Die Zentrale der Crossbrick Times liegt an der Grenze zwischen Crossbrick-Foxtown und Crossbrick-Central, zwischen zwei hohen, schmalen Wohngebäuden mit abblätternder, orangeroter Farbe. Das Büro selbst ist ein modernes Stahlbauwerk mit großen Fensterfronten, einem businessmäßigen Schild über der Tür und einem Ständer auf dem Gehweg, aus dem man für zwei Zentis eine Zeitung erwerben kann.
Besagter Ständer befindet sich allerdings in einem etwas platteren Zustand als vorgesehen. Zeitungen haben sich aus dem Kasten befreit und flattern auf die Straße, vermutlich ihr neues Leben in Freiheit genießend.
Mehrere Reporter in grauen Anzügen stehen ratlos um den Stand herum, und mehrere abgerissene Individuen sind aus verschiedenen Seitengassen aufgetaucht - immerhin gibt es hier etwas umsonst. Viele Zeitungen sind bereits in ausgebeulten Jacken verschwunden.
„Was ist denn hier passiert?“, erkundigt sich Merkury unschuldig, als die Polizisten bei den Reportern ankommen.
„Was geht euch das an? Verschwindet!“, faucht eine junge Frau mit rötlichbraunen Fuchskopf und sechs Fuchsschwänzen, die unter dem grauen Jackett hervorschauen.
Merkury zückt ihren Ausweis und hält ihn der Kitsune unter die schwarze Schnauze: „Polizei Crossbrick. Wie ich schon fragte: Was ist hier passiert?“
„Unfall mit Fahrerflucht“, teilt die Kitsune mit plötzlicher Gesprächigkeit mit. „Es ging so schnell, dass ich kaum etwas gesehen habe. Es war ein roter Panzer oder etwas Ähnliches! Sie haben den armen Harribert überfahren!“
„Es ist tatsächlich jemand zu Schaden gekommen?“, fragt Merkury verdutzt.
„Es gab einen Toten?!“, entfährt es Greg entsetzt.
„Oh, nein.“ Die Kitsune wirkt überrascht. „Wir nennen den Zeitungsständer Harribert.“
Mit prüfenden Blicken beugen sich die beiden Polizisten über den zerstörten Verkaufsstand. Jemand hat dem Kasten zwei Wackelaugen aufgeklebt, die nun auf dem verbeulten Metall verstörend nach Innen schielen.
„Hmm, hm“, macht Merkury, dann wendet sie sich der Kitsune zu. „Wir müssen mit dem Reporter sprechen, der für die Titelseite der gestrigen Ausgabe zuständig ist.“
Verblüfft von der plötzlichen Wendung legt die Fuchsfrau die Ohren an, dann nickt sie. „Folgt mir.“
Auch im Inneren der Büros herrscht Chaos. An einer Ecke sammeln sich die Raucher, die den bei dem Beinahe-Unfall erlittenen Schock mit einer Zigarette bekämpfen. Ein junger Riese hat sich bei der Flucht den Kopf gestoßen und wird im allgemeinen Tabaknebel gerade behandelt.
Die Kitsune führt Greg und Merkury zwischen den tuschelnden Reportern hindurch, einige Treppen hinauf und dann einen langen Gang entlang, an dessen Wänden Zeitungsausschnitte hängen.
Greg wirft einen Blick auf einen dieser gerahmten Ausschnitte und stellt fest, dass jemand mit rotem Stift über den Artikel gekritzelt und einen Rechtschreibfehler verbessert hat.
Neugierig geworden, sieht er sich auch die anderen Bilder an. Es handelt sich offenbar um Zuschriften von Lesern, die einen Fehler in der Zeitung entdeckt, diesen hervorgehoben und an die Redaktion geschickt haben.
Es ist eine Wall of Shame.
Die junge Kitsune hält an und Greg wäre beinahe in sie hineingelaufen. Er bremst gerade noch rechtzeitig, während die Fuchsfrau an die unscheinbare Tür eines Büros klopft.
