257.Sonnenkreis, Zyklus 1034: Waldausläufer vor Schwarfen, Kaiserreich Sapporien
Kaum dass Marbos durch die letzten Stämme des Wäldchens sehen konnte, merkte er dass etwas nicht stimmte. Schwarfen lag ruhig da, obwohl die Sonne bereits hoch am Himmel stand, und die Ernte zum Teil noch auf den Felder stand. Ihm rutschte das Herz in die Hose, als er die über den Häusern aufsteigende Rauchsäule bemerkte. Ohne lange nachzudenken ließ er den Karren an Ort und Stelle zurück, um ins Dorf zu sprinten. Je näher er den Gebäuden kam, desto schlimmer gestaltete sich die Umgebung. Zwischen den niedergetrampelten Ähren entdeckte er ab und zu tote Tiere und größere rot schimmernde Lachen, doch beim Anblick der ersten Gebäude, die fast ausgebrannt waren, rüttelte ihn die Angst endgültig wach. Marbos kam schlitternd zum Stillstand, sobald er sah, was dort auf dem Dorfplatz aufgetürmt worden war; aus diversen Bewohnern war eine groteske Skulptur erbaut worden. Doppelt so groß wie ein Mensch und fast ebenso breit, pulsierte diese Abscheulichkeit in einem schwachen hellgrün. Der Anblick spielte Marbos so übel mit, dass er sich an Ort und Stelle übergab, während die mühsam zurück gehaltenen Tränen sich Sturzbachweise in den blutgetränkten Boden ergossen. Nachdem er nur noch Galle hervorwürgen konnte, zwang sich Marbos noch einmal, die verknoteten Leichen anzusehen. Dass er weder seine Familie noch Swind und Leandra unter den Toten fand, ließ Hoffnung in ihm aufkeimen. Immer noch weinend lief er zu seinem Heim, nur um festzustellen, dass es nicht mehr existierte. Wahnsinnig vor Verlustängsten wühlte Marbos in der heißen Asche.
„Bitte, Bitte, Bitte lasst sie noch am Leben sein. Sie müssen es in der Keller geschafft haben, ja bestimmt...“, murmelte er immer wieder. Erst als die Haut an seinen Händen mehr Verbrennungen hatte, als er zählen konnte, förderte er, etwa an der Stelle, wo seine Eltern ihr Bett gehabt hatten, mehrere geschwärzte Knochen zu Tage. Von der Erkenntnis wie von einem gigantischen Hammer niedergeschmettert sackte Marbos in sich zusammen und zitterte unkontrolliert am ganzen Körper. Von Heulkrämpfen übermannt, schaffte er es erst am späten Nachmittag wieder Herr seiner Selbst zu werden. Unschlüssig wandelte er zurück in das Dorf hinein und bemerkte, dass das Haus des Dorfvorstehers unerklärlicher Weise den Brand überstanden hatte.
„Leandra! Sie lebt noch!“, schoss es ihm durch den Kopf. Eilends stürzte er durch die offene Tür in das Haus, das grünliche Pulsieren aus dem Inneren nahm er gar nicht wahr. Viel zu spät stockte Marbos, denn das Innere des Hauses war komplett verschwunden, ohne die zusätzlichen Stützen der Wände drohte das Konstrukt einzubrechen. Doch im Zentrum des nun hallenähnlichen Raums entdeckte er drei Personen, die an Pfähle gebunden waren.
„Leandra“, stieß er überglücklich hervor, sobald er merkte, dass die zierliche Gestalt am mittleren Pfahl schwach atmete.
Er hatte gerade einen Schritt in den Raum getan, als die Schatten eine kurze, aber breit gebaute Gestalt freigaben.
„Ein Zwerg“, dachte Marbos sofort, während sich der bärtige Fremde geräuschlos näherte. Tatsächlich schien er über die Holzbohlen zu schweben, denn eine Bewegung konnte Marbos nicht erkennen, so sehr er es auch versuchte.
„Ich hatte so ein Gefühl, dass ich einen übersehen habe heute Nacht“, sprach der Zwerg mit einer grollenden Stimme, die keinen erkennbaren Ursprung hatte: „Du hast mir sehr weitergeholfen, alles was ich noch brauchte, war ihr Name. Aber den wollte die Kleine mir nicht geben, was mir unerklärlich ist. Sie hat schließlich mit ansehen müssen, wie ich und meine Freunde...“, er zog das Wort übermäßig in die Länge:„...aus jedem einzelnen dieser armen Schweine jede Information raus gesaugt haben, die wir haben wollten. Wie dem auch sei, am Leben lassen kann ich dich eigentlich nicht.“ Während er grübelte, zwirbelte der Zwerg geradezu zärtlich seine zerzauste Bartpracht.
In Marbos schrie derweil jeder einzelne Muskel nach Flucht, besonders weil auf der Stirn des Zwerges eine Rune in milchigem Grün schimmerte. Kaum wandte er ihm jedoch den Rücken zu, fiel die Tür zur Außenwelt knarrend ins Schloss. Kopfschüttelnd stand er Zwerg vor ihm und seufzte: „Tut mir Leid, aber Abhauen ist nicht drin, jetzt ist es zu spät.“ Er klatschte in die schwieligen Hände, der entstandene Laut erinnerte Marbos jedoch mehr an eine Glocke. Unnatürlich langsam waberte das Geräusch durch den Raum und aus dem Augenwinkel nahm er noch wahr, wie Leandra angsterfüllt zusammenzuckte.
