Kapitel 7
Es war die erste Prügelei in Jonas’ ganzem Leben gewesen. Noch nie hatte er seine Hände gegen einen anderen Menschen erhoben, hatte noch nicht einmal je mit diesem Gedanken gespielt. Nicht einmal bei Justin. Auch heute hatte er nicht gedacht… nicht darüber nachgedacht. Weder davor noch währenddessen. Etwas in ihm hatte sich ausgeschaltet und er ängstigte und ekelte sich bei der bloßen Erinnerung daran vor sich selbst. Was war nur los mit ihm? Er hatte Justin geschlagen, hatte ihn körperlich verletzt so wie er ihn immer seelisch verletzte, aber die Genugtuung war ausgeblieben. Alles hatte sich letztendlich falsch und widernatürlich angefühlt… so, wie sich in letzter Zeit sein ganzes Leben anfühlte. Ohne Jillian war er einfach nicht mehr er selbst.
Jonas schloss die Tür auf und betrat das Haus. Zum ersten Mal in seinem ganzen Leben war er froh, es vollkommen leer vorzufinden. Nach der Schlägerei mit Justin hatte er zwei ganze Stunden im Zimmer seines Klassenlehrers damit verbracht, um sich anzuhören, wie enttäuscht jetzt alle Welt von ihm sei. Er selbst war auch nicht gerade stolz auf seine Tat und bereute sie auch schon, doch Justin hatte es einfach nicht anders verdient. Niemand hatte das Recht, über Jillian zu sprechen, als wäre sie eine willenlose Puppe.
Er rieb sich die schmerzende Stelle unter seinem linken Auge, Justin hatte anscheinend gute Arbeit geleistet. Wie gut, dass ihm noch etwas Zeit blieb, bevor seine Eltern nach Hause kamen!
Sein Vater hatte an diesem Tag Spätschicht, während seine Mutter später noch eine Freundin besuchen wollte, die heute ihren Geburtstag feierte. Jonas wollte sich gar nicht erst vorstellen, was passiert wäre, hätte er seine Eltern jetzt hier angetroffen. Aufgrund des Zustandes seiner Sachen und dem blauen Fleck in seinem Gesicht, hätten sie nicht lange rätseln müssen, was geschehen war.
Auch war er seinem Klassenlehrer, Herrn Kant, zu tiefstem Dank verpflichtet. Mit viel Überzeugungskraft hatte er ihm klarmachen können, dass es absolut nicht ratsam war, seine Eltern über den Vorfall zu unterrichten. Während seine Mutter ihn zur Rede gestellt hätte, wäre sein Vater schnurstracks in die Schule gegangen, um sich über die, in seinen Augen, nicht erfüllte Aufsichtspflicht der Lehrkräfte zu beschweren.
Die Höchststrafe für sein Vergehen hatte Jonas allerdings schon bekommen. Herr Kant hatte ihm fassungslos begreiflich gemacht, wie enttäuscht er von seinem besten Schüler war.
Seufzend warf er seine Schultasche in die Ecke und blieb noch ein paar weitere Minuten unschlüssig im Korridor des großen Hauses stehen. Vielleicht war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um seiner besten Freundin einen Besuch abzustatten, aber nun zog ihn alles zu ihr hin. Er wollte jetzt einfach nur bei ihr sein. Zusammen würde alles viel weniger wehtun, da war er sich sicher.
Aus einem inneren Impuls heraus, verließ er kurzentschlossen wieder das Haus und stand wenige Augenblicke später vor Jillians Tür. Ungeduldig drückte er auf die Klingel, er hatte schon viel zu lange gewartet. Als er hörte, wie sich Schritte näherten, begann sein Herz wie wild zu schlagen. Ja, er war aufgeregt. Wie würde sie über seinen viel zu späten Besuch reagieren? Würde sie ihm sehr böse sein? Mit flatternden Nerven wartete er, bis sich der Schlüssel auf der anderen Seite der Tür im Schloss umgedreht hatte und sie sich öffnete.
