Es vergingen weitere zwei Tage, in denen die Dienerschaft nun endlich wieder zur Ruhe kam. Sie waren trotz der beruhigenden Worten Sebastians in Sorge gewesen, ihr Herr und damit Arbeitgeber könnte sterben und sie alle mit einem Mal ohne Anstellung da stehen.
Doch nun, wo der junge Graf wirklich wieder auf den Beinen, etwas geschwächt noch, aber doch wach, war, glätteten sich die Wogen allmählich. Sebastian hatte ihm jeden Morgen und jede Nacht Blut besorgt. Es war weniger schwer als gedacht, da ohnehin jeden Tag einige Hühner geschlachtet wurden. Der Leibdiener hatte angekündigt, das Blut möge möglichst in einem sauberen Krug aufgefangen werden. Auf die Nachfrage antwortete er nur, er würde sich an einer neuen Düngermischung für den Kräutergarten versuchen, den er neu bepflanzen wollte, sobald der Schnee geschmolzen war. Das Gesinde, das um die Vorliebe des Dieners fürs Gärtnern wusste, tat wie geheißen und belastete sich nicht weiter damit. Das Verschwinden des Dienstmädchens wurde mit mehr Interesse zur Kenntnis genommen. Einige munkelten, sie hätte das Weite gesucht, nachdem Sebastian ihr mit einem unehrenhaften Rauswurf gedroht hatte, andere vermuteten, sie hätte sich einfach nicht wohl gefühlt und wieder andere, dass sie sich womöglich im Wald verirrt hatte und dort von Wölfen gefressen wurde.
Der Leibdiener ließ sie reden und mischte sich nicht in ihr abergläubisches und tratschsüchtiges Gerede ein. Sie würden die Wahrheit ohnehin nicht erraten, da er auch die wenigen Habseligkeiten von Agneska hatte verschwinden lassen, nachdem er sie am Fuß der Berge verbrannt hatte.
Graf Viktor grämte sich noch immer für diese schwerste aller Sünden, beinahe mehr, als er sich selbst dafür verachtete, dieses Blut zu begehren und wie ein Verdurstender selbst den letzten Tropfen aus den Bechern zu lecken, die Sebastian ihm brachte. Und doch hörte das Kratzen, das Brennen und das Jucken in seinem Hals nie auf. Als würde er niemals wieder das Gefühl verspüren, frei davon zu sein, satt zu sein, befriedigt. Er spürte jedoch, wie neue Kraft, ungeahnte Energie, durch seinen Körper strömte, die ihm verhieß, Dinge tun zu können, die nie zuvor möglich gewesen wären. Seine Augen waren inzwischen so scharf, dass er in völliger Finsternis sehen konnte, als wäre es Tag. Er konnte selbst in seinem Gemach riechen, wenn fünf Stockwerke unter ihm sich eine Dienstmagd mit einem Messer in den Finger schnitt. Er hatte gemerkt, dass jedes Blut anders roch und fragte sich, ob es verschieden sein konnte. Ob es doch stimmte, dass nicht jedes gleich war. So konnte er deutlich unterscheiden, ob es von einem Menschen oder von einem Tier stammte.
Dass seine Ohren den kleinsten Laut, selbst das Rascheln der winzigen Füße einer Maus hinter einer meterdicken Mauer, hören konnten, hatte ihm zu Anfang Angst gemacht, denn er dachte, er würde bei all den Klängen, den Geräuschen und Tönen verrückt werden. Doch nun, nachdem zwei Tage vergangen waren, verschwamm es zu einem Rauschen, das er gut ignorieren konnte. Es amüsierte und schockierte ihn zugleich, welch sündige Dinge in den Mauern seines Schlosses vonstatten gingen, von denen offenbar niemand etwas wusste.
