Es ist Dienstagmittag. Die fünfte Stunde beginnt, englisch. Wir bekommen eine Aufgabe in Einzelarbeit. Im ganzen Klassenraum herrscht Totenstille. Die Köpfe meiner Mitschüler sind streng auf ihre Blätter gerichtet. So ist das immer, wenn Emilia bei uns ist. Sie sitzt drüben am Lehrerpult. Ich sehe immer wieder unauffällig zu ihr rüber, bis sich unsere Blicke kreuzen. Ich kann immer noch nicht fassen, dass wir beide ein Paar sind. Das alles ist viel zu schön, um wahr zu sein. Und doch ist es wahr! Ihre schöne Stimme ertönt: „Julia,“. Ich sehe sie an. Ihr Blick hat etwas in sich, dass ich nicht beschreiben kann. Ist es Angst? Verzweiflung? Unsicherheit? Es wirkt, als würde sie vor einer großen Aufgabe stehen. Was für eine Aufgabe könnte das bloß sein und was für eine Rolle spiele ich da. Die Fragen häufen sich und doch lausche ich ihr: „Kommst du mal kurz zu mir?“. Ich stehe angespannt auf. Meine Beine fühlen sich wie Blei an. Ich bin wie gelähmt. Alles in mir zittert und ich werde nervös. Direkt vor dem Lehrerpult mache ich Halt.
„Komm, muss nicht jeder zuhören. Wir reden kurz draußen.“, meint sie. Bevor wir den Raum verlassen, gibt sie dem zweiten Englischlehrer, der eher zum Spaß dabei ist, einen kurzes Zeichen. Hinter sich schließt sie die Tür. Sie steht nun direkt vor mir. Ich bin gegen die Wand gelehnt und habe die Hände in den Hosentaschen. Dann beuge ich mich locker vor, hauche: „Kleine Pause gefällig?“ und küsse sie. Doch Hannah weicht mir aus.
„Darüber wollte ich mit dir reden...“, sagt sie. In meiner Bauchgegend breitet sich ein merkwürdiges Gefühl aus. Die Puzzleteile setzen sich nun mehr und mehr zusammen. Sie weicht mir aus und sie muss mit mir über ein wichtiges Thema reden. Ich bekomme ein ungutes Gefühl, Angst. Am liebsten würde ich mir die Ohren zuhalten und dann lachend wegrennen, aber so etwas geht jetzt nicht mehr. Ich bin nicht mehr drei und muss mich dementsprechend verhalten. Was hatte sie nochmal gesagt? Verhalte dich doch nicht, wie ein Kind!, der Satz krallt sich in mir fest und lässt nicht mehr so schnell von mir ab. Ich spüre das Sodbrennen in meiner Kehle und versuche es zu unterdrücken.
„Ich habe heimlich dein Tagebuch gelesen, wobei mir ein bisschen bewusst wurde, wie ernst du diese Beziehung nimmst. Du liebst mich. Ich weiß einfach, dass es nichts für die Ewigkeit ist und, dass es falsch ist. Trotzdem bist du mir wahnsinnig wichtig und die letzten zwei Wochen waren wirklich schön! Ich möchte dich nicht noch mehr zappeln lassen, um dich danach fallen zu lassen. Vielleicht sollten wir das Ganze hier beenden, bevor du noch verletzter bist.“; erklärt sie mir. Ihre Stimme ist sanft und hell. Sie spricht langsam und sieht mir dabei direkt in die Augen. Ihre Worte sind wie Messerstiche. Unwillkürlich laufen mir Tränen über die Wange.
„Nein, komm schon..., bitte nicht weinen!“, bittet sie mich besorgt. Mein Blick ist starr zu Boden gerichtet. Ich tappe von einem Bein auf das andere. Erneut ist da dieses Schweigen mit dem fiesen Charakterzug, der immer fester in meine Brust drückt.