Abgehetzt und genervt schloss Jillian die Haustür auf. Sie hatte genug von den Besuchen der Nachbarn, Arbeitskollegen oder Freunde ihrer Eltern, die Tim und ihr Beleid bekunden wollten. Sie wussten doch, dass es jedem Leid tat! Es zu hören, schmerzte so viel mehr.
Mit diesen Gedanken öffnete sie die Tür, um dann überrascht Mund und Augen aufzureißen. „Jonny!“
Herzlicher hätte ihre Stimme nicht klingen können. Voller Freude und Erleichterung fiel sie ihm um den Hals. Der Stress der letzten Tage hatte ihr keine Zeit gelassen, sich mit ihm zu treffen. Und sie war froh, dass sie einige Tage hatte allein sein können. Sie hatte geweint, sie hatte sich erinnert, sie hatte nachgedacht, sie hatte vermisst, sie hatte verflucht und sie hatte realisiert. Ihr Herz begann langsam wieder im Normaltakt zu schlagen.
Im Gegensatz zu dem von Jonas, der mit Jillians unerwartet herzlicher Begrüßung völlig überfordert schien. Als sie sich wieder von ihm löste, hielt er sie noch immer fest. „Es tut mir so Leid, dass ich mich so lange nicht bei dir gemeldet habe. Ich wollte nicht, dass du denkst, ich würde dich im Stich lassen...“
„Stop!“ Jillian lachte und Jonas glaubte zu träumen. „Du hast dich genau richtig verhalten. Jonny, ich weiß, dass das alles für dich genauso schwer sein muss, wie für mich. Du brauchtest Zeit für dich, ich brauchte Zeit für mich. Jetzt sind wir hier.“
Stumm lächelte er sie an. Es gab keine Worte, die hätten beschreiben können, wie er sich fühlte... zumindest fielen sie ihm zu diesem Zeitpunkt nicht ein.
Froh, über die wiedergekehrte Vertrautheit, atmete Jillian tief durch, dann nahm sie Jonas bei der Hand, um ihn mit sich ins Haus zu ziehen.
Als die Tür hinter ihm zuschlug, wäre Jonas am liebsten wieder zurück nach draußen gerannt. Die Kälte und die Leere, die ihm nun entgegenschlugen waren kaum zu ertragen. Immer hatte er den Gedanken im Hinterkopf, dass es nun nicht mehr so war, wie bis vor kurzem noch. Jetzt saßen Jills Eltern nicht gemeinsam im Wohnzimmer auf der Couch und sahen sich im Fernsehen den Wintersport an.
Jillian las Jonas’ Gedanken von seinem Gesicht ab und lächelte ihm schwach zu. Keiner von ihnen beiden würde den anderen trösten können, solange der eigene Schmerz so stark war. Aber sie waren zusammen und das war das einzige, was zählte.
Erst jetzt, als Jillian Jonas’ Gesicht mit einem warmen Lächeln musterte, fiel ihr der blaue Fleck unter seinem linken Auge auf. Ihr Lächeln erstarb. „Was ist denn das?“, fragte sie geschockt, während sie die wunde Stelle mit ihrer Hand berührte.
Jonas antwortete nicht sofort, er überlegte fieberhaft, was er ihr erzählen sollte. Die Wahrheit kam nicht in Frage, Justins Worte würden sie jetzt, wo sie so schwach war, zu tief verletzen.
„Jonas!“ Jillian sah ihrem besten Freund auffordernd und eindringlich ins Gesicht. „Hast du dich etwa geprügelt?“ Sie fand die Frage so absurd, dass sie sie kaum über die Lippen brachte. Jonas und eine Schlägerei? Nie im Leben! Aber wo kam dann der blaue Fleck her? Und jetzt, da sie sich ihn genauer besah, fielen ihr auch die schmutzigen Stellen an seiner Kleidung auf. „Jetzt rede endlich mit mir!“ Jillian wurde laut. Sie hatte eine Höllenangst, dass jemand Jonas ernsthaft verletzt haben könnte.
„Nur eine kleine Rangelei mit Justin.“, antwortete er ihr endlich.
