„Das was du da siehst ist ein Grundriss des Gebäudes“, erklärte Lika ihm und wirkte das erste Mal wirklich selbstsicher. Etwas, was Orion bei ihr nur beobachtete, wenn sie über solche Dinge sprach.
„Wir befinden uns hier und ich denke da befindet sich der Konferenzsaal“, damit zeigte sie auf ein weiteres Quadrat. „Es gibt unnatürlich viele Wachen. Viel mehr, als beim Hohen Rat üblich ist. Und sie benutzen auch sehr viel Technik“, erzählte Lika weiter. „Und so konnte ich ein wenig die Leute belauschen“, fügte sie kleinlaut hinzu. „Sie alle reden von einer wichtigen Aufgabe und sind empört, dass sie Wesen außerhalb des WeVa übergeben wird.“
„Wenn sie empört darüber sind, warum tun sie es dann?“ Unverständlich schüttelte er den Kopf und übergab die Gerätschaft an Lika, die sofort begann mit gezielten und schnellen Fingerbewegungen damit zu hantieren. Sie schien in ihre eigene Welt abgetaucht zu sein. Ob sie wohl schon vergessen hatte, dass Orion überhaupt im selben Raum war?
Grübelnd ließ er sich auf einen der Sessel nieder und tippte mit Zeigefinger und Mittelfinger abwechselnd auf seine Unterlippe. Nach einigen Sekunden beugte er sich nach vorne, um seine Unterarme an seinen Knien abzustützen.
„Irgendwelche Details?“ Er hob den Blick zu Lika die geradeweg auf ihn zusteuerte, obwohl sie nach wie vor den Blick auf den Bildschirm gerichtet hatte.
„Es wird sich um einen längeren Auftrag handeln und wir werden nicht allein sein“, erklärte sie und lief im Zimmer auf und ab. „Ich kann nur nicht herausfinden wer uns unterstützen wird. Ich weiß nur, dass der Auftrag an uns übergeben wird, weil man besondere Talente braucht, für diesen Auftrag. Aber nach was genau sie suchen, kann ich dir nicht sagen“, erklärte sie ein wenig mürrisch. Das waren ihr zu wenige Informationen.
Es überraschte den brünetten Werwolf sehr, Lika zu beobachten, wie sie fast schon wie besessen auf dem Gerät herumtippte, um vermutlich doch noch irgendwo etwas herauszufinden. Nach einigen Minuten, in denen Lika verärgert auf und ab lief und nur was vor sich her murmelte, erhob sich Orion wieder, um Lika vorsichtig am Arm zu packen und ihr das Tablet aus der Hand zu nehmen.
„Hast du schon was gegessen?“, fragte er besorgt und musterte sie eingehend.
Ein wenig irritiert, weil sie aus ihren Gedanken gerissen wurde, strich sie sich eine Strähne ihres blauen Haares hinter die Ohren.
Ihr war der Haargummi beim Laufen herausgerutscht und der Zopf hatte sich geöffnet, ohne dass sie es bemerkt hatte.
„Ähm. Das letzte Mal in der Kutsche“, meinte sie nachdenklich. Wie spät war es denn eigentlich?
Sie hatte die Zeit komplett aus den Augen verloren. Trotzdem konnte sie ihre Gedanken nicht von dem Auftrag lösen. Orion legte das elektrische Gerät auf ihr Bett, das mit einigen Vorhängen drapiert war, wie ein Himmelbett. Sachte legte er ihr eine Hand auf den Rücken und leitete sie langsam in Richtung der Zimmertür.
„Komm wir gehen ein paar Schritte“, behutsam schloss Orion die Tür hinter den beiden.
Auf einem Gelände spazieren zu gehen, wo haufenweise Vampire an jeder Ecke lauerten, gehörte zwar nicht unbedingt zu seinen Hobbys, doch so wie Lika sich benahm würde sie die ganze Nacht wach bleiben und womöglich morgen, während des Empfanges einnicken. Hoffentlich würde ihr diese kleine Nachtwanderung ein wenig Energie rauben.