„So, das sollte fürs Erste genügen.“ Ohne Marbos weiter zu beachten schwebte der Zwerg nun auf Leandra zu, die hilflos an ihrem Pfahl ausharrte. „Also, wie war dein Name noch gleich? Leandra? Hübscher Name, ehrlich. Du hast wie alle Anderen jetzt die Wahl: Entweder du stellst dich freiwillig auf die Seite von Zerandil, dem größten aller Fluchfürsten nördlich der Meerenge oder ich mache dich zu einem seiner Diener, was wirklich nicht mehr viel von dir übrig lassen wird. Also, was ist deine Antwort, Leandra?“ Er kostete jeden einzelnen Buchstaben ihres Namens aus.
„Bei Lios, du wirst ihr nichts tun, solange ich es verhindern kann“, brüllte Marbos verzweifelt, doch der Zwerg lachte lediglich: „Nur zu, versuche doch mich aufzuhalten.“
Marbos wollte einen Schritt machen, doch seine Bein versagten ihm den Dienst, seine Arme erwiesen sich als ebenso unzuverlässig, nicht einmal den Kopf konnte er drehen. „Was bei allen bösen Geistern des Jenseits....“
„Eine Schattenklammer“, begann der Zwerg auszuführen: „solange die Sonne nicht diesen Raum erhellt, kannst du dich nicht bewegen, es sei denn, ich möchte es.“ Unvermittelt widmete er sich wieder Leandra: „Wie du siehst hat es Vorteile, seinen freien Willen Zerandil zu überantworten. Wie entscheidest du nun?“
„Niemals werde ich deinem Meister dienen“, spie ihm Leandra entgegen und wirkte trotz ihrer erbärmlichen Verfassung in diesem Moment würdevoller als es der adlige Vielfrass vom Vorabend je sein könnte. „Die Schändung meiner Familie und Freunde soll dich teuer zu stehen kommen. Ich werde aus dem Jenseits dabei zusehen, wie dich deine Frevel in die Knie zwingen.“
Der Zwerg schüttelte den traurig den Kopf: „Das ist äußerst bedauerlich. Warum ihr Langen nicht einmal einsichtig sein könnt, ist mir ein Rätsel. Aber seis drum, dann mache ich es halt selbst.“
Er verschränkte seine kurzen, muskulösen Arme vor der Brust und stimmte einen unverständlichen Singsang an. Im selben Moment fuhr ein Ruck durch Leandras Körper, ihr Blick schoss zur Decke, wobei ihr Genick ein lautes Knacken vernehmen ließ. Das Grummeln des Zwerges wurde stetig lauter und über Leandra verdichtete sich ein silbriger Dunst. Ach du liebe Güte, tönte plötzlich eine fremde Stimme durch Marbos' Kopf: Junge du bist eine Schande für deine Vorfahren, nur dass du's weißt.
„Wer bist....“, setzte Marbos zu einer Frage an, doch krabbelten ihm die lebendig gewordenen Schatten augenblicklich wie eine Horde Käfer in den Mund.
Wer ich bin? Also wirklich, was haben dir deine Eltern eigentlich von der Geschichte deiner Familie erzählt? Marbos begann um Luft zu ringen, weswegen die Stimme kurz verstummte, dann aber doch fortfuhr: Dieses eine Mal helfe ich dir, aber danach musst du wirklich mehr über deine Rolle in dieser Welt lernen. Anschließend umfing ihn wieder nur das Gemurmel des Zwerges vor ihm, jedoch spürte er eine Wärme in sich aufsteigen, die sich leicht pulsierend einen Weg nach außen zu bahnen schien. Nach und nach wichen die Schattententakel vor dem Licht zurück, dass aus jeder einzelnen von Marbos Poren drang.
Kaum, dass er die Hände wieder frei bewegen konnte, stürzte er sich auf den Zwerg. In einem Knäuel aus Gliedmaßen gingen die beiden zu Boden, doch das Gemurmel des Fremden brach nicht ab.
„Wirst du wohl endlich still sein!“ Mit jedem Wort krachte eine von Marbos' Fäusten in das bärtige Gesicht, doch auch nachdem seinem Kontrahenten mehrere Zähne fehlten und sein Gesicht langsam wie Gulasch aussah, unterbrach dieser seinen monotonen Singsang nicht. „Lass sie in Frieden!“ Mit der Kraft der Verzweiflung drosch Marbos ein letztes Mal auf den Zwerg und tatsächlich erstarb die fremdartige Sprache. Im verquollenen Gesicht öffneten sich zwei pupillenlose Augen. „Wie bist du frei gekommen“, sprudelte es undeutlich zwischen den aufgesprungenen Lippen hervor. „Trotzdem zu spät“, ein hämisches Grinsen huschte über das Gesicht des Zwerges und er zerbröselte in winzig kleine, grüne Kristallsplitter, die - einem eigenen Willen folgend - zum Ausgang flossen.