„Rangelei?“ Sie berührte den blauen Fleck in seinem Gesicht erneut und er zuckte leicht zurück. „Mit Justin? Warum denn, in aller Welt!?“
„Ach, das übliche Gerede. Dieses Mal ist er einfach zu weit gegangen.“
„Du hast dich mit ihm geprügelt, nur weil er dich beleidigt hat?“, fragte Jillian ungläubig.
Na toll, dachte Jonas finster. Jetzt stehe ich nicht nur vor der ganzen Welt schlecht da, sondern auch noch vor Jillian. Die Welt interessierte ihn nicht, Jillian tat das schon.
„Jonny, so kenne ich dich gar nicht. Wie geht es Justin?“
Fassungslos starrte Jonas sie an. Hätte er ihr vielleicht doch die Wahrheit sagen sollen? Jetzt war er der Bösewicht. Er schluckte seine Wut hinunter und antwortete: „Er hat es überlebt.“ Jillians Blick verfinsterte sich, deswegen setzte er noch hinzu: „Ihm geht es nicht schlechter als mir.“
Ungläubig schüttelte sie nur mit dem Kopf. „Hast du dir mal Gedanken darüber gemacht, was deine Eltern sagen werden, wenn sie das erfahren?“
„Meine Eltern werden es nicht erfahren, Jill!“ Jonas bemühte sich um einen ruhigen Ton.
„Sie werden es deinem Gesicht ansehen.“, antwortete Jillian schlicht und er sah ein, dass sie wohl Recht hatte.
„Verdammt nochmal!“, erwiderte er daraufhin erschöpft. Er wollte sich darüber nicht auch noch Gedanken machen müssen.
Wieder sah Jillian ihn nur fassungslos an. Sie brauchte ihren besten Freund, aber vor ihr stand momentan nur ein zweiter Justin. „Jonas, es tut mir weh, wenn du so anders bist.“, brachte sie hervor und eine Träne rann über ihr Gesicht.
Nun war es Jonas, der sie schockiert musterte. Er hatte sie nur beschützen wollen, aber scheinbar hatte er wieder einmal alles falsch gemacht. Sie sah so unglücklich aus und er verfluchte sich für sein Verhalten, aber jetzt war es geschehen. „Nicht weinen.“ Mehr brachte er nicht hervor, als er sie umarmte.
Jillian spürte, wie weitere Tränen sich ihren Platz bahnten. So lange hatte sie den Kampf gegen sie gewonnen und jetzt siegten sie erneut. Alles hatte sich verändert, selbst Jonny.
Sie gingen schweigend die Treppe zu ihrem Zimmer hoch und als Jonas die Tür hinter sich geschlossen hatte, blieb er noch eine Weile unschlüssig in Jillians Zimmer stehen, während sie sich sofort erschöpft auf ihre Schlafcouch sinken ließ.
Innerlich hatten Jonas und Jillian sich in diesen Tagen von einander entfernt wie sie es nie für möglich gehalten hätten. Es war, als würden sie in noch eine beängstigende, neue Welt eintreten, in der es keine Sicherheiten mehr gab. Ja, sie war froh, ihn jetzt wieder bei sich zu haben, aber die Nähe und Unbeschwertheit, die sie immer mit einander verbunden hatte waren verschwunden und hatten etwas viel Beängstigenderem Platz gemacht, was sie nicht begreifen konnte.
Und ja, er war heilfroh, zu ihr gekommen zu sein, doch da war plötzlich eine Art dunkles Monster in seiner Brust erwacht, das jedes Mal laut aufbrüllte, wenn er sie ansah. Er war ein kluger, junger Mann, doch dies war etwas, das er weder fassen noch begreifen konnte. Wie konnte er für sie da sein, wenn da plötzlich diese Distanz war, die er nun nicht mehr zu überbrücken wusste? Hatte er doch zu lange gewartet? War ihre Freundschaft daran zerbrochen?
Was zu diesem Zeitpunkt aber noch niemand ahnen konnte war, dass sich aus der klaffenden Wunde, die die Ereignisse und die Distanz in ihnen hinterlassen hatten, eine kleine, zarte Knospe erhob, die etwas Tiefergehendes in sich trug.