Es war eine Tatsache, dass das Gesinde eines Königs, eines Fürsten oder eines Grafen einander nicht ehelichen durfte. Es bedurfte dafür der ausdrücklichen Erlaubnis ihres Herrn. Viktor verweigerte niemandem das Eheglück, doch seine Dienstboten waren bislang mit solchen Wünschen nicht an ihn heran getreten. Die wenigen, die miteinander vermählt waren, hatten das noch mit dem Segen seines, Viktors, Vaters getan. Und doch gab es, den Geräuschen und Gesprächen nach zu urteilen, die des Grafen empfindliche Ohren auffingen, sehr viele, die in einer eheähnlichen Gemeinschaft miteinander lebten oder zumindest hin und wieder das Lager miteinander teilten. Der junge Adlige war sich nicht sicher, ob er diese Dinge wissen wollte. Hören wollte er sie definitiv nicht.
So konzentrierte er sich auf andere Sachen und blendete all das Unangenehme aus, was ihm zunehmend besser gelang.
»Mein Herr? Habt Ihr wohl geruht?« Der Abend war hereingebrochen, als Sebastian mit Tee in das Gemach seines Herrn kam. Dieser hatte, um dem hellen Schein der winterlichen Sonne zu entgehen, die letzten Tage verschlafen und hatte seine Pflichten in der Abenddämmerung und der frühen Nacht wahrgenommen. Da es sich bis ins Dorf hinunter verbreitet hatte, dass der Graf krank geworden war, wunderte es erst recht niemanden, dass man ihn nicht zu Gesicht bekam. Der zu Hilfe gerufene Medicus, Jesse Ben Benjamin, ansässiger Jude in Bistritz, war einen Tag nach dem Vorfall mit dem Dienstmädchen im Schloss eingetroffen, hatte den jungen Adligen untersucht, ihm einen fürchterlichen Kreislauf bescheinigt und Bettruhe verordnet, da er das schwere Fieber, das in dem Schreiben erwähnt wurde, das der Bote ihm überreicht hatte, glücklicherweise allein überstanden zu haben schien. Er hatte ihm außerdem eine Tinktur dagelassen, die, in Tee eingenommen, den Körper stärken sollte, den das Fieber ganz offensichtlich in Mitleidenschaft gezogen hatte. Sebastian, stets misstrauisch Medici gegenüber, hatte diese genauestens unter die Lupe genommen und für tauglich befunden, da sie aus Kräutern bestand, die den Organismus etwas in Schwung bringen sollten.
»Ist Master Benjamin aufgebrochen?«, fragte der Graf mit einem Nicken auf die Frage zu seiner Nachtruhe. Der Medicus hatte eine Nacht im Schloss verbracht, um sich von der beschwerlichen Reise in die Berge zu erholen.
»Ja, Herr. Seine Kutsche brach gegen Mittag auf. Er lässt ausrichten, dass Ihr Euch so lange schonen sollt, wie Ihr meint, dass es gut ist, doch mindestens noch einen oder zwei Tage.«
»Nun, wenigstens einen werde ich ihm zugestehen. Doch dieses Liegen zerrt mir an den Nerven. Mit jeder Minute, die ich hier zubringe, wächst mein Groll und meine Neugier darauf, ob unser Verdacht richtig ist. Weißt du, ich bin an der Reihe, Sandringham zu mir einzuladen. Vielleicht sollte ich das tun. Allein an der Farbe meiner Haut kann ein Blinder feststellen, dass etwas geschehen sein muss. Es wäre sicher sehr aufschlussreich, sein Gesicht zu sehen.« Viktor sank tiefer in das Kissen und seine Augen, deren unheilvoller roter Schimmer nur zu sehen war, wenn man bewusst darauf achtete, richteten sich auf den Baldachin über seinem Kopf. »Ich bin töricht, Sebastian. Ich habe ... ich habe ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, mir so viel von ihm zu nehmen, wie ich bekommen kann, bis er wieder nach England aufbricht, damit ich etwas habe, an dem ich zehren kann, für den Rest meines Lebens. Weil ich niemals wieder schwach werden wollte. Doch nun weiß ich nicht mehr, wann dieser Rest meiner Jahre begonnen hat. Aus mir wurde etwas, das ich immer gefürchtet habe und ich ... ich ...«, er schluckte schwer, während Sebastian Tee in eine Tasse goss und einen Tropfen der wohlriechenden Tinktur hinzugab. Der Diener richtete seine Augen auf seinen Herrn, der mit sich zu ringen schien.
