Als Alexandra am Mittwochmorgen an ihren Schreibtisch kam, fand sie dort einen Stapel mit Pressemitteilungen vor. Begeistert, dass jemand ihr echte Arbeit gegeben hatte, legte sie ihre Tasche zur Seite, hängte den Mantel auf und setzte sich hin, begierig, direkt anzufangen. Rasch blätterte sie durch den Stapel. Mit jeder Pressemitteilung, die sie überflog, sank ihre Laune, bis sie sich schließlich zu fragen begann, ob jemand ihr einen Streich gespielt hatte. Immerhin, das hier waren alles echte Pressemitteilungen und sie waren alle aktuell. Aber sie kamen aus dem Bereich Lokales, handelten von Kleingärtenvereinen, Fußballmannschaften und Flohmärkten für wohltätige Zwecke. Alexandra erinnerte sich nur zu gut, wie sie mit sechzehn Jahren ihr erstes Praktikum in der Lokalredaktion einer größeren Zeitung gemacht hatte – dort hatte ihre ganze erste Woche nur daraus bestanden, genau solche Pressemitteilungen in lesbare journalistische Texte zu übersetzen. Schon damals hatte sie sich mehr als unterfordert gefühlt, war aber dankbar gewesen, wenigstens nicht den sprichwörtlichen Kaffee kochen zu müssen.
„Oh, hey", wurde sie da von der fröhlichen Stimme von Katharina aus ihren finsteren Gedanken gerissen: „Ich sehe, du hast deine Aufgabe für heute schon gefunden!"
Alexandra zwang sich, die Wut aus ihren Gesichtszügen und aus ihrer Stimme rauszuhalten: „Ich dachte, ich bin im Online-Team? Ist dies nicht eher etwas für den Lokalbereich?"
Katharina kicherte fröhlich: „Du darfst nicht in so strengen Grenzen denken. Gerade bei Online ist das alles sehr schwammig, ihr helft überall mit. Es gibt auf der Website schließlich auch einen Bereich für Lokales, weißt du das nicht? Du schreibst also die Texte dafür und sie werden direkt für die Printausgabe morgen genommen. Zwei Fliegen mit einer Klappe!"
Langsam nickte Alexandra. Also war das tatsächlich ernst gemeint. Wozu hatte man sie durch das Bewerbungsgespräch geschickt und nach Arbeitsproben verlangt, wenn man sie nun doch wieder ganz von vorne beginnen lassen wollte? Sie seufzte und blätterte erneut wahllos im Stapel.
„Wenn du nicht weißt, wie das geht, ich kann es dir gerne zeigen", bot Katharina mit einem zuckersüßen Lächeln an. Noch ehe Alexandra etwas erwidern konnte, rollte sie mit ihrem Bürostuhl um die Ecke, griff sich die oberste Pressemitteilung und überflog sie: „Ah, hier hat ein Kleingartenverein einen neuen Präsidenten gewählt. Pressemeldungen lesen sich immer gleich, also müssen wir sie umformulieren. Das Wichtigste dabei ist, dass unsere Leser direkt zu Beginn wissen, worum es geht. Also anstatt mit dem Tag, wann die Wahl war, anzufangen, kannst du besser mit dem Thema, also dem Präsidenten anfangen."
Stumm beobachtete Alexandra, wie ihre Freundin aus der halbseitigen Pressemitteilung einen Artikel mit drei kurzen Sätzen machte, der sich für die kleine Spalte im Lokalteil eignete. Sie war sich sicher, dass Katharina genau wusste, dass diese Art von Arbeit in jedem Redaktionspraktikum vorkam, und dass entsprechend jemand, der nach diversen Praktika nun ein Volontariat machte, keine Einarbeitung dafür mehr benötigte. Es war unmöglich, dass Katharina annahm, dass sie hier gerade neues Wissen vermittelte. Sollte das Schikane sein? Wollte sie ihre Rolle als Helferin ausbauen, um eine Machtposition aufzubauen? Tief seufzte Alexandra. Noch verstand sie Katharinas Motivation nicht, aber sie würde die Augen und Ohren offen halten, um so schnell wie möglich zu erkennen, was hier gespielt wurde.