„Soll ich wieder gehen?“
Jillian sah auf. Als sie seine unglückliche Miene sah, wurde ihr bewusst, wie er sich fühlen musste. Er war verwirrt gewesen. Er war nicht zu Hause geblieben, um alles zu verarbeiten. Kein Wunder also, dass er für Justins Sprüche keine Geduld mehr hatte aufbringen können. Mit einem angedeuteten Lächeln bedeutete sie ihm, dass er sich neben sie setzen sollte. Lange Zeit saßen sie nur still bei einander, einfach nur froh, nicht mehr allein zu sein. Jetzt lehnte Jillian sich an ihn und versuchte, die Sicherheit wiederzufinden, die sie die ganze Woche schon überall verzweifelt gesucht hatte.
Jonas spürte, wie sich ein Teil der Anspannung der letzten Tage von ihm löste und schloss erleichtert die Augen. Er horchte auf die Gedanken in seinem Kopf und sah Bilder vorbeiziehen, die das Schreckliche der letzten Tage wenigstens für ein paar Augenblicke verdrängten.
Er erinnerte sich an Katrin Seiferts köstliches Essen und an die empörten Blicke ihres Mannes, wenn sie ihn nicht davon probieren ließ. Er spürte die Vertrautheit und Wärme. Als ihm jedoch genau in diesem Moment klar wurde, dass all dies nun für immer von hier verschwunden war, schlug er in blanker Angst die Augen wieder auf. Er wagte nicht, Jillian darauf anzusprechen und seine Gedanken laut zu äußern. Der Druck, für sie stark sein zu müssen, brachte ihn fast um den Verstand.
Jonas war in den letzten Minuten sehr still geworden und als sie ihm einen kurzen Blick zuwarf spürte sie, dass er sich in seiner eigenen Welt befand und irgendwie blieb ihr der Zutritt verwehrt. Sie hätte gern gewusst, was er dachte. Sie hätte gern gespürt, was er fühlte. Aber sie wagte nicht, ihn danach zu fragen, aus Angst, ihn mit dem eigenen Schmerz zu verletzen.
Als Jonas nach Hause kam, war es schon kurz nach acht. An den Chucks im Schuhregal, die ganz sicher nicht ihm gehörten, erkannte er, dass seine Eltern Besuch hatten. Er überlegte erst, ob er sich nicht einfach hoch in sein Zimmer schleichen sollte, belehrte sich aber dann eines besseren. Das hätte nur wieder unnötig Streit gegeben.
Ergeben marschierte er also in die Küche, um seine Eltern schön artig zu begrüßen. „Hi. Ich war grad bei Jill...“ Er brach mitten im Satz ab, als er bemerkte, dass Tim zusammen mit seinen Eltern am Küchentisch saß. Nun sahen ihn alle erwartungsvoll an, Tim nickte ihm kurz zu.
„Da bist du ja. Wir haben schon auf dich gewartet! Setz dich hin!“ Jonas’ Vater bedeutete seinem verwirrt dreinschauenden Sohn, dass er sich neben ihn setzen sollte.
Stumm ließ er sich auf den Stuhl neben seinem Vater sinken und überlegte fieberhaft, was die ungewöhnliche Versammlung wohl zu bedeuten hatte.
„Tim ist rüber gekommen, um mit uns über Jillian zu sprechen.“, begann seine Mutter das Gespräch.
Jonas rutschte unruhig auf seinem Platz hin und her. „Wieso? Was ist mir ihr?“
„Ich fliege ja morgen in die Staaten.“, nahm nun Tim das Wort auf und beobachtete dabei, wie sich Jonas’ Miene sichtlich verfinsterte. „Jill ist es nicht gewohnt, ganz auf sich allein gestellt zu sein... das sind wir beide nicht gewohnt. Sie wird es in den nächsten Monaten sehr schwer haben. Allein in dem großen, leeren Haus. Gefangen in alten Erinnerungen. Zwischen Mädchen in ihrem Alter, die noch eine Mutter haben. Deswegen wollte ich dich und deine Eltern bitten, meiner Schwester so gut es geht beizustehen.“
Samantha und Martin Hill nickten zustimmend. „Selbstverständlich.“
„Hast du geglaubt, ich würde sie allein lassen?“ In Jonas tobte ein Orkan. Alles in ihm schien sich gegen Jillians Bruder auflehnen zu wollen. „Hast du auch nur eine Sekunde gedacht, ich würde Jillian allein lassen, so wie du es tust?“
„Jonas!!“ Samantha unterbrach ihren wütenden Sohn warnend, der von seinem Stuhl aufgesprungen war.