»Ihr?«
»Ich ... fühle mich benutzt. Wie Dreck. Ich habe alle meine Sorgen über Bord geworfen für diese eine Nacht und er ... er ...«, Viktor wandte den Blick Sebastian zu, »das Buch sagte, dass man auch anheim fallen kann, wenn man eine Sünde auf sein Leben legt, richtig? Vielleicht war es das. Kein Biss, sondern die Strafe für diese ... Verderbtheit ...«
Der Leibdiener stellte die Tasse ab und griff nach den kalten Händen seines Herrn. »Hört mir zu: Ich glaube nicht daran. Dieses ... Dasein ist nicht die Bestrafung durch einen rachsüchtigen Gott. Denkt Ihr, Ihr seid der einzige Mann, der sich zu seinesgleichen hingezogen fühlt? Wenn es so wäre, dann wäre diese verhängnisvolle Nacht mit dem ... Engländer nicht passiert. Und auch Euer Abenteuer als Bursche nicht, wenn Ihr Euch erinnert. Denn dazu gehören immer zwei. Die Griechen haben Heldenepen geschrieben, in denen es gleichliebende Männer und auch Frauen gab. Ich glaube einfach nicht, dass das eine Sünde ist. Die Kirche mag es so sehen, doch ich sehe das anders. Und Ihr solltet das auch. Etwas so reines wie Liebe kann niemals schlecht sein. Dieser Fluch ist keine Strafe von Gott, sondern etwas Irdisches. Und allein dafür, dass Sandringham es gewagt hat, Euch zu beschmutzen, sollte er in der Hölle schmoren.«
Viktor lächelte leicht. »Ich komme mir manchmal vor wie ein Burgfräulein und du bist der Drache, der alles niederbrennt, was mir zu nahe kommt.«
Sebastians Augen funkelten, als sich ein winziges Grinsen auf sein Gesicht schlich. »Ihr habt ja keine Ahnung, wie treffend diese Aussage war. Wenn auch nicht gerade ein Fräulein, mein Herr. Ich denke, ein Gewand würde Euch nicht kleiden.« Er lachte leise und reichte dem jungen Adligen den inzwischen leicht abgekühlten Tee.
»Nun denn, Sebastian ... hol Feder und Pergament. Setzen wir eine Einladung für unseren verehrten Gast aus England auf und fragen ihn einfach, was er mit mir angestellt hat.«
»Ihr wollt ihn hierher holen? Und wenn er nun wirklich ... auch ein Strigoi ist? Meint Ihr nicht, es wäre für das Gesinde zu gefährlich, so jemanden nochmals an diesen Ort einzuladen? Was geschieht, wenn er auf Zank aus ist, weil Ihr nicht begeistert über dieses ‚Geschenk’ seid?«
Viktor dachte einen Moment lang darüber nach. Ihm war seine Dienerschaft teuer, da er so viele von ihnen bereits als Kind gekannt hatte und er würde sicher niemals wieder einen von ihnen anfallen. Doch Sandringham, der seine Verachtung für das einfache Volk schon früh recht deutlich gezeigt hatte, dem würden diese Menschen nichts bedeuten, sie wären, wäre er tatsächlich auch ein Blutsauger, nur eine willkommene Mahlzeit für ihn. Mit einem eiskalten Schauer dachte Viktor an die zwei jungen Leute, die vor etwa einer Woche in Nezru aufgefunden worden waren. Auch sie waren das Opfer eines Strigoi geworden, auch wenn kaum einer es gewagt hatte, dies laut auszusprechen.