Sie nickte, sagte freundlich Danke, und machte sich dann daran, die restlichen Mitteilungen zu Artikeln zu verarbeiten. Katharina blieb neben ihr sitzen, strich sich immer wieder den gerüschten Rock glatt, und nickte ermunternd, während Alexandras Finger über die Tastatur flogen. Vielleicht war das auch einfach Arbeit, die getan werden musste, und blieb heute deswegen an ihr hängen, ohne böswillige Hintergedanken. Wenn sie bis zur Redaktionskonferenz fertig war, hatte sie sicherlich die Möglichkeit, eine richtige Aufgabe zu übernehmen.
„Na, ihr zwei Hübschen, schon so fleißig am frühen Morgen?"
Überrascht hob Alexandra den Kopf und starrte über den Rand ihres Bildschirmes zu ihrem Chef, Herrn Winkler, hinauf. Hatte er sie gerade tatsächlich auf diese Weise angesprochen?
„Ich bin immer fleißig, das weißt du doch, Stefan", erwiderte da Katharina lachend: „Und da mir Alexandra unterstellt wurde, sorge ich dafür, dass sie es auch ist."
Oho", meinte der Ressortleiter und hob spielerisch eine Augenbraue: „Noch ganz neu und braucht schon die Peitsche im Nacken?"
Alexandra konnte an dem Tonfall deutlich hören, dass er seine Äußerung nur im Scherz gemeint hatte, dennoch schmeckte ihr der Verlauf dieser Unterhaltung nicht. Sie war anwesend, sie stand direkt neben den beiden – mussten sie so über sie sprechen? Sie zwang ein unverbindliches Lächeln auf ihre Lippen und griff nach ihrem Block und Stift, um sich auf den Weg zur Konferenz zu machen.
„Was du immer gleich denkst! So habe ich das nicht gemeint", entgegnete Katharine lachend und schlug ihm spielerisch gegen den Oberarm.
Interessiert hob Alexandra eine Augenbraue. Daher wehte also der Wind. Während sie hinter den beiden her zur Konferenz ging, beobachtete sie die Interaktionen genauer. Eigentlich war es kein Wunder, dass sich ihre ehemals beste Freundin für Stefan Winkler interessierte. Auf seine ungekämmte Art sah er extrem gut aus, er war charmant, wenn er es wollte, und vor allem war er wesentlich offener als beispielsweise ihr direkter Chef, Philipp Baumann. Und er war Ressortleiter. Das ideale Objekt der Begierde für eine Frau wie Katharina.
Wenn die Scherze zwischen den beiden nicht auf ihre Kosten gegangen wären, hätte sie die Situation vielleicht sogar lustig finden können. So jedoch konnte sie nicht anders, als genervt zu sein von der Flirterei zwischen beiden. Alexandra wusste, dass Katharina in mancherlei Hinsicht eine untypische Frau war, immerhin hatte sie während des Studiums in einem Laden für Videospiele gejobbt. Doch jetzt gerade legte sie das stereotype Verhalten einer klischeehaften Frau hin: lachen, ein paar Schläge, und bloß nicht den Verlauf der Konversation selbst bestimmen. Was das Ganze noch schlimmer machte: Herrn Winkler gefiel das offensichtlich, denn er engagierte sich aktiv in der Unterhaltung, schäkerte und grinste, was das Zeug hielt, und schien sich nicht darum zu kümmern, dass diese Ebene der Beziehung zwischen Boss und Angestellte schwierig sein könnte.
„Die beiden wären ein süßes Paar, oder?"
Überrascht schaute Alexandra nach links. Beinahe aus dem Nichts war eine kleine, kugelige Frau neben ihr aufgetaucht, ein breites Grinsen im Gesicht, wie sie selbst bewaffnet mit einem Block und Kugelschreiber.
„Ich bin Chantal", verkündete sie ungefragt und streckte Alexandra die Hand hin: „Wir hatten noch nicht die Chance. Ich bin Kultur."
Mehrmals blinzelte Alexandra, während sie die Hand schüttelte, ehe sie ein: „Angenehm. Ich bin Alexandra", rausbrachte.
„Sorry für meine Bemerkung", meinte Chantal, den Blick auf die beiden Redakteure vor ihnen gerichtet: „Aber ich hab gesehen, wie du die zwei angestarrt hast. Alle in der Redaktion wissen, dass die zwei ständig flirten. Ziemlich süß."
„Ja", nickte Alexandra: „Süß. Aber wenn sie immer flirten, wieso sind sie dann kein Paar?"
Chantal zuckte nur mit den Achseln: „Wer weiß. Meine Vermutung ist ja, dass unser guter Stefan es bevorzugt, der begehrenswerte Single zu sein. Ich wette mit dir, die zwei waren schon zusammen in der Kiste."