„Ja, kann man hier nicht mal eine halbe Stunde in Ruhe arbeiten?“, schnauzt eine hohe, piepsige Stimme. „Herein, verschwefelt noch mal!“
„Er ist ein wenig eigensinnig“, sagt die Kitsune. Sie stößt die Tür auf und springt dann zur Seite, als würde sie mit einer Explosion rechnen. Schneller als ein panisches Wiesel ist sie um die Ecke und die Treppe hinuntergesprungen.
Merkury tritt ein, Greg hält sich hinter ihr. Da er zweieinhalb Köpfe größer ist als seine Partnerin, ist er hinter ihrem Rücken keineswegs verborgen, so viel Mühe er sich auch gibt.
Auf den ersten Blick wirkt das Büro verlassen, obwohl der Computer auf dem plastikweißen Schreibtisch brummt wie ein alter Flugzeugmotor und sie ganz deutlich eine Stimme gehört haben.
Merkury stolpert über einen Stapel Akten auf dem Boden, weitere Stapel sind überall im Raum verteilt. Dazwischen flattern Bilder und einzelne Blätter herum, die Regale und Schränke an den Wänden dagegen sind größtenteils leer, nur an der Wand hinter dem Schreibtisch gibt es eine große Pinnwand mit Fotos, über Stecknadeln gezogenen Gummibändern, die Linien bilden, und mit winziger Handschrift verfassten Notizen.
„Tür zu, es zieht!“, piepst dieselbe Stimme und der augenscheinlich leere Drehstuhl vor dem Schreibtisch dreht sich wie von Geisterhand um. Auf der Sitzfläche steht ein kleines, grünes Wesen in einem winzigen, grauen Anzug und mit verschränkten Armen. „Wird's bald?“
Perplex stößt Greg die Tür zu. „Polizei Crossbrick, Detectives Merkury und Shade“, stellt er sie mechanisch vor. „Wir haben einige Fragen.“
„Du bist ein Kobold!“, entfährt es Merkury.
„Nein, ein verdammter Hotzenplotz!“, erwidert der Kobold. „Aki der Name. Was wollt ihr?“
Da Merkury den Kobold noch immer entgeistert anstarrt, denn sie trifft nur selten jemanden, der es in Sachen Sarkasmus mit ihr aufnehmen kann, übernimmt Greg das Reden. „Wir wollen wissen, wer die Zeugen im Statuenraub waren.“
„So, so!“ Der Kobold setzt sich, lacht, dann springt er wieder auf und hüpft auf den Schreibtisch. „Euch gibt’s auch noch, wie? Wusste nicht, dass die Polizei noch im Geschäft ist.“
Die Tastatur hat Normgröße 10 und ist für Hände gemacht, die so groß sind wie der komplette Kobold. Der kleine Reporter legt jedoch eine kurze Ballettnummer auf den Tasten hin und auf dem PC öffnet sich eine Datei, in der Greg den Zeitungsartikel über den ‚Diebischen Geist‘ erkennt. Dann öffnen sich weitere Dateien mit viel Text und einigen Fotos. Eine Fotografie zeigt die dicke und ausnehmend hässliche Statue von Lukas Porridge.
„Kommt, kommt näher!“ Aki winkt sie begeistert heran. Sein plötzlich verändertes Verhalten lässt nur einen Schluss zu: Er hat lange auf eine Gelegenheit wie diese gewartet. Stolz präsentiert er die Dateien. „Hier habt ihr sämtliche Informationen zu dem Diebstahl, möglicherweise verwandten Diebstählen in anderen Städten, Zeugenaussagen und Theorien dazu, wie die Diebe vorgehen.“
„Oder der Dieb“, murmelt Merkury, als sie sich vorbeugt. Sie zückt einen Stick. „Wir müssen die Daten leider beschlagnahmen.“
„Was?!“, entfährt es dem Kobold.
Mit einem leisen Knall geht der Rechner aus, ebenso alle anderen elektronischen Geräte im Raum. Sogar das Licht flackert, und grüne Wolken bilden sich um den PC. Merkury fährt würgend zurück und wenig später kitzelt der Geruch nach faulen Eiern auch Gregoris Nase.
