In einer Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin, durchläuft man verschiedene Fachgebiete in der Praxis. So musste ich auch einmal auf der Neurologie arbeiten. Dort findet man Patienten mit den unterschiedlichsten Erkrankungen des Gehirns inklusive Nervensystem. Von Morbus Parkinson über MS, Demenz bis hin zum Apoplex, also Schlaganfall, ist alles vertreten.
Ich muss gestehen, dass die Neurologie nicht meine Lieblingsstation war. Schon in der Schule quälte ich mich durch diese Thematik. Doch da musste ich durch als Lurch, wenn ich ein Frosch werden wollte. Und verdammt noch mal - wer wollte das nicht?!
Ich musste im Krankenhaus immer diese tollen Kasacks tragen. Kennt ihr die? Das sind solche Kittel mit Druckknöpfen vorne. Für alle, die sowas tragen ... Bitte zieht ein T-Shirt, Top oder ähnliches darunter. Warum? Das erzähle ich euch jetzt.
Die erste Waschrunde war vorbei und ich sollte die Patienten aus den Betten holen. So auch den einen Patienten, der stark adipös gewesen war. Am Anfang lief alles noch gut. Mit meiner Hilfe saß er an der Bettkante, Füße vorbildlich auf dem Boden gestellt, um die Sitzstabilität zu gewährleisten. Natürlich hatte er festes Schuhwerk an, damit er nicht ausrutschen konnte. Theoretisch. Der schon etwas ältere Mann hatte einen Schlaganfall, weshalb seine rechte Seite gelähmt war und er sich dadurch nur noch schlecht beziehungsweise gar nicht mehr auf der betroffenen Seite halten konnte. Mit ihm einen Transfer in den Rollstuhl zu absolvieren war eine Herausforderung, doch wir würden das Kind schon schaukeln. Dachte ich jedenfalls. So sagte ich ihm, dass er seine Arme um meinen Nacken legen sollte und forderte ihn auf, mit seiner gesunden Hand die Kranke zu halten. Er folgte meiner Anweisung und so konnte auch ich ihn umfassen und auf "Drei" stützte er sich auf das nicht-betroffene Bein. Eins. Zwei. Und hopp. Er stand und ich kam ganz schön ins Schwitzen, denn der gute Mann war doch instabiler als vermutet. Mit Tippelschritten führten wir quasi einen kleinen Tanz auf, um ihn Richtung Rollstuhl zu drehen. Und dann passierte es. Er ließ seine erkrankte Hand los und verlor das Gleichgewicht. Ich umfasste ihn noch stärker, spürte aber, dass ich den Halt verlor, da er sehr schwer war und ich nicht so viel Kraft hatte. In seiner Panik nahm er seinen Arm komplett weg und begann damit wild zu rudern. "Halten sie sich an mir fest!" Das tat er auch - an meinem Kassack, der mit "Knack, knack, knack, knack, knack" sich plötzlich öffnete. So stand ich dann entblößt vor ihm. Er mit hochroten Kopf und ich genauso peinlich berührt. Als er begriffen hatte, was da gerade geschehen war, ließ er plötzlich meinen Kittel los und die letzte Stabilität ging flöten. Ich spürte, dass er mir weg rutschte und was tat ich? Ich versuchte ihn irgendwie Richtung Bett zu ziehen, damit er nicht auf dem Boden landete. Dazu muss ich sagen, dass dieses Geschehen innerhalb von Sekunden ablief und ich nicht wirklich dazu kam, das Pro und Kontra dieser Aktion im Vorfeld zu analysieren. Lange Rede kurzer Sinn. Ich zog ihn zu mir, wir verloren das Gleichgewicht und landeten gemeinsam auf seinem Bett. Meine Füße baumelten vom Bett, während ich ihn krampfhaft versuchte zu halten, da ich spürte, dass er immer weiter weg rutschte. Erst einen Moment später nahm ich unsere prekäre Lage wahr, die der Patient schon viel schneller erfasst hatte, denn er lag auf mir und ich darunter - wie ein Maikäfer strampelnd. "Es tut mir leid! Es tut mir leid! Es tut mir leid!", sagte der Herr unentwegt und versuchte sich von mir runter zu trollen. Doch das verschlimmerte die ganze Sache noch, weil er dadurch weiter nach unten rutschte und nun mit seinem Gesicht genau zwischen meinen Brüsten lag, während ich ihn krampfhaft versuchte zu halten, damit er nicht vom Bett fiel. "Hilfe!", rief ich voller Lautstärke, als ich spürte, dass mir immer mehr die Kraft schwand.