„Nein, Frau Hill! Ich will das hören.“ Auffordernd sah Tim Jonas an und wartete.
„Denkst du eigentlich auch einmal an jemand anderen, als an dich? Hast du dir Jillian mal angesehen? Sie hat stark abgenommen und wird immer zerbrechlicher. Ihr Lachen ist fast so leer wie ihre Augen. Sie ist nur noch ein Schatten. Und sie ist deine Schwester!“
„Ja, das ist mir nicht entgangen.“, entgegnete Tim ihm kühl. „Um deine Frage zu beantworten - ich denke an meine Schwester, ansonsten wäre ich wohl kaum hier. Und so sehr ich dich auch respektiere, ich glaube nicht, dass du meine Lage auch nur ansatzweise verstehen kannst. Auf diese einmalige Chance in New York habe ich mein Leben lang gewartet. Ich habe Nächte lang wach gelegen, um englische Vokabeln, Redewendungen und Grammatik zu lernen. Nun bietet sich mir diese Chance. Natürlich ist es ein schlechter Zeitpunkt, mir wird es auch nicht gut gehen allein in New York, aber da ist eine Tatsache, die du nicht vergessen darfst: Wäre ich geblieben, Jillian zuliebe, dann hätte sie sich das niemals verziehen.“
Jonas ballte die Rechte zur Faust, beruhigte sich aber gleich wieder. Tim hatte Recht. So, wie er Jillian kannte, hatte sie ihren Bruder auch noch dazu überredet, sie zurückzulassen. Er schüttelte den Kopf, um die Bilder von ihren Tränen herauszubekommen. „Okay, ja. Es tut mir Leid. Du hast ganz sicher deine Ansicht der Dinge und ich hab meine!“ Damit wandte er sich um und verließ die Küche.
Seine Mutter sah ihm verärgert nach. Über diese Sache war das letzte Wort noch nicht gesprochen. Im Blick seines Vaters schwang Besorgnis mit. Er hatte seinen Sohn noch niemals so verzweifelt und wütend erlebt und er wusste, dass er so viel mehr verloren hatte, als nur zwei Nachbarn. Außerdem war ihm der blaue Fleck unter seinem linken Auge nicht verborgen geblieben, den Jillian vermutlich mit viel Puder zu verdecken versucht hatte.
„Ich gehe jetzt wohl besser.“, seufzte Tim müde und in diesen Sekunden sah Samantha, dass er immer noch ein Junge war. „Wenn du etwas brauchst, ruf uns an, Tim. Wir werden uns um Jillian kümmern, das schwöre ich dir.“
Tim lächelte dankbar, dann verließ er stumm die Küche. Jonas war kurz davor, die Treppe zu seinem Zimmer hoch zu stürmen, als er ihn zurückrief: „Jonny!“
Dass Tim seinen Spitznamen benutzte, machte Jonas nur noch wütender. Er fuhr herum und funkelte Jillians Bruder böse an. Dieser seufzte vernehmlich. „Ich weiß, was du von mir denkst.“
„Was die Sache nicht gerade besser macht.“, erwiderte Jonas kühl.
Tim holte tief Luft, er musste all seinen Stolz hinunter schlucken, um überhaupt noch ein einziges Wort mit Jillians sturem Freund sprechen zu können.