Alexandra gab einen unidentifizierbaren Laut von sich und beschloss, das besser unkommentiert stehen zu lassen. Es war eine Sache, sich mit jemandem wie Matthias über Katharina zu unterhalten, aber etwas ganz anderes, über einen der Chefs zu lästern. Chantal schien keine bösen Absichten zu haben, aber wer wusste schon, welche Worte nicht am Ende doch im falschen Ohr landeten.
„Komm schon", flüsterte Chantal und stieß ihr einen Ellbogen in die Seite: „Wir alle hier haben so viel Spaß damit, die internen Affären zu analysieren. Nimm's nicht so ernst."
Ehe ihr darauf eine passende Antwort einfiel, waren sie am Konferenzraum angekommen, wo schon Matthias mit einem breiten Grinsen auf sie wartete: „Na, hat Chantal dich endlich in ihre Finger bekommen?"
Fragend legte Alexandra den Kopf schräg: „Bitte?"
„Was Herr Muskelberg hier sagen will", erklärte Chantal schnippisch, „ist, dass ich immer gerne Frischfleisch kennenlerne."
„Nö", Matthias schüttelte den Kopf und legte eine Hand auf der so viel kleineren Frau ab: „Was ich sagen wollte, ist, dass du immer neue Leute zum Lästern suchst."
Als Chantal daraufhin ihre Lippen zu einem Schmollmund verzog, bemerkte Alexandra, dass sie ein Piercing hatte. Fasziniert studierte sie das Gesicht näher: Nicht nur in der Lippe, auch in einem Nasenflügel und einer Augenbraue steckte ein Piercing, und die Ohren waren ebenfalls übersäht mit Metall.
„Hab ich was im Gesicht?", verlangte Chantal zu wissen, nachdem Alexandra für einen Moment zu lange gestarrt hatte.
Errötend schüttelte sie den Kopf: „Nein, nur eben ... die Piercings. Ziemlich beeindruckend, aber tut das nicht weh?"
„Piercings zeigen, wie cool man ist, da spielt Schmerz keine Rolle", mischte sich plötzlich Katharina ein, die sich von Herrn Winkler gelöst hatte und zu ihrer Gruppe hinzugetreten war: „Oder, Chantal?"
Diese nickte bestätigend: „So kann man es auch ausdrücken. Wenn man sich erstmal dran gewöhnt hat, spürt man das gar nicht mehr, wie bei normalen Ohrringen auch."
Fragend schaute Alexandra zu Matthias hoch, doch der zuckte nur mit den Achseln und rollte mit den Augen. Gemeinsam traten sie in den Konferenzraum ein, und während Katharina ihren Platz am Tisch einnahm, gesellte Chantal sich zu ihren Kollegen aus der Kulturredaktion. Wie die Tage zuvor blieb Matthias neben Alexandra am Rand stehen.
„Chantal ist ne Liebe", flüsterte er ihr zu, während noch Lärm vom allgemeinen Plätzesuchen herrschte: „Aber ein bisschen ... schlicht. Ich hab schon häufiger versucht, ihr zu erklären, dass Kathi ihre Kommentare nicht nett meint, aber Chantal sieht das nicht. Sie findet Kathi cool."
„Jeder findet Kathi cool", wisperte Alexandra zurück: „Was sie ja auch ist. Sie ist halt nicht so eine anstrengende Frau wie viele andere."
Mit erhobenen Augenbrauen blickte Matthias auf sie hinab: „Wieso klingt das so, als ob du eifersüchtig wärst?"
„Ich habe keinen Grund, eifersüchtig zu sein", presste sie mühsam zwischen ihren Zähnen hervor.
„Hat sie dir mal einen Kerl ausgespannt?"
„Halt jetzt die Klappe!"
„Ich deute das mal als Ja."
Zu Alexandras Erleichterung begann in diesem Moment die Redaktionskonferenz. Sie hatte kein Interesse daran, mit irgendjemandem darüber zu sprechen, was genau damals vorgefallen war. Katharina war ihre beste Freundin gewesen und hatte ihr in vielen Notsituationen Beistand geleistet. Dass sie das nur getan hatte, weil sie sich für den gleichen Mann interessiert hatte, änderte nichts an der Tatsache, dass sie im Großen und Ganzen eine coole Frau war. Und da es hier in der Redaktion keinen Mann gab oder geben würde, für den Alexandra sich interessieren würde, gab es auch keinerlei Anlass für Eifersucht.