„Das könnt ihr nicht machen!“, jammert der Kobold, ehe sich sein Gesicht verfinstert. „Ich habe das alles doch nicht umsonst gesammelt! Oh, nein, umsonst kriegt ihr die Infos nicht!“
„Ist das jetzt ein Kobold oder ein Dämon?“, flüstert Merkury aus dem Mundwinkel.
„Ein Dämon“, antwortet Greg angespannt. „Aber er hat es gut verborgen.“
„Bis gerade“, sagt der vermeintliche Kobold, dem ihre Unterhaltung nicht entgangen ist. Er schnieft trotzig. „Außerhalb dieses Raumes wissen nur meine Eltern, was ich wirklich bin. Sie haben mein Geburtszertifikat fälschen lassen, damit ich eine Chance in dieser verpesteten Stadt kriege, und die werde ich nutzen!“
„Wir könnten dich auffliegen lassen!“, knurrt Merkury und tastet nach ihrer Waffe. „Ich kenne sieben Exorzismen!“
„Aber das werdet ihr nicht tun, richtig?“, fragt Aki und sieht mit großen Augen zu ihnen auf. Er guckt Greg an. „Du verstehst mich doch, Schattenmann, oder?“
„Was willst du von uns?“, fragt Greg.
„Fällst du ehrlich auf den Dackelblick rein?“, fragt Merkury entgeistert.
„Ich will eine Chance“, sagt Aki. „Hier bin ich ein Freak, der sich zu viel mit Serienmördern und Kriminellen befasst und in seiner Freizeit komische PC-Programme schreibt. Ich bin der Sonderling, der nur ab und zu mal einen größeren Artikel schreiben darf – logischerweise die blutigen Artikel, denn das ist mein Metier. Ich bin nicht ganz zufällig euer Ansprechpartner, denn ich bin der einzige Reporter in dieser Stadt, der sich noch die Mühe macht, Kriminalfälle zu dokumentieren. In Crossbrick, wohlgemerkt!“
Merkury seufzt. „Komm zum Punkt.“
Aki schleudert ihr einen giftigen Blick zu. „Das ist nicht so einfach, Frau Freundlich! Immerhin schütte ich hier gerade mir zwei völlig Fremden mein Herz aus!“
Greg fasst Merkury am Arm und zieht ihre Hand von der Waffe weg. Merkury schüttelt ihn brüsk ab und verschränkt die Arme vor der Brust.
„Erzähl uns deine Geschichte“, sagt Greg zu Aki. „Wir hören zu.“
„Aber nicht sehr lange“, zischt Merkury, „Ich habe wenig Geduld!“
Aki wirft die Arme hoch und platzt heraus: „Ich wäre gerne Polizist geworden! Das war schon immer mein Traum. Aber es geht nicht, weil sie ja meinen Hintergrund nachprüfen würden, und dann würde der ganze Schwindel auffliegen! Ironisch, nicht wahr? Meine Eltern haben es ja nur gemacht, damit ich bessere Startbedingungen habe, aber jetzt steht mir genau diese Lüge im Weg.“
„Das heißt nicht ironisch, sondern undankbar“, flüstert Merkury halblaut.
„Ich denke“, sagt Greg schnell, „ich verstehe, was du von uns willst. Aber wir haben keinen Zugriff auf solche Dokumente. Außerdem würden daraus Pro-bleme erwachsen, die wir normalen Nichtbürokraten uns nicht einmal vorstellen können.“
„Lasst mich euch wenigsten helfen!“, drängt Aki flehentlich. „Ich habe die Informationen über euren Dieb. Lasst mich mit euch ermitteln. Oder der PC bleibt aus!“
Merkury hebt eine Augenbraue. „Erpresst der uns gerade wirklich, damit wir ihn Polizist spielen lassen?“
„Es kann nicht schaden, oder?“, fragt Greg zurück.
Merkury löst die Arme vor lauter Entgeisterung. „Ist das dein Ernst, Shade? Du willst darauf eingehen?“
„Ich sag doch, der Schattenmann versteht mich!“ Aki grinst breit und siegessicher. Flackernd leuchtet der Bildschirm des Rechners wieder auf.