Sie war zwar noch sehr jung, doch sie hatte eine Ausdauer, die selbst Orion manchmal verzweifeln ließ. Lika war in Kampfkunst nicht sonderlich begabt und dennoch hatte er ihr ein paar Grundlagen der Verteidigung beigebracht und sie übten eigentlich jeden Tag mit Kampfstangen, damit sie nicht aus der Übung kamen.
Anfangs war Lika schnell erschöpft gewesen, doch jetzt, wo sie sich an die Übungen gewöhnt hatte, schien sie nur noch sehr selten davon erschöpft zu sein. Meist nur dann, wenn sie länger übten, als die Tage zuvor, oder eine längere Pause eingelegt hatten.
Das sorgte aber auch dafür, dass sie manche Nächte überhaupt nicht schlafen konnte, weil ihr Körper noch zu viel Energie übrig hatte.
Orion und Lika trafen sich am nächsten Morgen sehr zeitig vor ihren Zimmern, um sich auf den Weg zum Ratssaal zu machen.
Keiner von beiden hatte wirklich gut geschlafen und die Neugier auf den Auftrag war groß. Es war etwas ganz anderes, als die Aufträge für den Hohen Rat und das spürten sie beide.
Deshalb hielt sich Lika auch nervös ein Stück hinter Orion. Das gab ihr ein Gefühl von Sicherheit, denn sie wusste, dass der braunhaarige Wolf auf sie aufpassen würde.
Dieser schob die Tür zum Ratssaal auf und blickte sich um.
Sie waren fast allein.
Lediglich eine junge Frau mit feuerroten Haaren saß auf einen der Bänke und las.
Ihre Haut war so dunkel, wie feine Schokolade und ihr kleiner, aber eleganter Körper, steckte in einem seidenen Kleid, das perfekt jede ihrer Rundungen betonte. Es verdeckte genug, dass sie nicht aufreizend wirkte, aber gleichzeitig zeigte es auch genug, um einen Vorgeschmack darauf zu liefern, was sich in der Verpackung befand.
Orion spannte verbissen seinen Kiefer an, als er den Vampirgeruch der Frau vernahm. Er war zwar darauf vorbereitet auf diese Rasse zu treffen, doch diese im Empfangssaal vorzufinden, konnte einfach nichts Gutes verheißen. Selbstsicher trat er in die Mitte des Raumes, dicht gefolgt von der Werwölfin an seiner Seite.
Neugierig schielte Lika zu der anziehenden Vampirin, doch sie war sehr bedacht darauf, nicht unhöflich zu werden, indem sie diese zu lange anstarrte. Auch Orion war es aufgefallen, dass die Rothaarige nicht, wie die anderen Vampire wirkte. Sie war also schon mal keine Bedienstete. Jedoch wirkte sie auch nicht so, als wäre sie ein Mitglied des Ältesten Rates, der die Vampir-Clans beschäftigte, wie bei den Werwölfen der Hohe Rat. Was also hatte sie hier verloren? Der Werwolf mit den breiten Schultern musste schlucken, als er seinen grünen Blick langsam über die Figur der jungen Frau wandern ließ. Mit einem Mal wandte er seinen Blick ruckartig ab.
*Hör auf zu starren, du Idiot!*, wies Orion sich im Gedanken selbst zurecht.
Er konnte das Lächeln nicht sehen, das sich auf die Lippen der Rothaarigen schlich, die zwar wirkte, als würde sie lesen, aber dennoch alles mitbekam.
Sie senkte das Buch und musterte ihrerseits die beiden Werwölfe sehr genau, wenn auch kürzer.
„Hallo, ich bin Sezuna“, erklang ihre Stimme und sorgte dafür, dass Orion seinen Blick wieder auf sie richtete. Das Gold ihrer Augen irritierte ihn für einen Moment. Werwölfe hatten nicht solche Augen, daher hatte er so etwas noch nie gesehen.
„Lika“, entgegnete die Blauhaarige mit einem kleinen Lächeln, doch hielt sich noch im letzten Moment zurück, Sezuna eine Hand entgegen zu halten. Unsicher schielte sie zu Orion dessen Mimik nicht wirklich auf eine Reaktion schließen ließ. Die Situation schien nicht an Spannung abzunehmen, weshalb die Frau mit dem zweifarbigem Blick das Bedürfnis hatte den Moment zu entschärfen. „Und das ist Orion.“ Keine Sekunde später vernahm sie schon ein gedämpftes Knurren aus Orions Brust, der ihre Worte wohl nicht sonderlich hilfreich fand.
