»Ihr seid doch nicht etwa nervös, mein Herr?« Sebastian befestigte gerade ein silbernes Schmuckstück an Graf Viktors Schalkrawatte, peinlichst darauf achtend, dass dessen Haut von dem Edelmetall nicht berührt wurde. Der Angesprochene zog die Brauen über den etwas rötlich schimmernden Augen zusammen und presste die vollen Lippen zu einem Strich.
»Mitnichten. Ich bin wütend und fordere Genugtuung!« Man konnte deutlich sehen, dass der schlanke Mann unter seinem dunklen Samtmantel zitterte, als würde er frieren.
»Nun denn, wollen wir damit nicht länger warten. Ich würde sagen, Ihr macht eine beeindruckende Figur.«
Viktor wandte sich zu dem Spiegel um, in dessen Oberfläche er sich zu seiner großen Überraschung noch immer betrachten konnte, dachte er doch immer, Strigoi würden von einem Spiegel nicht gezeigt werden. Es gab augenscheinlich viele Dinge, deren Richtigkeit man erst überprüfen konnte, wenn man selbst zu einem solchen Wesen geworden war.
»Was werdet Ihr tun, sobald Ihr den Engländer zur Rede gestellt habt?«
»Ich sollte ihn fordern. Ihm den Fehdehandschuh ins Gesicht schlagen und verlangen, dass er sich wie ein Mann zum Duell stellt. Doch was würde das bringen? Würde es ändern, was ich geworden bin? Kann es mir meine Sterblichkeit wieder zurückgeben? Diesen ... Hunger von mir nehmen und die immerwährenden Geräusche, die mir in den Ohren rauschen?« Der Adlige seufzte und sein Spiegelbild zeigte einen besorgt, bekümmert aussehenden jungen Mann, dessen herrschaftliche Aufmachung nicht darüber hinwegtäuschen konnte, dass ihn etwas bedrückte. Sein Leibdiener, der hinter ihm stand, lächelte jedoch milde und zupfte das Haarband zurecht, das die rückenlangen, nahezu schwarzen Haare des Grafen zusammenhalten sollte.
»Das kann es nicht. Doch Ihr könnt Euren Standpunkt klar machen. Und vergesst nicht, ich bin an Eurer Seite. Solltet Ihr ein Duell wollen und er weigert sich, kann ich sehr überzeugend sein.«
»Das kann ich auch!«
Sebastian nickte und schob Graf Viktors Schwert in dessen Gürtel, bevor er den Mantel darüber drapierte. Anschließend verneigte er sich leicht.
»Mein Stock, Sebastian. Lass’ uns aufbrechen, wir wollen doch nicht die Unhöflichkeit des Zuspätkommens auf uns laden.« Viktor nahm den eleganten Gehstock mit dem silbernen Knauf, in den das Familienwappen der Draganestis eingraviert war, entgegen. Dieser Spazierstock war sehr schwer und äußerst robust. Der frühere Graf Draganesti hatte ihn als elegant getarntes Kampfgerät anfertigen lassen, für den Fall, dass man sich einmal spontan gegen jemanden würde verteidigen müssen. Es reichte für den jungen Grafen als Bewaffnung, denn immerhin trug er noch das Schwert, auch wenn dies in den meisten Fällen eher Zierde war, und er hatte seinen Leibdiener bei sich, der für sich genommen schon eine Waffe war.
»Natürlich nicht. Es wäre in dieser Situation äußerst unerfreulich, auch noch zu spät zu kommen«, Sebastians Lippen kräuselten sich und er musste ein Lachen verkneifen, was Viktor jedoch bemerkte und schmunzeln ließ.
»Nichtsdestotrotz, mein Lieber, sollten wir immer untadelig daher kommen. Das weißt du doch.«
»Ja, mein Herr«, kicherte der Leibdiener und öffnete dem Grafen die Tür. Dieser war froh, dass es eine seiner Gewohnheiten war, Handschuhe zu tragen, denn er war sich sicher, das Silber des Gehstockes würde ihm sonst die Haut verbrennen.
Gewandet in den üblichen, kälteabweisenden Kaninchenpelz bestieg der Adlige draußen in der abendlichen Dämmerung den bereitstehenden Hengst, der den Anschein machte, es gar nicht erwarten zu können, endlich laufen zu dürfen. Juga, der als Begleittier und Sebastians Pferd ausgewählt worden war hingegen, mümmelte ruhig vor sich hin, wobei er wattigweiße Atemwolken vor seinen Nüstern produzierte.
