„Ich weiß Papa, aber irgendwas müssen wir tun.“, versuchte ich so mitfühlend wie möglich zu sagen und mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr sein schmerzverzehrtes Gesicht auch mich verletzte. Tagelang hatten Mike und ich nach Möglichkeiten gesucht um meinem Vater zu helfen. Wir haben so gut wie jedes seiner Medizinbücher durchgelesen, bis wir gestern auf die vermeintliche Lösung gestoßen sind. In einem von ihnen standen Übungen, die speziell bei Lähmungserscheinungen helfen sollen. Mike war der Meinung, dass Papas Lähmung in den Beinen und die Schwäche beziehungsweise der Schmerz in seinem restlichen Körper psychisch bedingt sind. Dass die Depression meinetwegen ausgelöst wurden, machte mein Gewissen nicht unbedingt reiner, auch, wenn Papa und Mike immer wieder sagten, dass mich keinerlei Schuld traf. Sie sahen noch immer das Kind in mir, doch ich war es schon längst nicht mehr. Es war klar, dass Papa nicht begeistert von den Übungen sein wird, immerhin sind sie sehr kräftezehrend und schmerzhaft für ihn. Und dennoch müssen sie sein. Die Massagen, die auf Mikes Anordnung jeden Morgen an ihm durchgeführt werden, würden nicht reichen um Papa gesund zu machen. Bis jetzt war ich noch nicht dabei und war auch sehr froh darüber. Allein schon dabei zu sein, während Mike mit ihm die Übungen durchging, reichte mir vollkommen aus. Ich war sowieso nur hier um ihm Mut zuzusprechen, da mein Ziehvater der Meinung war, er würde andernfalls sofort aufgeben. Also saß ich neben ihm im Bett und redete auf ihn ein, versuchte ihn irgendwie zu beruhigen. Manchmal, wenn man ihm ansah, dass der Schmerz unerträglich wurde, strich ich sanft über seine Wange. Ab und zu hielt er dabei die Luft an. Mike beendete grade eine der Übungen und man hörte Papa erleichtert aufatmen. Vorsichtig legte ich meine Hand in seine um ihm nicht noch mehr Schmerz zuzufügen. Traurig sagen zu müssen, dass eine Handbewegung so weh tun kann. Schwach versuchte er mich anzulächeln und mindestens genau so schwach lächelte ich zurück. Ich strich ihm über den Handrücken, während er die Augenschloss um sich zu entspannen, dabei sah ich zu Mike, der meinen Vater sorgenvoll musterte. Niemand von uns war noch so optimistisch, wie am Anfang, und kurz fragte ich mich, ob es etwas brachte, oder ob Papa den ganzen Schmerz umsonst durch machte. „Eine Übung gibt es noch.“, sagte Mike zögernd ohne den Blick von meinen Augen zunehmen. Papa atmete tief durch und schaute mich an: „Bringen wir es schnell hinter uns.“ Auch Mike atmete tief durch bevor er ein weiteres Mal anfing. Kaum berührte er ihn, verkrampfte mein Vater. „Du musst atmen. Ruhig atmen.“ Er drückte meine Hand. Anscheinend war dieser Schmerz nicht so groß, wie der der Übungen. Wieder hielt er den Atem an, länger als beim ersten Mal. Wie schrecklich es war nichts tun zu können, während ein Mensch, der einem viel bedeutete litt. „Alles wird gut.“ Immer noch atmete er nicht. Mit gequälten Ausdruck im Gesicht stieß er schmerzhafte Laute aus und zog ein drittes Mal die Luft ein. Ich legte die Hand auf sein Herz, es schlug fast so schnell wie vor einer Woche, als er wegen mir einen Herzinfarkt erlitt. „Mike hör auf!“, schrie ich als Papa etwas zu lang die Luft anhielt. Mike stoppte sofort und schaute nun meinen Vater genau so besorgt an wie ich. „Du willst mich umbringen, nicht wahr mein Freund?“, wendete er sich mit schwacher Stimme an seinen quasi Bruder. Ich war froh, dass er Mike wieder als seinen Freund bezeichnete und mehr mit ihm sprach, seitdem ich hier war. Die Beziehung zu Mike war wichtig für ihn, das wusste ich. „Hätte ich dich töten wollen, wärst du es doch schon, nicht?“, erwiderte Mike lachend. Auch Papa amüsierte diese groteske Tatsache, welche ich einfach geschmacklos fand. Sein lachen ging schnell in ein kräftiges Husten über. Mike wurde wieder ernster: „Ich schätze wir sollten klein anfangen und uns je nach deinem Gesundheitszustand steigern. Ich würde vorschlagen, dass ich einmal am Tag für zwei Übungen à zehn Minuten vorbeikomme.“ „Du willst mich wirklich umbringen.“ Er hörte noch einmal das Herz meines Vaters mit einem Hörrohr ab, bevor er seine Sachen zusammenpackte und sich noch einmal an mich wendete: „Und dich will ich nachher beim Abendessen sehen.“ Ich nickte ihm lächelnd zu, als er sich in der Tür noch einmal umdrehte. Ich hörte Papas schweren Atem neben mir und konzentrierte mich wieder auf ihm. „Gehts wieder?