Zufrieden hatte Lord Hiram Sandringham den neu eingestellten Dienstboten dabei zugesehen, wie diese sein Zuhause auf Zeit für das Fest am Abend hergerichtet hatten. In der kleinen Eingangshalle stand ein eindrucksvoller, festlich geschmückter Weihnachtsbaum. In Gedenken daran, dass er es bei den Bewohnern hier mit orthodoxen Katholiken zu tun hatte, hatte er einige der hier üblichen Bräuche bedacht und an der Spitze des Baumes den obligatorischen, achtzackigen Stern anbringen lassen, der im östlichen Glauben für den Stern von Bethlehem stand, der die Weisen zum Jesuskind geführt hatte. Da die Traditionen in diesem Land im Grunde nicht viel anders waren als in England, sah Hiram darin auch keinen Widerspruch zu seiner erlernten und angewandten Religion. Er freute sich vielmehr auf das Zusammensein und war neugierig auf die Menschen, die hier lebten.
Ob es sich auch bei den Adligen um »Wilde« handelte, wie manche seiner Landesgenossen spöttisch getönt hatten, um eher unzivilisierte Barbaren in lieblosen Festungen, die Höhlen glichen, um dunkelhäutige Fremde, die unter dem Einfluss der immer wieder einfallenden Osmanen standen.
Bislang hatte Hiram all diese Vorurteile entkräften können. Das Schloss, das er bewohnte, war mitnichten eine Höhle, es war geschmackvoll und sehr elegant eingerichtet und stand dem modernen Stand Englands in nichts nach. Die Möbel waren aus gutem Holz, die Teppiche und Wandbehänge waren gut gearbeitet, auch wenn vieles unverkennbar persischen Einfluss hatte, was manche Muster anging. Durch die langen Wintertage mochte es düster wirken, doch das Land war lebendig, wild und schön, wenn die Sonne es erhellte. Die Menschen waren ein eigenwilliges Völkchen und sehr abergläubisch, aber das waren die armen Tölpel vom Lande in England auch. Er ging davon aus, dass ein niedriger Bildungsstand bei allen Menschen bewirkte, dass sie sich wie Wilde benahmen. Wer nicht gebildet war, der wusste es nicht besser.
Er hoffte, dass die Adligen hier herzlichere Gesprächspartner waren, die nicht diesen harschen Dialekt vom Lande sprachen, den Hiram zwar verstand, sich aber schwer tat.
Und, bat er Gott mehrfach, lass es nicht nur Greise und alte Schachteln sein. Er wollte die Zeit seines Urlaubs hier nicht mit Beerdigungen verbringen, sondern mit Abenteuern, Musik und Tanz.
Der Duft des vorbereiteten Essens drang durch das Schloss, als der junge Mann in der Bibliothek am Fenster stand und nach draußen blickte. Es schneite seit Tagen beinahe ohne Unterlass. Noch nie hatte er so viel Schnee gesehen und er hoffte, dass dies nicht die Anreise erschweren und seine Party ruinieren würde. Andererseits waren die Menschen hier diese Bedingungen gewöhnt. Unruhig wanderte er durch das Schloss, erschreckte die Dienstmädchen dabei, wie sie die Gästezimmer für eventuelle Übernachtungsgäste herrichteten und stibitzte sich Häppchen aus der Küche.
Bevor der Abend hereinbrach, musste er unbedingt noch einmal etwas zur Beruhigung haben. Doch er konnte es sich nicht leisten, eines der Mädchen fortzulocken, um sich an ihr zu laben. Erstens brauchte er jedes von ihnen für die Festlichkeiten und zweitens war es ohnehin nicht so leicht, neue Dienstboten zu bekommen. Wenn in seinem Haus immer wieder Leute verschwanden, würde sich das bald herumsprechen. Er musste sich zusammenreißen. Vielleicht tat es auch eines der Pferde im Stall. Er musste es ja nicht töten. Diese Tiere waren stark genug, um etwas Blutverlust zu verkraften.
Seine Nerven flatterten wie ein junger Schmetterling. Sich irgendwo neu einzuführen war immer wieder aufregend, egal wie oft man es bereits getan hatte. Mit dem beruhigenden Gefühl, eine Entscheidung getroffen zu haben, verließ er das Schloss in Richtung der Stallungen, in denen drei starke und sehr entspannte Pferde untergebracht waren.