„Ich will jetzt nicht weiter mit dir darüber diskutieren. Du wirst es ja doch nie verstehen.“, sagte er dann heftiger als beabsichtigt und fuhr mit versöhnlicheren Worten fort: „Es geht hier nicht um dich oder mich! Es geht auch nicht um unseren ständigen Streit, wer Jill näher steht. Es geht allein um sie und sie ist verdammt noch mal meine Schwester. Ich kenne sie seit ihrer Geburt... trotzdem muss ich zugeben, dass du sie besser kennst. Du weißt, was sie will, was sie braucht, was ihr fehlt. Ich habe nie angenommen, dass du sie im Stich lassen würdest. Ich möchte einfach nur dein Wort haben. Ich möchte mit dem Gefühl nach Amerika fliegen, Jillian hier in guten Händen zu wissen.“
Tims Worte hatten ihn versöhnlich gestimmt. Jonas schüttelte kurz Tims ausgestreckte Hand. „Das hättest du auch gleich sagen können. Also gut hier: ich werde deiner Schwester nicht von der Seite weichen, versprochen!“
Als er schon fast zur Tür raus war, rang Jonas noch kurz mit sich und rief ihm nach einigem Überlegen noch ein „viel Glück, in New York“ hinterher.
Tim nahm die Worte mit einer dankbaren Handbewegung entgegen und seufzte erleichtert auf, als Jonas die Tür hinter sich geschlossen hatte. Mit einer Last weniger auf dem Herzen kehrte er also wieder zu seiner Schwester zurück, die ihn schon sehnsüchtig erwartete.
Als Tim endlich weg war, schlug Jonas hastig seine Zimmertür hinter sich zu und war erleichtert, endlich allein sein zu können. Zum allerersten Mal in seinem Leben verstand er genau, was damit gemeint war „einen langen Tag hinter sich gehabt zu haben“. Er hatte sich kaum mit diesem Gedanken erschöpft in seine Kissen fallen lassen, da klopfte es auch schon wieder an seiner Tür. Er stöhnte laut und genervt auf.
„Kommt jetzt wieder eine Moralpredigt?“ Er setzte sich milde überrascht auf, als unerwartet sein Vater eintrat. „Schickt Mutter heute mal dich?“
„Jonas, mäßige dich!“, sagte Martin Hill streng, aber ruhig, ehe er unaufgefordert die Tür hinter sich schloss.
Er ist hier total Fehl am Platz!, dachte Jonas mit einer nie geahnten Verbitterung. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann sein Vater das letzte Mal in seinem Zimmer gewesen wäre. Ob er sich überhaupt noch an die Farbe der Wände hatte erinnern können? Denn normalerweise war es seine Mutter, die ihren Sohn zurechtstutzte, seinen Fleiß in der Schule kontrollierte und ihm Aufgaben in Haus und Garten zuteilte.
Auch als sein Vater dann endlich zu sprechen begann, fühlte Jonas sich wie in einem Leben, welches er nicht kannte; mit welchem er nicht umzugehen wusste. „Ich weiß, ich hätte schon früher mit dir reden sollen. Und damit meine ich nicht nur die Zeit nach diesem schrecklichen Unfall, sondern unsere gesamte Zeit als Vater und Sohn. Ich habe viel falsch gemacht, die Familie als selbstverständlich genommen, besonders aber dich. Es war selbstverständlich für mich, dass du immer gehorcht hast, deine Leistungen gebracht hast, die stets überdurchschnittlich waren und dich benommen und getan hast, was wir von dir verlangten.“ Plötzlich wirkte sein Vater klein und unsicher. Die Welt stand Kopf. „Jonas, manchmal wachen Menschen plötzlich auf. Ich bin aufgewacht als die perfekte, liebevolle Familie da drüben auseinander gerissen worden ist. Es kann jederzeit passieren. Jonas, ich will, dass du weißt, dass wir dich lieben und stolz auf dich sind. Es ist an der Zeit, dir das zu sagen. Es ist an der Zeit, dass du nach der ersten Prügelei deines Lebens zu deinem Vater kommst, damit er dir beistehen und dich trösten kann, anstatt dich aus Angst vor ihm verstecken zu müssen. Wir sind hier, Jonny, du kannst immer zu mir kommen, wenn du etwas brauchst.“
Zuerst stach es ihm nach dieser Ansprache furchtbar in der Brust so wie in letzter Zeit auch immer in Jillians Gegenwart. Dann verstand er, was eben geschehen war, rannte in die Arme seines Vaters und begann zu weinen wie ein Kind. Tränen des Schmerzes, der Trauer, des Verlustes und all der Jahre aus Einsamkeit und Druck. Aber auch neue Tränen der Hoffnung und des Glücks.