„Und sie versteht dich auch, sie will es nur nicht zugeben“, sagt Greg und hebt dann einen langen Zeigefinger. „Aber weder werden unsere Ermittlungsergebnisse am nächsten Tag in der Zeitung stehen, noch wirst du unsere Anweisungen missachten. Du darfst mit uns ermitteln, aber die Ergebnisse bleiben geheim, bis wir sie offiziell rausgeben.“
Aki seufzt. „Besser werden die Bedingungen wohl nicht. Deal.“
Merkury rollt die Augen.
„Also“, beginnt Aki und klettert geschickt über einige Aktenordner hinauf zur Korkwand. „Hier seht ihr sämtliche Tatorte. Zuerst: Ein Juwelier im Brimstonetal. Sämtliche Scheiben des Geschäftes waren zersplittert, die Alarmanlagen wurden zerstört, bevor sie auslösen konnten. Der Dieb entwendete allerdings nur Fälschungen im Wert von einigen wenigen Zentis, wie sich im Zuge der Ermittlungen herausstellte, und ließ den echten Schmuck zurück. Der Besitzer musste ein Bußgeld bezahlen. Als Nächstes wurde eine Schule in Newforthsshire zum Ziel. Es sah aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen, alle Bücher über Kunstgeschichte waren gestohlen worden. Dann natürlich der prominenteste Einbruch, der Diebstahl der Irre grinsenden Kuh Lisa aus dem Nationalmuseum von Furtherway. Wenig später gab es dann auch Diebstähle außerhalb von Altvorderen. Die Spur zieht sich durch das ganze Land und endet schließlich hier, Crossbrick in Dermaleinst. Wobei, wenn ihr mir diese Einschätzung erlaubt … es sieht so aus, als hätte Crossbrick schon lange im Zentrum der Ereignisse gelegen. Sämtliche Vorfälle scheinen sich wie eine Spirale um die Stadt zu ziehen.“
Der kleine Kobold dreht sich um und sieht zu Greg und Merkury auf. Während Greg konzentriert lauscht, hat Merkury die Arme wieder vor der Brust verschränkt und trägt einen finsteren Ausdruck zur Schau. Es läuft Aki eiskalt den Rücken herunter, als sie ihn ansieht.
„Der Ablauf ist immer gleich, deswegen kann man von einem oder mehreren Serientätern ausgehen“, fährt er eilig fort. „Es wirkt, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Glas ist zerbrochen, Stein geborsten, alle Alarmsysteme lahmgelegt. Es gab insgesamt drei Tote, jedes Mal Sicherheitsmänner, die sich im Gebäude aufhielten. Zwei wurden von dem Glas zersplitternder Scheiben getötet, einer ist mit inneren Blutungen zusammengebrochen, als seine künstliche Lunge zersplittert ist. Wenn ihr mich fragt, waren es aber lediglich Kollateralschäden dieser Macht, die angewendet wurde.“
„Niemand fragt dich“, knurrt Merkury leise.
Aki zwingt seine Konzentration auf den schlanken Schattenmann, dessen Vektakel fast die Decke berühren. Doch auch Shade ist nicht viel besser dazu angetan, Akis angespannte Nerven zu beruhigen. Die langen Haare des Schattenmanns bewegen sich, als wären sie unter Wasser, obwohl in dem Büro überhaupt kein Wind weht. Und hält eine der Strähnen ein Ahornblatt fest und wedelt damit wie mit einem Fähnchen? Nein, er muss sich täuschen.
Aki schluckt. „Niemand hat den Einbrecher oder die Einbrecher jemals gesehen und niemand weiß, welche Macht sie einsetzen. Ich habe Zugriff auf eine Akte der Polizei von Furtherway, die besagt, dass alle Tests auf herkömmliche Magie negativ ausfielen. Falls sie Technik benutzen, so ist sie selbst dem Militär nicht bekannt. Es gibt keine Fingerabdrücke, oder wenn doch, sind sie in dem Chaos unkenntlich geworden. Andere Wachen haben DNA-Tests versucht. Sie haben eine Spur gefunden, jedoch keine Übereinstimmung mit irgendeiner Datei. Es scheint sich um einen Einzeltäter zu handeln. Um jemanden, der nirgendwo verzeichnet ist – oder dessen Angaben gelöscht wurden.“