Nach einer gefühlten Ewigkeit öffnete sich dann die Tür und mein Kollege kam herein. Doch was machte er anstatt mir zu helfen? Er bekam einen Lachanfall und krümmte sich regelrecht vor Freude. Jaja. Sehr witzig. Hilfe?! Doch Hilfe kam nicht, denn er ging wieder - laut lachend. Während sich der Patient fortwährend entschuldigte und ich langsam aber sicher keine Luft mehr bekam, öffnete sich erneut die Tür und mein Kollege kam, mit fast vollständig versammelten Kollegium, herein. Alle lachten herzlich. Haha. Selten so was lustig gesehen. Schon verstanden. Lustig vor sich hinkichernd kamen sie dann zu mir und hieften den älteren Herrn von mir herunter, der sich immer noch entschuldigte. Natürlich durfte ich mir dann neckende Sprüche über meine Unterwäsche anhören und quittierte diese mit einem bösen Blick, der natürlich für noch mehr Lacher sorgte.
Und die Moral von der Geschicht: Liebe Pflegekräfte - vergesst das T-Shirt nicht!
Nicht nur Schlaganfall-Patienten waren auf der Station anzutreffen, sondern auf viele Demente. Einigen merkte man die Krankheit nicht an, anderen schon. In einer Frühschicht lief ein älterer Herr mit fast weißen Haaren staunend über die Station und sah sich um. Mal schaute er nach links und mal nach rechts, während er immer wieder stehen blieb und, meiner Meinung nach, nicht recht wusste wohin. So ging ich, umsichtig wie ich war, zu ihm.
"Guten Tag. Kann ich ihnen helfen." Er zuckte mit der Schulter.
"Ich weiß noch nicht so genau."
"Wo wollen sie denn hin?"
"Das weiß ich auch nicht. Ich wollte mich mal umsehen."
Oje. Wer weiß, von welcher Station er verschwunden war. So henkelte ich ihn ein und tätschelte beruhigend seinen Arm, was er mit einem wohlwollenden Blick bemerkte.
"Ist nicht so schlimm. Wir finden ihre Station schon. Wie heißen sie denn?"
Doch schon bekam ich eine Antwort auf diese Frage.
"Ah! Chefarzt XYZ! Was machen sie denn hier?"
Schockiert sah ich zu dem kleinen alten Mann und musste ziemlich fassungslos drein Blicken, da er mich nun amüsiert betrachtete und mich beruhigend tätschelte.
"Alles gut meine Liebe. Ich habe mich sehr gut versorgt gefühlt. Vielen Dank. Ich bin der ehemalige Chefarzt von hier und wollte mich mal umsehen. Es hat sich ganz schön viel verändert." Dann zwinkerte er mir zu. Erdboden tue dich auf! Gib mir ein Loch, indem ich versinken kann. Sowas konnte auch nur mir passieren ...