„Ich liebe dich, Emilia!“, erzähle ich ihr, „Bitte tue das nicht. Hey..., bitte! Emilia, wir können das schaffen! Verdammt, ich flehe dich an... Tu mir das nicht an. Bitte!“. Ich habe gerade eine Sekunde lang das Gefühl, sie umstimmen zu können, doch sie bleibt hart: „Es ist besser so!“. Mit diesen Worten geht sie zurück in die Klasse. Ich lasse mich auf dem Boden nieder. Alles ist mir egal. Ich habe jetzt nichts mehr im Kopf. Ich möchte sterben. Ich weine. Der Unterricht nimmt seinen Lauf. Ich weine. Die Pause beginnt und meine Freunde gesellen sich zu mir, um mich zu trösten. Ich ignoriere es, weine. Sie gehen sich etwas zu Essen kaufen. Alle laufen an mir vorbei, lachen, haben Spaß. Die Welt geht weiter, nur für mich nicht. Ich stehe auf. Laufe. Manche reden auf mich ein. Ich ignoriere es, laufe. Auf der Mädchentoilette setze ich mich in eine Ecke, warte einige Zeit, bis auch die Pause sein Ende nimmt und hole die kleine Nadel hervor, die die Macht hat, alles zu zerstören. Nun bin ich nicht mehr ganz bei mir. Nun hat die Nadel die Kontrolle über meinen Körper. Nutze sie, denn das Blatt kann sich auch ganz schnell wieder weden!, denke ich mir und beginne, die Nadel immer fester über meinen Arm zu reiben. Tränen laufen mir nach wie vor über die Wange. Jetzt empfinde ich nur noch Schmerz. Ich brauche sie, aber sie hat mich von sich weg auf den Boden gestoßen und ich bleibe seelenruhig liegen. So möchte ich es. Es beginnt zu bluten. Ich höre auf und stehe auf. Mit rot geschwollenen Augen und Tränen auf der Wange und dem Pulli, wo das Blut durchdrückt, betrete ich den Klassenraum. Nun sind alle Augenpaare auf mich gerichtet. Emilia Adams steht neben Frau Bauernschmidt vorne. Ihr Amr ist gegen den Tisch gelehnt. Auch sie sieht mich einen Moment besorgt an. Sie empfindet noch etwas, wenn sie das sieht! Im selben Moment tut sich ein seltsames Gefühl bei mir auf. Ist das Stolz?
Erfreut renne ich auf den Abgrund zu, ohne zu merken, dass ich die einzige Leidtragende bin. Ich verliere die Kontrolle.
Sie wendet den Blick von mir ab und fährt in ihrem Satz fort. Ich gehe an ihr vorbei und streife sie sanft, doch sie weicht mir aus. „Diese Zeit hat jetzt sein Ende genommen und du bist die Einzige, die noch darin festhängt. Wann verstehst du es endlich? Ich möchte dich nicht!“, versucht sie mir lautlos mit nur einem Blick zu überbringen. Ich lasse mich auf meinem Platz nieder und sehe noch ein letztes Mal zu ihr rüber, als mir bewusst wird, dass ich niemals von ihr wegkomme. Unsere Blicke treffen sich und sie sieht befangen weg. Das ist schon oft geschehen, aber noch nie zuvor tat es so weh. Ich sehe aus dem Fenster. Die Blätter fliegen wild. Ich schweife in meine kleine Traumwelt. Im Hintergrund die Stimme von Emilia. Plötzlich spricht sie das Schlusswort. Alle neben mir erheben sich, räumen ihre Sachen ein und Stellen die Stühle hoch. Ich brauche noch ein bisschen länger, bis ich wirklich realisiere, was um mich geschieht. Auch ich packe meine Sachen weg. Als ich meinen Stuhl hochstelle, steht Hannah plötzlich vor mir. „Du bleibst gleich noch ein paar Minuten hier, ja?“, bittet sie mich. Ihr Blick ist eindringend, aber ich sehe schnell weg, weil ich jetzt wütend wirken möchte. Ich bin es nicht. Trotzdem frage ich mich, worüber sie sprechen möchte. Möchte sie mich zum Nachsitzen zwingen, weil ich englisch geschwänzt hatte, nachdem sie mit mir Schluss gemacht hatte? Ich weiß es nicht und ich möchte es nicht wissen. Alles komm mir unwirklich vor. Vielleicht träume ich das alles? Aufwachen! Aufwachen! Aufwachen! Meine Mitschüler verlassen den Raum und ich sehe ihnen von meinem Platz aus neidisch zu. Emilia spricht mit Frau Bauernschmidt. Ob sie ihr gerade erzählt, dass sie mir klarmachen muss, dass eine fünfzehnjährige und eine fünfundzwanzigjährige nicht zusammen passen? Sie lacht. Würde sie bei einem solchen Thema lachen? Ich erinnere mich an den Moment, in dem ich ihr von meiner Liebe berichtet hatte. Seitdem ist Vieles geschehen. Eine Beziehung! Sie hört nicht auf zu lachen. Alles in mir kribbelt. Aufwachen! Aufwachen! Aufwachen!