»Du hast Recht. Das Risiko gehe ich nicht ein. Doch du wirst mich begleiten«, er ließ seinen Blick über Sebastian wandern, »irgendetwas sagt mir, dass du dich zu verteidigen weißt. So etwas wie unten im Dorf darf hier auf dem Schloss nicht passieren.«
Der Leibdiener lächelte nur milde und entnahm dem Sekretär eine kleine Rolle Pergament, eine Feder und ein Tintenfass. »Soll ich schreiben, Herr?«
»Ja, ich bitte darum. Setz’ dich, ich diktiere ...«
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Lord Hiram Sandringham erfasste ein heißes Glücksgefühl, als er den Knaben wieder vom Hof reiten sah, der soeben eine Botschaft des Grafen Draganesti übermittelt hatte. Feurig erregt brach der Mann das Siegel und las die höfliche Ankündigung Viktors, am nächsten Abend bei Einbruch der Dunkelheit zu einem Treffen erscheinen zu wollen. Dem Engländer zuckten die Mundwinkel. Er wusste, dass eigentlich der Graf an der Reihe gewesen wäre, den Gastgeber zu spielen, doch augenscheinlich wollte er ihr Tête-a-tête vor dem Gesinde seines Hofes geheim halten.
Ihre gemeinsame Nacht war nun eine Woche her und der Lord fragte sich, ob Viktor sich wohl verändert haben mochte. Er hatte immerhin keinerlei Erinnerung daran, dass Hiram ihn während ihres Liebesspiels gebissen hatte. Der Engländer erinnerte sich an seine eigene Verwandlung, aus der er nach wenigen Tagen wie aus einem schwarzen See erwacht war, mit Augen so scharf wie die eines Adlers und Ohren, sensibler als die einer Fledermaus. Hiram erinnerte sich noch gut an das Gefühl der Macht, die Möglichkeiten und auch den Hunger. Es hatte keine Meldungen über Todesfälle gegeben, was ihn etwas zweifeln ließ, doch womöglich waren sie nur gut vertuscht worden.
Neugier und auch eine nagende Sehnsucht nach dem Grafen brannten in den Eingeweiden des blonden Mannes. Die ersten zwei Nächte danach hatte sein Bettzeug noch nach dem jungen Adligen gerochen und dieser Duft hatte sich mit einem schmerzhaften, sehnsuchtsvollen Reißen durch den ganzen Körper des Engländers gezogen.
Doch er wusste, hatte sein Plan funktioniert, war Viktor nun verändert und würde sicher viele Fragen haben. Womöglich war er auch etwas verärgert, doch andererseits hatte ihm Hiram die ewige Jugend und Schönheit geschenkt, fernab von Krankheit, Verfall und einem drohenden Tod. Fern der Trauer, die dieses Leid mit sich bringen würde. Gemeinsam, an seiner Seite, stand Viktor nun die Welt offen und er würde endlich frei sein können, zu leben und zu lieben, wen er wollte.
Denn welcher Sterbliche würde sich gegen einen Vampir stellen? Sie waren doch alle nur Vieh, da, um die Mächtigen zu ernähren. Und Hiram würde niemals wieder weniger als das sein. Er würde nie mehr jemanden über sich bestimmen und obsiegen lassen. Er war ein Sandringham, Spross einer der ältesten Familien Britanniens und er hatte einmal zugelassen, dass er zu einem Sklaven wurde, das würde ihm sicher kein weiteres Mal passieren.
Er wollte seinen Platz in der Welt, wenn ihm auch das sterbliche Leben mit allem, was dazu gehörte, verwehrt geblieben war. Er wollte Viktor an seiner Seite, denn er war überzeugt, mit diesem würde er endlich sein Glück und seinen Frieden finden können, den er seit achtzig Jahren suchte. Seit dem Tag, als er den Vampirclan hinter sich ließ, der ihn zum Sklaven und schließlich zu seinesgleichen gemacht hatte.
Beschwingt, beinahe heiter sprang er die Stufen zu dem kleinen Salon hoch, in dem er gern seine Zeit verbrachte. Es war elend langweilig in diesem Schloss und da ihm nicht der Sinn nach einem Spaziergang im Schnee stand, würde er sich die quälend langen Stunden bis zum Wiedersehen mit Viktor mit einigen Büchern vertreiben. Auch wenn sie in rumänisch verfasst waren, waren sie gut zu verstehen und der Engländer bedankte sich innerlich bei dem Lehrer, der ihm diese raue und etwas grob erscheinende Sprache beigebracht hatte. Er bedauerte fast, dass er diesen anschließend ausgesaugt und liegen gelassen hatte ...