Mit einem spitzbübischen Grinsen stand Hiram am Abend auf der Galerie und blickte aus dem Fenster auf den Schlosshof. Einer der Burschen hatte die Fackeln und Feuerschalen entzündet und alles war hell erleuchtet. Der Anblick der Flammen auf dem weißen Schnee war magisch.
Alle die, die er eingeladen hatte, hatten ihm eine Zusage geschickt und würden heute Abend hier eintreffen. Doch am meisten gespannt war er in der Tat auf den Grafen Draganesti, der als Erster schriftlich zugesagt hatte und der laut Auskunft seines Botenjungen noch recht jung sein sollte. Hiram hatte schon immer eine Schwäche für orientalische, dunkle und schöne Männer gehabt. Auch wenn es nötig war, derartige Neigungen in seinem Heimatland und auch sonst überall verborgen zu halten, war es keine Schande, als Kenner und Liebhaber von menschlicher Schönheit zu gelten, egal welchen Geschlechts. Immerhin hatten schon die alten Griechen die männliche Perfektion durch Statuen in Szene gesetzt.
Aufregung wallte in ihm hoch, als sein Hofmeister ihm die ersten Kutschen ankündigte, die sich die Straße entlang bewegten. Erfreut sah er mit an, als die ersten Gäste in den Schlosshof fuhren. Die Menschen waren so verschieden wie die Fortbewegungsmittel, die sie besaßen.
Doch sie hatten eine Gemeinsamkeit: Sie waren alle nicht mehr jung. Alle hatten sie mindestens die 40 überschritten. Hiram betrachtete die Personen, die von seinen Dienern in Empfang genommen wurden, von seinem erhöhten Punkt aus, an dem ihn keiner sehen konnte, der nicht wusste, dass er da war. Sie waren zweifellos alle Adlige. Und sie legten offenbar großen Wert darauf, dass man das auch sehen konnte. Die Kleider, die viele, besonders die Herren, trugen, wirkten überladen und zu bunt, fast schon albern und narrenhaft, als sollte dies eine Parodie sein. Als wären es Clowns in einem Zirkus. Hautenge, gestreifte Strümpfe über zu dicken Waden, winzige, spitz zulaufende Schuhe mit einer Schnalle oben drauf und einem winzigen Absatz, der die Masse der schwergewichtigen Männer beinahe nicht tragen konnte. Aufgebauschte Pluderhosen in grellen Farben zu passenden Wamsen, die über runde Bäuche gespannt waren und ausladende Wintermäntel, die die Herrschaften noch gewaltiger wirken ließen. Nicht zu vergessen die nach neuster Mode frisierten, gelockten Haare, auf denen gigantische Hüte prangten, deren Federn von einem Riesenvogel stammen könnten.
Hiram stand an seinem Ausguckpunkt und verzog die Lippen zu einem belustigten Grinsen. Er musste sich hier oben über sie auslachen, sonst würde er ihnen später, wenn er ihnen gegenüber stand, vermutlich ins Gesicht lachen.
Neueste Mode war schön und gut, doch nicht jeder sollte jeden letzten Schrei mitmachen. Schon gar nicht, wenn man als Gentleman offenbar die 50 oder 60 bereits überschritten hatte. Den Protz und Putz sollte man den Damen überlassen, die nicht weniger aufgetakelt waren und ihre eingesunkenen Busen versuchten, mit zu eng geschnürten Korsetts wieder in Form zu bringen.
Er seufzte. Schaulaufen, wer sich die aufwändigste Garderobe leisten konnte, war also kein Phänomen, was es nur in England gab. Noch ein Punkt für die Rumänen, der sich von Wilden unterschied.
Gespannt blickte er weiter auf die Ankommenden. Es war mit den Dienstboten so ausgemacht, dass diese die Gäste in den kleinen Rittersaal brachten, der ebenfalls mit einem Weihnachtsbaum und Lichtern geschmückt war. Eine kleine Kapelle sollte für die amüsante Stimmung und Musik sorgen und das Essen sollte als Buffet bereit stehen. Erst wenn alle Gäste eingetroffen waren, wollte er sich der versammelten Menge vorstellen und sich dann jedem Einzelnen widmen.
Je mehr Kutschen eintrafen und je mehr alte Männer und Frauen mit ihren fast erwachsenen Söhnen und Töchtern ausstiegen, desto mehr stieg Hirams Spannung, wann denn der Graf Draganesti eintreffen würde. Er wusste, dass dieser der Einzige war, der ohne Gemahlin und nur mit einem Butler kommen würde. Es wurde ihm so von seinem Hofmeister berichtet, der die Fürstenfamilie kannte. Der Graf, so hatte dieser ihm erzählt, war erst seit Kurzem verwitwet.