»Haltet die Feuer am Tor am Leben. Wir werden heute Nacht noch zurückkehren.« Viktor rief dies zu dem Hauptmann der Wachmannschaft hinauf, der auf den Zinnen über dem Eingangsbogen stand und sich verneigte.
»Also dann, packen wir es. Es wird nicht heller«, der Adlige gluckste leise, was einige der umstehenden Dienstboten einander verwundert ansehen ließ. Sie waren es nicht gewöhnt, dass ihr Herr lachte oder gar einen Scherz machte. Einige vertraten die Überzeugung, dass die schwere Krankheit des jungen Herrn, die erst vor wenigen Tagen abgeklungen war, noch immer nicht ganz besiegt war und das Fieber sich auf sein Gehirn und sein Gemüt gelegt hatte.
Sebastian hingegen lächelte. Er als Einziger verstand die Worte des Grafen, dessen adlerhafte Augen in der Dunkelheit besser sehen konnten als tagsüber. Je dunkler es also wurde, desto klarer wurde die Sicht für Viktor.
Die beiden Männer trieben ihre Pferde über den verschneiten Zugangsweg des Schlosses auf die Gebirgsstraße in Richtung des weiter südlich gelegenen Jagdgutes. Es hatte während des Tages nachgelassen zu schneien und der Himmel hatte inzwischen die Farbe von Tinte angenommen, in der die Sterne glitzerten wie Edelsteine. Viktor hob den Kopf und ließ seine neuen, außerordentlichen Augen in die Weite des Nachthimmels blicken. Er juchzte verzückt, denn durch die eher schwache Sehkraft, die er sein ganzes Leben lang gehabt hatte, waren ihm viele schöne Anblicke verwehrt geblieben, die sich nun in all ihrer Pracht offenbarten.
»Es scheint Euch Spaß zu machen, Herr ...«
Viktor senkte peinlich berührt das Kinn wieder und linste zu seinem Butler hinüber, der etwas gegen den Wind anrufen musste und dessen Wallach mit dem strammen Galopp Tibers Schritt halten konnte. Sebastian hatte Recht. Es sollte ihm, Viktor, nicht gefallen, diese außerordentlichen Augen zu besitzen und jetzt, wo sie fern des Schlosses waren, genoss er auch die Geräusche der Wildnis um sie herum, das Rauschen des Windes, das Knirschen des Schnees und das leise, für Menschen unhörbare Rascheln von Tannennadeln, die sich bei jeder Bewegung der Äste aneinander rieben.
»Ich ... sagen wir ... ich ... äh«, haspelte der Graf und brach schließlich ab. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Wäre dieser nagende Hunger nicht, diese Angst vor dem, was noch kommen mochte und die schwere Schuld, dass ein Leben seinetwegen ausgelöscht worden war. Die furchterregende Erkenntnis, dass er etwas geworden war, das er von Kindesbeinen an gefürchtet hatte und die Sorge davor, zu was er noch fähig sein würde, könnte man tatsächlich sagen, dass er Spaß daran hatte.
Der Großteil von ihm wünschte sich noch immer, sein Sprung vom Balkon hätte Erfolg gehabt und er wäre dieser erbärmlichen Existenz entkommen, die seine Hände mit Blut beflecken, ihn zu einem Mörder machen würde, solange er nun leben mochte. Doch ein anderer, deutlich kleinerer Teil war wie ein neugieriges Kind, spürte eine ungekannte Freiheit, die sowohl seine körperlichen als auch seine geistigen Grenzen zu überwinden vermochte, der hinaus wollte in die Welt, die ihm stets Angst gemacht hatte, und herausfinden, was alles möglich war.
»Ich verstehe Euch, Ari«, rief Sebastian gegen den Wind an und erwartete gar keine Antwort seines Herrn.
Schweigend erreichten sie nach einem zerzausten Ritt das Jagdschloss, das wie so oft den Eindruck erweckte, dass man einzig auf diese Besucher gewartet hätte. Die Laternen und Feuerschalen erschienen, als würden sie niemals gelöscht werden, der Schnee war frisch von den Treppenstufen geputzt worden und ein Diener wartete bereits darauf, die Pferde entgegen zu nehmen. Doch augenscheinlich war nur mit dem Erscheinen einer Person gerechnet worden, denn der Knabe öffnete überrascht die Augen, als er neben dem feurigen Hengst auch den wolligen und gutmütig erscheinenden Wallach auf den Hof traben sah.