“, fragte ich besorgt und legte meine Hand wieder in seine, die er, nachdem er sich entspannt hatte, losgelassen hatte. Als Antwort strich er einmal über meine Hand. Ich saß im Schneidersitz neben ihm zog wieder die Decke über den Körper, da ich nicht wollte, dass er frieren könnte, wenn ich das Fenster gleich öffnen würde. Zwar war es angenehm Draußen, wenn die Sonne schien, wie in den letzten Tagen. Jedoch musste man, grade in Papas Lage, das Glück nicht herausfordern. „Willst du vielleicht ein Glas Wasser?“ „Nein, Liebling.“ „Etwas Essen?“, ich schaute über die Schulter, als eine leichte Brise gefolgt von warmen Sonnenstrahlen mir durchs Gesicht strichen. „Auch nicht.“ Ich seufzte kurz. „Du hast den ganzen Tag schon nichts gegessen.“ „Es geht mir gut.“, versicherte er mir. „Ich hol dir was.“, ignorierte ich seine Worte und küsste seine Wange. Erst in der Küche, umzingelt von Mägden, die frisches Brot backten und das Abendessen vorbereiteten, das Brot für meinem Vater schneidend, bemerkte ich, dass es der erste Kuss zwischen mir und meinem Vater seit 17 Jahren, mehr als mein halbes Leben, war. Ich ließ mit starren Blick das Messer fallen, welches mit lauten Klirren am Boden aufschlug. Eine Magd stützte mich. Anscheinend sah ich geschockter aus, als ich mich fühlte. „Geht es ihnen gut, Madame?“ Ich fasste mich schnell wieder, wie ich es auch sonst immer musste. „Ja. Ja, es geht mir gut.“ Ich stellte das belegte Brot und das Wasser auf ein Holzbrett und lief durch die Flure, zurück zum Zimmer meines Vaters, als mir etwas durch den Kopf schoss.
„James verdammt! Sie ist nach wie vor deine Tochter! Die Einzige, die dir geblieben ist und du lässt sie ausgerechnet heute allein!“ Er hatte sich auf einen Sessel im Kaminzimmer fallen lassen nachdem Mike seinen Freund in den Raum gezerrt hat. „Was soll ich tun? Mit jedem Jahr sieht sie ihr ähnlicher. Wie soll ich ihren Anblick ertragen?" „Ihren Anblick ertragen? Das kann nicht dein Ernst sein. Sie ist dein Kind, euer Kind! Wenn sie dir auch nur im entferntesten etwas bedeutet, dann sei jetzt für sie da. Katharina hätte nicht gewollt, dass sie allein ist." Die Erwähnung seiner Frau ließ ihm einen Moment erstarren. „Und was soll ich tun?" Mike legte die Hand auf seine Schulter, bereit den Raum wieder zu verlassen und seinem Freund die Möglichkeit zugeben nachzudenken. „Rede einfach mit ihr, zeig ihr, dass du da bist."
James brauchte eine Weile um sich zu fassen. Er saß im Sessel, lief im Zimmer auf und ab, blieb an einen Bild seiner verstorbenen Frau hängen. Wie sehr er sie geliebt hat. Er würde sie nie wieder sehen, nie wieder in ihre grün-blauen Augen blicken, welche ihn einst so faszinierten oder vor dem einschlafen durch ihr rot-braunes Haar streichen. Er würde ihre rosa Lippen vermissen. Er vermisste sie schon seit genau einem Jahr, es war die Hölle. Wie sollte er so weitermachen? James dachte kurz an seine Tochter. Wahrscheinlich hatte Mike recht, doch so sehr er sich auch anstrengte: Er ertrug ihre Näher einfach nicht länger. Dennoch fasste er sich ein Herz und trat den nicht enden wollenden Weg zu seiner Tochter an.
Clare saß stumm auf ihren Bett, die Beine angewinkelt, starrte sie gebannt auf ihre Balkontür. Ihr Vater klopfte nicht, er kam einfach in den Raum, stellte den Tee, welchen er für sie gemacht hatte auf den Nachttisch und stand einfach da. Er wirkte unbeholfen, wütend auf sich selbst, da er es war. Clarissa reagierte nicht auf das überraschende Erscheinen ihres Vater und das gerade heute. Sie nahm eines ihrer edel bestickten Kissen und presste es gegen ihre Brust, als könnte es die Leere füllen. James ging um das große Himmelbett und setzte sich hinauf. Er wusste nicht so recht, was er sagen oder tun sollte. Seine Tochter schluchzte leicht, als er versuchte sie anzusprechen. „Geht es dir gut?", fragte er. Eine dumme Frage, doch ihm fiel nichts besseres ein. Er fing an ihr über den Kopf zu streichen und fühlte sich merkwürdig dabei, als würde er etwas falsches tun. Doch wieso? Früher hatte er ihr doch auch unaufhörlich übers Haar gestrichen. Ja, er konnte kaum aufhören. Nun fühlte sich jede Berührung unendlich an. Unendlich schwer. „Vermisst du sie?" Wieder eine unnötige Frage. Sie nickte nur und ein weiterer Fluss aus Tränen brach über sie hinein. Er legte den Arm um sie und küsste ihre Stirn. Lang, liebevoll, mit einer Träne im Auge. Es schmerzte ihn. „Das wird schon wieder."