So lauerte er und so vergingen die Minuten. Der Himmel wurde dunkler, Lachen sich begrüßender Menschen drang zu ihm herauf, ebenso das leise Stimmengewirr derer, die sich bereits im Saal befanden, dessen Flügeltüren zur Halle hin offen standen. Oben auf seiner Galerie, im Schatten am Fenster stehend, hatte ihn noch immer niemand ausgemacht. Seine guten Ohren wehten ihm Gesprächsfetzen zu, Fragen, die gestellt wurden über den unbekannten Lord, der zum Fest einlud. Gut, dass man über ihn sprach. Er würde sie nicht enttäuschen.
Als nach der letzten Kutsche beinahe 20 Minuten vergingen, ohne das eine neue ankam, ergriff eine unangenehme Unruhe den jungen Lord. Konnte es sein, dass sich der Graf dagegen entschieden hatte, zum Fest zu erscheinen? War er womöglich erkrankt? Unmut machte sich in ihm breit. Unter dem adeligen Nachwuchs, der seine Eltern begleitete, waren einige vielversprechende junge Männer und auch Mädchen dabei, die sich anbieten und sicher einen guten Zeitvertreib abgeben würden. Doch das war keine Option, solange Hiram nicht wusste, dass der junge Graf nichts für ihn war.
Allein seine elegante, klare Handschrift hatte dessen tiefste Neugier geweckt, ebenso der leichte Duft, der von dem Pergament ausgegangen war, das seine Finger berührt hatten.
Als könnte er es erzwingen, lehnte er seinen Kopf an die eiskalte Fensterscheibe und starrte in die Finsternis. Die Eiskristalle daran schmolzen nur langsam, da Hiram kaum Wärme versprühte. Leise hieb er mit der Faust gegen das Glas, als tatsächlich eine Laterne jenseits der Schlossmauer auf der Straße erschien.
Sein Herz begann, etwas schneller zu schlagen und das Glas, an dem seine Finger lagen, beschlug nun doch etwas.
Eine elegante, ebenholzfarbene Kutsche, an deren Flanke ein Wappen mit einem Drachen gemalt war, fuhr auf den Hof ein. Einige der angekommenen Gäste, die noch draußen stehen geblieben waren, um bei der frischen Abendluft noch eine Pfeife zu rauchen, wandten sich ebenfalls zu ihr um und ein Raunen der Überraschung ging durch sie.
Das Gefährt hielt und ein hochgewachsener Mann mit kurzen Haaren und einem gut sitzenden Mantel sprang heraus, um die Trittleiter auszuklappen.
Hiram wagte kaum zu blinzeln. Diese Person musste der Butler sein, von dem sein Hofmeister gesprochen hatte, denn kein Adliger würde so salopp aus einer Kutsche hüpfen. Und in der Tat folgte dem Diener nur eine Minute später ein junger Mann mit langen, im Nacken zusammengebundenen Haaren, der eine schlichte, schwarze Fellmütze trug, passend zu einem unauffällig eleganten Wintermantel. Er trug keine albernen Pluderhosen und dämliche, weibische Schuhe.
Die Nase des heimlichen Beobachters haftete beinahe an der Glasscheibe und er kam sich wie ein gemeiner Voyeur vor, dass er den Grafen Draganesti so schamlos anstarrte, doch er war perfekt.
Von den tief dunklen Augen über seine alabasterfarbene Haut bis hin zu den Zehen seiner hochgewachsenen Gestalt.
Der Graf wandte sich, offenbar verlegen, an seinen Butler und als seine feinen Lippen sich bewegten, fingen Hirams gute Ohren den Satz »Wir scheinen uns ganz schön verspätet zu haben!« auf.
Der Ankömmling ging auf die Leute zu, die draußen vor dem Schloss standen und begrüßte diese mit einem charmanten Lächeln. Nur Hiram fiel auf, wie angespannt der junge Mann dabei wirkte. Als schämte er sich für etwas.
Nun, er würde sicher herausbekommen, warum er so besorgt war. Erleichtert und doch voller innerer Unruhe, Verlangen und Tatendrang lehnte sich Hiram noch eine Sekunde an das kalte Glas, in der Hoffnung, es würde ihn etwas herunterkühlen.
Jetzt waren endlich alle Gäste eingetroffen, nun konnte der Ball beginnen.