»Lord Sandringham erwartet mich«, sprach Viktor den Jungen von Tibers Rücken herab an, seine Stimme klang schneidend, ähnlich wie der Wind, der durch die Mauern pfiff.
»J-ja, Master. Er hatte nur nicht ... ich ... ich nehme Eure Pferde entgegen, bitte sehr.« Der Bursche, dem der Graf schon beim ersten Besuch hier seinen Hengst überlassen hatte, fiel sofort in seine Rolle zurück. Die beiden Ankömmlinge schwangen sich von ihren Tieren und landeten knirschend im Schnee. Die Zügel in die Hand des Jungen drückend, wandten sie sich dem Portal zu, das dieses Mal verschlossen war. Kein blasierter Hofmeister stand dort und betätigte sich als Türstopper.
Sebastian nahm den massiven Klopfer in die Hand und schlug dreimal hart gegen dessen Messinggegenstück. Es hallte laut in der Halle wider und Viktors empfindliche Ohren konnten das Trappeln von Füßen hören, lange bevor der schwere Schlag geöffnet wurde.
»Er riecht sogar durch die Türe nach Küche«, murmelte der junge Adlige und verzog den Mund.
»Ach? Was braut er denn, dass es Euch so anwidert?«
»Es riecht nach Leber«, wisperte Viktor in der Sekunde, in der das Portal aufgezogen wurde und der blasierte Hausdiener sie anblickte. Er schien leicht zu schielen.
»Welche Freude, Graf Draganesti. Mein Herr erwartet Euch bereits ...« Er trat beiseite, nachdem er sich etwas verbeugt hatte. Sebastian hatte er keines Blickes gewürdigt.
Langsam betraten die beiden Besucher das Schloss. Es war dunkel und kühl und Viktor zog die Brauen kraus, als der Diener wieder davon schwirrte, irgendwie ein bisschen neben der Spur.
»Hast du nicht auch das Gefühl, dass er irgendwie ... ein bisschen merkwürdig erscheint?«, murmelte der Graf und ruckte mit dem Kinn in Richtung des Mannes, der offenbar versuchte, die Tür zu einem Schrank zu öffnen, aber die Klinke nicht traf.
»Ob er getrunken hat?«
»Nein. Er riecht nach ...«, Viktor verzog den Mund erneut, »Kohl und Leber.«
»Womöglich hat er sich den Kopf gestoßen. Lassen wir ihn machen. Er kann sich hier ja nicht verletzen.«
Der Adlige nickte seinem Diener zu und ließ sich von diesem den Mantel abnehmen. Sebastian ignorierte den verwirrt scheinenden Hofmeister, der nach der Küchentür suchte und anschließend stolpernd in dem Gang verschwand, und warf den Pelz über einen massigen Garderobenständer. Kopfschüttelnd blickte er anschließend dem Diener hinterher und wandte sich an seinen Herrn.
»Reichlich unhöflich, Euch nicht persönlich zu begrüßen.«
»Das hat er beim ... beim ersten Mal auch so gemacht. Er hat versteckt im Salon auf mich gewartet ...«
Viktor straffte seine Schultern und packte den massiven Gehstock fester, bevor er auf die geschlossenen Türen zusteuerte. Es war so leise in dem Schloss, dass man das Gefühl bekommen konnte, in einer Gruft zu sein. Der Hofmeister hatte einen reichlich verwirrten Eindruck gemacht. Der junge Graf fragte sich, ob ein Strigoi auch irgendwelche Geisteskräfte hatte, wie Hypnose oder dergleichen. Doch zuerst mussten sie freilich herausfinden, ob Lord Sandringham in der Tat der Übeltäter all dieser schwerwiegenden Lebenseinschnitte gewesen war.
Sebastian ging voran und öffnete die schweren Türen für seinen Herrn, um diesem einen Auftritt in würdevoller Arroganz zu garantieren. Mehr als das hatte der vermeintliche Scharlatan in den Augen des Dieners ohnehin nicht verdient. Das und eine Tracht Prügel für seine Unverschämtheit.
Diesmal hatte sich der blonde Engländer nicht die Mühe gemacht, seinem Gast eine Posse zu spielen. Im Gegenteil saß er in einem Sessel vor dem Kamin, das Gesicht und das goldene Haar von den Flammen erhellt, in der Hand ein Glas mit einer rubinroten, undurchsichtigen Flüssigkeit, deren Geruch Viktor augenblicklich würgen ließ, weil er wie ein glühendes Messer in seiner Kehle brannte und eine Gier in ihm weckte, die ihm bis vor einigen Tagen fremd gewesen war. Seine Pupillen leuchteten in der schummrigen Dunkelheit rot auf.
