Herrn geschehen sein musste. Der Angesprochene schüttelte den Kopf und musterte seinen Diener mit noch immer in der Dunkelheit funkelnden roten Augen.
»Nein ... du ... du bist kein Mensch ...« Ein Hauch von Überraschung lag in der Stimme des Grafen, was den Diener lächeln ließ. Er wischte es allerdings sofort wieder aus seinem Gesicht. Es schien ihm unpassend angesichts der Tatsache, dass ein junges Mädchen zu Tode gekommen war.
»Sie muss verschwinden«, bestimmte Sebastian pragmatisch wie er war und hob die Dienstmagd auf seine Arme.
»Du kannst doch nicht ... ich werde zu dem stehen, was ich getan habe ...« Viktor erhob sich wackelig, noch immer geschwächt von den tagelangen unsäglichen Schmerzen. Er wirkte dünn und ausgemergelt, doch er selbst konnte spüren, wie das Blut des Mädchens seinen Magen wärmte und wirbelnd durch seinen Körper zu zirkulieren schien. Ein ungekanntes Glücksgefühl erfüllte den Adligen und er seufzte leise.
»Ich weiß, dass Ihr das wollt. Ihr seid ein guter Mensch. Doch niemand wird dafür Verständnis zeigen. Ihr habt das Blut einer Jungfrau getrunken, ausgesaugt wie ein Tier. Was meint Ihr, wird mit Euch geschehen, wenn das bekannt wird?«
Die Erkenntnis, was genau aus ihm geworden war, traf Viktor wie ein Schlag und keuchend sank er in einen Sessel, der dekorativ in dem Korridor aufgestellt worden war.
»Strigoi ...«
Sebastian nickte nur und betätigte einen verborgenen Mechanismus, der in einen weiteren Geheimgang führte. Sanft legte er das junge Mädchen in einer Nische dessen ab und schloss den geheimen Korridor hinter sich wieder.
»Sie kann da nicht bleiben, Sebastian. Was, wenn ich ...?«
»Ich kümmere mich darum. Sie wird nicht wieder erwachen, dafür sorge ich. Doch zuerst seid Ihr dran.« Er stellte sich neben seinen Herrn und griff nach dessen Arm, der sich kalt anfühlte.
Viktor ließ sich wie benommen zurück in sein Gemach führen, gelähmt angesichts des Horrors, der gerade sein ganzes Leben zu zerstören schien. Wie hatte das nur passieren können? Wie hatte aus ihm ein solches Monster werden können, das ein unschuldiges Kind mitten in der Nacht angreift und tötet wie ein Tier?
»Ist das nun die endgültige Strafe für alle meine Sünden? Hat Gott mich verflucht, weil ich Sandringham gegenüber schwach geworden bin und eine Nacht mit ihm verbracht habe?«
Sebastian wusste, dass man nicht nur zu einem Strigoi werden konnte, wenn man bereits tot war, sondern dass dies nach dem Volksglauben der rumänischen Stämme auch geschehen konnte, wenn man noch lebte. Es reichte in den Augen der Menschen nur eine Verfehlung gegen Gott, die schwer genug war. Doch der Diener glaubte nicht, dass es das war.
»Herr ... ich glaube nicht ... also ... wie soll ich es sagen.«
»Sag es einfach. Ich hab keine Geduld für langes Drucksen.«
»Ich glaube, Ihr seid ... nun ja ... gestorben.«
»Wie bitte?« Viktor hob den Kopf, das unheilvolle Rot in den Augen war bereits wieder verschwunden und die empfindsamen braunen Augen zurückgekehrt, die nun voller Schrecken und Verzweiflung zu dem Diener aufsahen.
Sebastian erwiderte den Blick kummervoll und nickte. »In den vergangenen Tagen wart Ihr oftmals mehr tot als lebendig, das Feuer tobte ebenso wie die Kälte in Euch und einfach nichts wollte anschlagen, um Euer Leid zu mildern ...«
Der Graf blickte auf seine noch immer blutbesudelten Hände und zog die Augenbrauen kraus. »Ich hatte fürchterliche Schmerzen. Ich dachte, ich hätte geschrien und getobt. Ich glaubte, meine Knochen würden schmelzen und mein Innerstes stünde in Flammen. Und dann ... war es plötzlich vorbei. Ich fühlte nichts. Nur Frieden. Ich dachte, ich hätte es geschafft, ich wäre ... tot ... Oh Gott ...« Der Adlige sackte von der Bettkante auf den Boden und vergrub sein Gesicht in den Händen. »Du hast Recht, Sebastian ... ich bin gestorben. Doch dann ... öffnete ich meine Augen und obwohl ich merkte, dass es finster war, konnte ich alles sehen. Ich spürte und sah dich schließlich schlafend neben mir am Bett sitzen, ich konnte das Blut in deinen Adern hören, das Schlagen deines Herzens und Hunger schrie in mir auf, wie ich ihn nie zuvor gekannt habe ... Doch etwas hielt mich ab, dich anzurühren ... sei es der Umstand gewesen, dass wir einander so lange kennen oder die Tatsache, dass etwas an dir ... anders ist. Ich konnte es nicht. Und so ... zog mich etwas nach draußen und da war dieses dumme Ding ...«
Der Graf kauerte sich zu einer kleinen Kugel zusammen, als wollte er verhindern, dass er in Stücke zerfiel. »Ich kann so nicht ... ich konnte alles ertragen, aber nicht das ... Du solltest gehen. Ich möchte nicht, dass du mit so etwas in Verbindung gebracht wirst.«
Sebastian kniete sich neben seinen Herrn und legte diesem die Hand auf die Schulter. »Mein Herr, wem außer mir wollt oder könnt Ihr denn vertrauen? Ich stehe immer zu Euch, egal was für ein Monster Ihr glaubt zu sein. Ich habe Euch nie verurteilt. Außerdem haltet Ihr mich doch auch für einen Hexer. Meint Ihr nicht, dass wir ein gutes Gespann abgeben? Legt Euch wieder hin. Ihr mögt glauben, weiß Gott etwas zu sein, doch ich sage, Ihr seid vor allem geschwächt und braucht Ruhe.« Der Diener zog den Adligen mit sanfter Gewalt auf die Beine und säuberte mit einem feuchten Tuch dessen Hände.
»Ich kann das Blut des Mädchens noch überall riechen«, flüsterte der Graf und ballte die Finger zu Fäusten. »Wie kannst du mich nicht verabscheuen, Sebastian? Ich habe jemanden umgebracht!«
Der Leibdiener blickte seinem Herrn in die Augen. »Das habe ich auch ... vielleicht anders als Ihr, doch auch ich trage diese Sünde mit mir. Wie könnte ich Euch also dafür verurteilen?«
Viktor presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. »Du magst damit leben können. Ich nicht.« Der Adlige machte einen Schritt zurück und ehe Sebastian reagieren konnte, war er zur Balkontür hinaus und über die steinerne Balustrade gesprungen.