„Kommst du, Jule?“, ruft Lea und sieht mich sensibel und herzensgut an.
„Die Julia muss heute ein wenig länger bleiben!“, erklärt Emilia und grinst mich amüsiert an.
„Was hast du wieder angestellt?“, fragt Lea lachend und wendet sich von uns ab.
Das frage ich mich auch..., denke ich mir im Nachhinein, zügle jedoch meine Emotionen. Die beiden Lehrerinnen kommen immer noch tuschelnd auf mich zu. Dann sieht Frau Bauernschmidt mir in die Augen. Sie hat so liebe Augen, dass ich direkt total entspannt werde.
„Frau Adams hat mir von eurer kleinen Romanze berichtet?“, erklärt sie mir. Ihre Stimme ist lieb, gar nicht auf Wut aus. Sie ist ausgeglichen. Immer. Ich sehe zu Emilia. Sie erwidert den Blick. Er ist leer. Jetzt sieht sie beinahe verlegen auf ihre Nägel. Sie hat schöne Nägel. Alles an ihr ist schön... Ich brauche sie.
„Hast du ihr auch erzählt, wie dir dann ganz plötzlich aufgefallen ist, dass das alles falsch ist?“, frage ich nichtssagend.
„Du siezt Frau Bauernschmidt ab jetzt bitte wieder.“, bittet mich Frau Adams. Anscheinend ist sie doch auf Krieg aus. Ich sehe sie jetzt direkt an. In meinem Blick liegt ein teuflisches Funkeln. Ich fauche: „Verdammt, was soll das hier alles? Sind Sie ihre Babysitterin oder so? Bist du jetzt auf einmal auf den Mund gefallen? Wenn du nicht möchtest, dass ich dich duze, hab doch bitte wenigstens den Mumm und sag mir das persönlich!“.
„Du gehst zu weit, Julia!“, mahnt Frau Bauernschmidt
„Weil ich Emotionen zeige? Weil ich Schwäche zeige? Das sind zwei Begriffe, die dir, Hannah, nicht so richtig geläufig sind, nicht? Vielleicht können wir uns ja irgendwann nochmal in Ruhe hinsetzen und wie zwei erwachsene Menschen reden, dann kann ich dir auch gerne zeigen, was es bedeutet, Gefühle zu haben.“, entgegne ich nach wie vor kochend vor Wut. Ich kenne mich so nicht. Ich habe Angst, zeige Schwäche. Aus mir spricht Verzweiflung. Ich frage mich, ob Emilia überhaupt realisiert, dass ich mit ihr reden. Sie sieht mich schon lange nicht mehr an. Was denkt sie? Ist sie angeekelt? Verwirrt? Verlegen? Habe ich etwas Falsches gesagt? Ich habe Schuldgefühle. Selbsthass überkommt mich. Ich bin zu weit gegangen.
„Ich kann nur wiederholen, was ich schon gesagt habe Julia. Es war eine tolle Zeit, aber das muss jetzt aufhören. Unterstütze meine Entscheidung einfach und vergiss mich, okay?“, spricht sie mit mir. In diesem einen Moment, während sie redet, gibt es nur sie und mich. Aber diese Zeit löscht sie mit den Worten geradewegs aus. Ich muss es einfach so hinnehmen? Wie ein Welpe, dem man die ersten Monate alles durchgehen lässt, alles zu Fressen gibt und dann irgendwann von der Couch schubst, weil er nervt.
Mir ist nach Weinen zumute, aber ich beherrsche mich und sage: „Ich kann es nicht so schnell vergessen.“. Mit diesen Worten zeige ich den Lehrerinnen meinen kaputten Arm, an dem das Blut mittlerweile getrocknet ist und renne aus dem Raum.