»Es ist erfreulich, das Glühen in deinen Augen zu sehen, mein Liebster«, schnurrte Hiram leise, ohne den Kopf in die Richtung des Grafen zu drehen. Er änderte seine Meinung, als sich ein bösartig klingendes Knurren Viktors Kehle hinauf drängte. Zu aufgebracht, um darüber überrascht zu sein, starrte der Adlige den Lord an, in der Lage, jedes Detail seiner ausgefallenen Kleidung zu erkennen, obwohl das Licht in dem großen Salon mehr als kümmerlich war.
»Dann wart es tatsächlich Ihr, Sandringham?! Ihr habt dieses ... Ding aus mir gemacht.«
Der Engländer, dessen überraschtes Gesicht aufrichtig aussah, erhob sich langsam, das Glas mit dem Blut, das eindeutig menschlichen Ursprungs war, auf einem Tischchen abstellend.
»Ein ... ein Ding? Aber mitnichten. Ich habe dir das gegeben, was du verdient hast zu sein. Ein Gott, Viktor.«
»Ein Gott«, keuchte dieser angewidert und spuckte seinem Gegenüber vor die Füße. »Ihr seid ein Scheusal. Ich verfluche den Moment, in dem ich beschloss, Euch nachzugeben. Lieber wäre ich gestorben, als zu so einem ...«, Viktor straffte sich, »als zu werden wie Ihr!«
»Du ... du missverstehst meine Absichten. Ich wollte dir nichts ... antun. Ich wollte dir etwas geben, ein Geschenk. Ich wollte dich befreien von den Ketten, die dich gefangen gehalten haben. Ich ...«
»Und Ihr glaubt, mich durch die Hölle zu schicken, mich sterben und als ein Monster, das das Blut Lebender begehrt, wieder auferstehen zu lassen, würde meine Ansichten über die Welt, würde meinen Glauben verändern?! Ihr habt mir kein Geschenk gemacht, Sandringham ... Ihr hättet Eure Hausaufgaben über mein Land machen sollen, bevor Ihr zu uns kamt! Dann wäre Euch bewusst gewesen, dass ich niemals ein Strigoi hätte werden wollen. Dann hättet Ihr gewusst, was dieser Fluch für jeden Transsylvanier bedeutet. Dann wärt Ihr weggeblieben!«
»Viktor, ich ...« Hiram machte einen Schritt, doch der Graf wich zurück und hob seinen Gehstock etwas an.
»Bleibt fern von mir. Es reicht, dass Ihr mir einmal zu nahe gekommen seid. Dass ich einmal alle meine Vorsicht habe fallen lassen - für Euch. Und Ihr habt diese Schwäche schamlos ausgenutzt, um mich zu verfluchen ... erbärmlich genug von mir, auf Eure Schmeicheleien hereinzufallen.« Es war schwer zu sagen, ob die Röte auf Viktors Gesicht von der Wut kam, die er empfand, oder der tiefen Scham, die ihn quälte.
Hiram jedoch lächelte auf eine Art, die man nur sanft nennen konnte. Seine hart erscheinenden blauen Augen wirkten jetzt wie ein Sommerhimmel. Er vollendete den Schritt, den er zuvor auf Viktor hatte zumachen wollen, aber von dessen Stock gebremst worden war.
»Jedes Wort, das ich sagte, seit wir einander das erste Mal begegneten, jede Bekundung meiner Zuneigung zu dir entsprach der reinen Wahrheit. Und jedes Weitere, das folgte, als du in meinen Armen gelegen hast ... ich gebe zu, ich war voreilig und auch dumm, doch alles, was ich tat, geschah aus dem tiefen Wunsch heraus, meine Ewigkeit mit dir zu teilen.«
Er hob die Hand, um sein Gegenüber zu berühren. Mit einem Ausdruck des Widerwillens auf seinem Gesicht wollte der junge Graf zurückweichen, verhindern, dass die Finger des anderen Mannes ihn erreichten, doch der Blick Hirams lag auf ihm wie ein Bann und zu Viktors Verwunderung und leisem Schrecken breitete sich eine Schwere in seinem Körper aus, die verhinderte, dass er auch nur einen Muskel rühren konnte.
»Was ...?«, murmelte er und starrte den Engländer an. Dessen Lächeln war noch immer so charmant wie zuvor, doch das Blau seiner Augen war einem unheilvollem Rot gewichen, das den Grafen zu versengen drohte.