Sezuna lächelte weiter, als würde sie an Orions Reaktion nichts Falsches sehen.
„Da ihr nicht zum WeVa gehört, werdet ihr wohl auch externe Mitarbeiter sein“, stellte sie fest und legte das Buch auf den Abstelltisch neben ihr, ehe sie ein Glas ergriff, in dem sich eine rote Flüssigkeit befand. „Ich habe gehört, dass für diesen Auftrag ein Spezialteam gegründet wird. Von daher werden wir zusammenarbeiten müssen“, erklärte sie und nahm einen Schluck. Sie schien sich überhaupt nicht daran zu stören, dass sie noch immer von zwei Werwölfen angestarrt wurde.
„Ein Team?“ Orion konnte es nicht zurückhalten herablassend die Stirn zu runzeln. „Wir benötigen keine Unterstützung. Wer sagt, dass wir ein Team brauchen?“ Verärgert aber dennoch aufgebracht richtete sich Orion an die dunkelhäutige Dame und schien vollkommen vergessen zu haben, dass sie eine Vampirin war.
„Der Hohe Rat der Werwölfe, der Ältesten Rat der Vampire und der WeVa scheinbar auch“, erklärte ihm die Rothaarige und strich sich eine ihrer leicht gelockten Strähnen hinter die Ohren. Dort blitzte kurz ein Ohrring auf, der jedoch fast sofort wieder von ihren Haaren verdeckt wurde.
Lika gab ein leises 'Oh', von sich.
Einen dieser Räte mochte ein Wesen auf eigene Gefahr ignorieren, doch wenn sich alle drei zusammenschlossen, sollte man lieber nicht zu sehr meckern. Das brachte einem nur unnötige Probleme ein.
Wie ein unzufriedenes Kind dem jemand etwas verboten hatte, verschränkte der Mann mit den braunen Haaren seine Arme vor der Brust. Sollte das eine unterschwellige Ohrfeige seines Vaters werden? Das konnten sie einfach nicht ernst meinen.
Im selben Moment öffnete sich eine große Tür am anderen Ende des Raumes und mehrere Vampire und Werwölfe traten ein. Bisher konnte er keinen vom Hohen Rat wiederkennen. Es musste entweder Mitglieder des Ältesten Rats sein oder des WeVas.
Doch in Anbetracht der Tatsache, dass sich auch Werwölfe unter ihnen befanden, deutete es wohl doch auf letzteres hin. Die beiden Werwölfe und die Vampirin stellten sich diesem gegenüber, als eine Geste des Respekts. Eine groß gewachsene, schlanke Frau mit silbernen Haaren trat in die Mitte der kleinen Gruppe und empfing die drei Anwesenden mit einem herzlichen Lächeln. Obwohl ihre Haare keine Farbe mehr besaßen wirkte ihr Gesicht und auch ihre Haltung wie die einer Frau Ende 20.
„Vielen Dank, dass sie alle erschienen sind.“ Sie runzelte kurz die Stirn, als sie ihren violetten Blick über die Anwesenden schweifen ließ und flüsterte ihrem Nachbarn kurz etwas ins Ohr, worauf dieser nach einem kurzen Nicken den Raum verließ. „Bitte setzen sie sich doch.“ Sie deutete auf einige Stühle, die an einem großen runden Tisch aufgestellt waren.
Aus dunklem Holz waren sowohl Tisch, als auch Stühle kunstvoll geschnitzt. Die Tischplatte war wie ein Mosaik aus Holz, gemustert mit unterschiedlichen Sorten. Hell, dunkel, grau. Gemeinsam ergaben sie ein elegantes, aber auch schlichtes Muster, aus welches man vier Buchstaben erkennen konnte. WeVa.