Tim hatte Jillian nichts von dem Besuch bei den Hills erzählt, das hätte sie nur unnötig aufgeregt. Jetzt saßen sie eng aneinander geschmiegt auf der Couch im Wohnzimmer und sahen sich gemeinsam die vielen Fotoalben an und ließen jeden Moment der vergangenen Jahre noch einmal aufleben. Sie wollten sie unvergessen machen, ihren Zusammenhalt einzigartig werden lassen.
Jillian stand auf, um einige Teelichter anzuzünden. Tim vermutete, seine Schwester wollte dem Wohnzimmer etwas von seiner ursprünglichen Wärme und Gemütlichkeit wiedergeben, aber alles was sie dadurch erhielten war die Erkenntnis, dass es nicht die vielen Kerzen gewesen waren, die das Haus in einer so ungewöhnlichen Wärme hatten erstrahlen lassen.
„Sieh dir das an!“, sagte Jillian gerührt und zeigte auf eine große Schwarzweiß-Fotografie. Das Hochzeitsfoto ihrer Eltern! Sie mussten damals erst Anfang zwanzig gewesen sein. Ihre Mutter trug ein langes, weißes Kleid aus purer Seide. Ihr schwarzes Haar hatte man mit vielen kleinen Spangen nach oben gesteckt, sodass ihr nur wenige einzelne Strähnen ins Gesicht fielen, welches auch von dem hauchdünnen Schleier umrandet wurde. Plötzlich sah Tim Jillian in diesem Kleid.
Diese starrte ebenfalls wie gebannt auf das Foto. Ihr Bruder sah ihrem Vater wirklich zum Verwechseln ähnlich. Die aufrechte, stolze Haltung in dem schicken schwarzen Anzug strahlte ungeheure Stärke und Selbstsicherheit aus. Der Arm, den er locker um die Taille seiner Frau gelegt hatte, signalisierte: Dieses Mädchen gehört mir. Jillian wünschte sich, dass Tim auch bald die Frau finden würde, die er genauso ansehen würde, wie sein Vater seine Mutter auf diesem Bild ansah. Und sie sah Tim in dem Anzug vor sich stehen, eine jüngere Ausgabe ihres stolzen Vaters.
Sie fuhr mit der Hand über die Fotografie, es war ein altes Foto, aber die Gesichter darauf strahlten in jugendlicher Frische. Jillian fragte sich, was im Kopf ihrer Mutter vorgegangen ist, als sie so neben ihrem frischgebackenem Ehemann gestanden hatte. Sicher hatte sie viele Träume und Zukunftspläne gehabt.
„Sie haben alles bekommen, was sie je gewollt hatten.“, wurde Jillian plötzlich klar.
„Da hast du Recht, aber sie hätten das alles noch viel länger genießen können.“, sagte Tim plötzlich. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie ihre Gedanken laut geäußert hatte.
„Ich möchte auch einmal so aussehen.“, seufzte sie nach einiger Zeit.