Ich saß oft auf meinem Bett und wartete darauf, dass er zu mir kam. Er mir noch einmal sie selbe Liebe zukommen ließ, wie ich es von ihm kannte. Er kam nicht mehr. Er kam nicht, weil er nicht wollte. Nun kam er nicht, weil er nicht konnte. Also kam ich zu ihm, ich stelle ihm etwas zu Essen auf den Nachttisch, setzte mich zu ihm auf die Bettkante. Ich kümmerte mich um ihn.
„Ich bin nach wie vor nicht hungrig." Sanft lächelte ich. „Nun iss schon." Ich hatte das Brot in kleine Stücken geschnitten, wie Mama es früher für mich getan hat. Es war merkwürdig seinen Vater füttern zu müssen, doch für ihm war es wohl noch unangenehmer. Als würde ich mich um ein Kleinkind kümmern, legte ich viel Ruhe an den Tag, machte alles etwas sanfter als sonst.Ich hatte ihm ein Trinkhalm aus Roggenstroh in den Becher gesteckt, damit ihm auch das trinken leichter fiel. Mike meinte ich solle zwar vorsichtig mit ihm umgehen, doch ich würde ihn viel zu sehr mit Samthandschuhen anfassen. Auch, wenn es nicht viel war am Ende hatte er wenigstens etwas gegessen. Ich stellte das Brett auf eine Kommode und den Becher auf seinen Nachtschrank. „Brauchst du noch etwas?", fragte ich, als ich mich neben das Bett stellte. Ich hatte vor ein Bad zu nehmen, denn auch, wenn ich heute nichts habe leisten müssen, hatte mich der Tag geistig angegriffen. Papa merkte wohl, dass ich drauf und dran war zu gehen, denn er sah mich bittend an. „Würdest du noch etwas bei mir bleiben? Es würde mir gut tun dich in meiner Nähe zu wissen." Ich drehte mich leicht weg und lächelte in mich hinein. Es hatte wirklich all die Jahre gebraucht, bis sich das Blatt wenden konnte und er mich, anders als ich es schon gewohnt war, bei sich haben wollte. „Ich bleibe gern noch etwas bei dir." Also setzte ich mich zurück auf das Bett. Es herrschte langes Schweigen zwischen uns. Ich würde es nicht einmal als unangenehm bezeichnen, im Gegenteil. Es war kein aufgezwungenes Beieinandersein, sondern eins, welches wir beide uns gewünscht hatten. Ich für meinen Teil hätte auch weiter einfach nur da gesessen und den Geräuschen des Palastes und der Vögel zugehört. Auch, wenn ich es nicht gern zugab: Mein Vater und ich hatten Jahre lang keinen Kontakt und nun sollen wir da anfangen, wo wir aufgehört haben? Ich hatte es mir so gewünscht, doch manchmal war es schwer, jedoch würde ich alles versuchen. Papa unterbrach die Stille plötzlich. „Es ist lange her, nicht wahr? Das, was du vorhin getan hast." Der Kuss auf seine Wange. Ja das war es. „War es schlimm?" „Es hat Erinnerungen wachgerufen.", ein weiteres langes schweigen begann, „Kannst du dich noch an das letzte Mal erinnern?" Ich nickte leicht. „Ich komischerweise nicht. Ich erinnere mich an alles von diesem Tag, nur daran nicht." Man sah das bedauern in seinem Gesicht. Er bedauerte es wirklich. Dann sah er in meins, wollte wahrscheinlich die Enttäuschung darin sehen, die Wut. Er sollte sie nicht finden. „Erzähl mir davon." Mit einem langem Atemzug schaute er wieder hinauf zur Decke des Himmelbettes und wartete auf meine Worte, doch ich zögerte. War es wirklich gut von solch einen Tag zu reden, grade an einem Tag wie heute? Von dem ersten Sterbetag meiner Mutter. Auch mich versetzte der Gedanke in eine unendliche Traurigkeit. „Bitte.", durchbrach er meine Gedanken und ich erzählte einfach fernab der Zweifel.
Als ich fertig war sah er mich an. Lange, schuldbewusst. „Warum war ich nicht einfach für dich da?", murmelte er. „Bereust du es?", fragte ich ohne ihn dabei anzusehen. „Mit jeden Tag, jeden Atemzug, mit jeden meiner Blicke, die auf dir ruhen." „Gut.", sagte ich nur und legte meinen Kopf nah an seinen. „Dann tu es nie wieder." Und küsste seine Wange. Lang, liebevoll, mit einer Träne im Auge.