Die Anwesenden setzten sich, wenn auch etwas zögerlich. Die drei Gäste auf der einen und der vermeintliche WeVa auf der anderen Seite. Die Dame räusperte sich und verschränkte galant ihre Hände vor sich auf dem Tisch. „Sie fragen sich bestimmt alle, wieso sie hier sind. Mein Name ist Cyril. Das sind einige meiner Kollegen. Wir gehören dem WeVa an.“
„Werden die Räte auch noch erscheinen? Schließlich haben diese uns herbestellt, nehme ich jedenfalls an“, fragte Orion nach einer kleinen Pause, um die Dame namens Cyril nicht zu unterbrechen, die eindeutig eine Werwölfin war.
„Ja einige von ihnen werden später zu uns stoßen. Sowohl der Hohe Rat, als auch der Ältesten Rat und auch noch ein gewisser Ehrengast. Doch eins nach dem anderen“, erklärte die Frau mit einer klaren Stimme und schien ihr höfliches Lächeln keine Sekunde zu verlieren.
Die hintere Tür, durch die vor einigen Minuten der Vampir verschwunden war, öffnete sich nun wieder. Alle Anwesenden drehten sich neugierig zur Tür um und beobachteten den Vampir, der sie vorhin verlassen hatte und einen weiteren mit dunkelblondem, zerzausten Locken, die so aussahen, als wäre er eben erst aufgestanden. Müde rieb sich der Blonde über die Augen.
„Tut mir leid. Meine Schuld. Eure Betten sind einfach viel zu gemütlich. Kein Wunder, dass hier alle so gut drauf sind.“
Lässig, wenn auch etwas schleppend, schlenderte der neu angekommene Vampir zum Tisch und setzte sich neben Lika auf einen Stuhl.
Diese zuckte etwas, ließ sich aber sonst nichts anmerken.
„Kaden?“, fragte Sezuna ziemlich erstaunt und blickte von ihrem Platz an Orion und Lika vorbei, auf den Mann mit dem gelockten Haar. Was macht dieser hier?
Kaden sah aus, als wollte er gerade etwas sagen, als eine Stimme erklang, die sowohl Sezuna, als auch Kaden bekannt vorkam. Denn beide hatten sehr oft mit der Direktorin der Dark Knight zu tun gehabt.
„Versucht das Gebäude nicht in die Luft zu jagen, bevor wir euch den Auftrag erklärt haben“, sagte sie und dachte dann kurz nach. „Und danach bitte auch nicht.“
Der Angesprochene drehte verwirrt den Kopf hin und her, abwechselnd zu Sezuna und dann wieder zu deren ehemaligen Direktorin, von der sie beide oft Standpauken kassieren mussten. Doch das lag nun auch schon mehr als 10 Jahre zurück. So einiges hatte sich seit dem geändert.
Sowohl die Tatsache, dass die Direktorin nun dem WeVa angehörte, als auch das Verhältnis zwischen Sezuna und Kaden. Wütend runzelte er die Stirn und begann sich im Raum umzusehen, da er beinahe schon erwartete, dass seine Großmutter, die ihn immer mit einem Kochlöffel gemaßregelt hatte, wenn er sich unerlaubt Süßigkeiten aneignete, aus irgendeiner Ecke schlüpfte. Ein verzweifeltes Lachen umspielte seine Lippen und hallte im Raum wider.
„Das ist ein Scherz oder? Was soll das werden, eine Art Überraschungsparty auf meine Kosten? Da habt ihr euch wirklich den falschen ausgesucht. Sezuna war viel flachbrüstiger, als die Frau da, und um ehrlich zu sein finde ich das Make-Up auch etwas übertrieben. Nichts gegen dich dir steht das.“ Kaden lehnte sich so weit in seinem Stuhl zurück, dass dieser schon in eine kippende Position überging. Er zwinkerte der rothaarigen Frau zu und setzte ein schiefes Grinsen auf. Diese erwiderte seinen Blick jedoch nur mit einem wütenden Funkeln in den goldenen Augen.
„Na wunderbar“, murmelte die Direktorin. Sie war sich nicht sicher, was da ablief, aber sie wusste, dass es nicht gut gehen würde. Es war besser, wenn beide zusammenarbeiteten und nicht gegeneinander. Das machte weniger Chaos, was schon ein Wunder war.