Tim lächelte. „Du siehst jetzt schon genauso aus wie sie.“
„Das meine ich aber nicht.“, antwortete Jillian leise und strich mit einem Finger nochmals über die Fotografie und fuhr jede Kontur des traumhaften Kleides ihrer Mutter entlang. „So möchte ich mal aussehen. Dieser Tag war sicher der schönste ihres Lebens.“
Tim brachte nur ein ungläubiges Kopfschütteln zustande. „Ich staune immer wieder.“, sagte er dann. „Meine Schwester kann ja richtig romantisch sein.“
„Ich träume nur gern, das ist alles. Glaubst du, dass ich mal heiraten werde?“
Nun fragte Tim sich, ob Jillian erst durch den Tod ihrer Eltern so nachdenklich geworden ist, oder ob sie es im Grunde schon immer gewesen war. „Natürlich, wirst du das, Jill. Ein weißes Kleid, süße Trautzeuginnen, eine katastrophale Party, ein Verlobter, den ich auf den Tod nicht leiden kann und ganz viel Kitsch.“
Jetzt musste sogar Jillian lachen. „Wieso bist du dir so sicher, dass du meinen Verlobten nicht leiden kannst?“
„Er macht mir meinen Platz streitig. Ich bin dein Vertrauter, ich bin dein Kummerkasten, ich bin dein bester Freund...“
Jetzt erst unterbrach Jillian ihren Bruder: „Nein, bist du nicht, Tim! Mein bester Freund ist Jonny.“
Tim spielte den Beleidigten, aber im Grunde hatte er auf diese Worte nur gewartet. Jetzt konnte er wirklich beruhigt sein, dass seine Schwester hier alles hatte, was sie brauchte. Dass sie bei den Worten bester Freund sofort an Jonas dachte, zeigte ihm, dass sie nur ihm voll und ganz vertraute, ohne Kompromisse. Das ängstigte und faszinierte ihn.
„Nicht sauer sein.“
Er schrak aus seinen Gedanken hoch, als er ihre Stimme hörte. „Was?“
„Du wirst immer mein Bruder bleiben und da kann niemals jemand was dran ändern.“
Tim verzog das Gesicht. „War das jetzt ein Kompliment oder eine Beleidigung? Willst du denn, dass jemand was daran ändert?“
Jillian ließ sich mit ihrer Antwort bewusst Zeit, um ihn zu ärgern. „Nein, will ich nicht.“, antwortete sie schließlich.
Tim nickte zufrieden und schlug ein anderes Fotoalbum auf. Es war von der ersten bis zur letzten Seite mit Kinder- und Jugendfotos von ihm und Jillian gefüllt. Beim Durchblättern sah er seine Schwester erneut erwachsen werden. Eine sechsjährige Jillian, die ihm die Zunge herausstreckte. Eine siebenjährige Jillian mit einer Zuckertüte in den Händen, die sicher größer war als sie selbst. Eine neunjährige Jillian, die sich mit Jonas im Garten balgte. Eine vierzehnjährige Jillian, die erschrocken hinter der Kühlschranktür hervorschaut, weil sie auf frischer Tat ertappt wurde. Eine sechzehnjährige Jillian, die einem liebevoll lächelnden Jonas in die Augen sieht. Tim sah sich das Bild genauer an.
„Das war zu meinem Sechzehnten! Man, war ich betrunken!“, lachte seine Schwester und stand auf, um ihnen noch zwei Tassen Tee zu kochen. Tim konnte seinen Blick nicht von dem Bild losreißen.
Es stimmte, sie war leicht angetrunken gewesen, aber auf diesem Foto war davon nichts zu sehen. Es musste in einem Moment geschossen worden sein, in dem die beiden sich völlig unbeobachtet gefühlt hatten. Jillian hatte beide Arme um Jonas’ Hals geschlungen und sah ihm so tief in die Augen, dass sie sich in ihnen zu verlieren schien. Ihr Gesichtsausdruck war ungewohnt ernst, aber nicht bedrückt; ihre Augen strahlten. Jonas sah mit einer Wärme auf sie herunter, die das gesamte Bild einzunehmen schien.
Tim sah sich um, um sich zu vergewissern, dass seine Schwester noch in der Küche mit dem Tee beschäftigt war und riss das Foto kurzentschlossen aus dem Album heraus. Vorsichtig, um es nicht zu knicken, ließ er es in seine hintere Hosentasche gleiten. Er wollte dieses Bild nach New York mitnehmen, um sich durch einen Blick darauf immer vergewissern zu können, dass es seiner Schwester hier an nichts fehlte, dass sie einen Freund hatte, der alles für sie tun würde. Irgendwann würde er sich bei Jonas dafür bedanken.