Eine andere Geschichte erlebte ich mit einem, diesmal wirklich, dementen Patienten. Er war bettlägerig und ich führte bei ihm die Körperpflege durch. Als ich gerade dabei war, sein Gesäß zu reinigen, fing er plötzlich an zu stöhnen. Oha. Ein wenig perplex hörte ich mit der Reinigung auf und fragte besorgt, ob ihm denn etwas fehle. Doch er verneinte und ich machte weiter, bis er wieder plötzlich stöhnte. Irgendwie klang das nicht wirklich nach Schmerzen. "Oh Schatz! Das hast du ja lange nicht mehr gemacht. Bitte mach weiter und etwas fester!" Nun wackelte er herausfordernd mit seinem Gesäß und es war vorbei mit meiner Fassung. "Ähm ... also ... ähm ..." So stotterte ich vor mich hin, als der Patient, der mich anscheinend mit einer Liebschaft verwechselte, anfing sich zu stimulieren. Okeeee. Zeit zu gehen. "Ähm ... Schatz. Mach doch schon mal weiter. Ich ... ähm ... muss noch mal in die Stube. Ich glaube, dass ich das Bügeleisen angelassen habe." Hä? Na was Besseres fiel mir spontan auch nicht ein. Doch er nickte zufrieden, während er sich selbst befriedigte. Mit purpurfarbenen Gesicht verließ ich den Raum. Eine Kollegin sah dies und kam zu mir. "Was ist denn los?", fragte sie besorgt. Ich erzählte ihr, was geschehen war und sie schmunzelte. "Das kann ja auch nur dir passieren." Sie hatte es erfasst! Schnell illerte sie in den Raum hinein. Dann lächelte meine Kollegin mir freundlich zu und meinte: "Gib ihm noch paar Minuten." Das tat ich auch und fand danach einen seelig schlummernden Patienten vor. Ich gönnte es ihm.
Manchmal kam mir meine Fantasie im Umgang mit den Dementen echt zugute. Es war oftmals nämlich die einzige Möglichkeit einen Zugang zu den Erkrankten zu bekommen, wenn man in ihre Welt eintauchte und sie gewissermaßen spiegelte. Validation nennt man das. So hatten wir auf der Neurologie einen Patienten, der nicht mehr essen wollte. Egal, was wir ihm anboten, er verweigerte es. "Geh du mal hin. Du hast doch einen Draht zu Dementen." Ja. irgendwie schon. So ging ich zu dem Patienten, vollbeladen mit dem Mittagstablett, und sagte freudestrahlend: "Essen wird serviert." Genervt verdrehte er die Augen.
"Ich habe keine Zeit." Vorsichtig stellte ich das Tablett auf den Tisch und stellte mich zu ihm.
"Warum denn nicht? Was machen sie denn gerade?"
"Sehen sie das nicht? Ich muss das zusammen bauen. Wenn ich nicht rechtzeitig fertig werde, bekomme ich Ärger mit der Geschäftsführung. Und außerdem ..." Er sah auf seine Uhr. "... ist es noch gar keine Mittagszeit. Pause ist erst in 30 Minuten." Aha! Daher wehte der Wind. Anscheinend war er gerade geistig in eine Zeit versetzt, als er Arbeiter gewesen war. Ich versuchte mir seine Biografie ins Gedächtnis zu rufen. Beim Aufnahmegespräch hatte seine Tochter angegeben, dass er Schichtleiter in einer Fabrik war und das Hergestellte auf seine Funktionsfähigkeit überprüfte. Da er an seinem Kopfkissen nästelte, nahm ich an, dass er dies gerade geistig tat. Ich rieb mir imaginär die Hände. Auf in den Fantasymodus. Ich stellte mich etwas gerader hin und sah ihn erstaunt an. "Hat es ihnen denn keiner gesagt?" Fragend hob er den Kopf. "Die Pause wurde verschoben. Sie wurde eine halbe Stunde vorverlegt." Skeptisch betrachtete er mich. "Warum sollte die Geschäftsführung das machen?" Ähm ... ähm ... denk! Denk! "Weil die Abläufe dann effizienter werden. Durch die Pausenänderung laufen die Prozessabschnitte zeitlich besser ineinander." Ergab das überhaupt einen Sinn? Ich hielt die Luft an. Entweder hatte ich ihn auf meiner Seite, oder er blockte vollkommen ab. Doch irgendwann zuckte er mit der Schulter und ging zu dem Tisch und begann zu essen. "Die haben auch Langeweile da oben." Ich lachte erleichtert. "Da haben sie recht." Dann hielt der Patient kurz inne, zog die Augenbrauen zusammen und fragte: "Aus welcher Abteilung kommen sie nochmal?" Verdammt. "Ähm. Ich bin die ... ähm ... Sekretärin der Geschäftsführung?!" Es war mehr eine Frage als Aussage, doch er gab sich damit zufrieden und aß entspannt weiter. Bingo. Ich instruierte meine anderen Kollegen diesbezüglich und ab diesen Tag verneinte er keine Mahlzeit mehr.