Er packte nicht viele Dinge ein. Ein Bild von ihr und ihm, eine Flasche Wasser und einen Apfel. Vor allem schleppte er viele Erinnerungen und Pläne mit.
»Du machst dir zu viele Gedanken«, behauptete sie. Er zog den Rucksack über die Schulter und öffnete die Zimmertür.
»Nicht dort herum«, sagte sie und öffnete das Fenster. Der Wind wehte in sein Gesicht und brachte den Geschmack von Freiheit. Er schaute hinaus in den sternenklaren Himmel. Mit einem Lächeln stieg sie hinauf auf das Fensterbrett und einen Augenblick lang glaubte er, alles wäre zu spät, aber dann schwebte sie in ihrem weißen Sommerkleid vor dem Fenster und streckte ihm ihre Hand entgegen.
»Schüttele sie ab«, sagte sie und er griff nach ihren Fingern, zog sich hoch und schüttelte die Gedanken ab. Die Welt war leicht und bunt. Drinnen war es dunkel und kalt, aber er flog draußen über Baumkronen und blendete sich selbst aus. Der Mond schaute ihnen zu.
Sie spazierten über die Dächer der Häuser, balancierten über dem Abgrund. Hand in Hand tanzten sie auf den Ziegeln, sprangen über Schornsteine. Ihre Kindheit zog an ihm vorbei, der Spielplatz, wo sie sich schon immer kannten, all die Geburtstagsfeiern mit Kerzen und Hütchen und Kinderlachen.
Er sah hinunter auf ihren Schulhof. Die Gedanken an ihre Einschulung durchströmte seine Adern. Vier Jahre, in denen er fast glücklich gewesen war.
»Fang mich, fang mich«, hatte sie gerufen und gelacht und ihre Locken sprangen, als sie einen Satz machte. Er wusste, ihr Lachen war das schönste, so schön, dass es die Schreie zu Hause verhüllte und den Schmerz, der manchmal aufriss, wenn er alleine in der Ecke seines Zimmers hockte und hoffte, dass es dieses Mal nicht so schlimm werden würde.
Als er sie fing, hielt er ihren Arm und schaute sie an. Sie schwebten über ihrer Vergangenheit. Die Gegenwart verschmolz mit Erinnerungen. Farben strömten durch sie hindurch. Die Sterne blinkten darüber und der Mond stimmte in das herzliche Kinderlachen ein.
Sie balancierten an der Dachrinne vorbei. Er stolperte und sie fing ihn auf, griff nach seinem Arm und er blickte zu ihr hoch. Das bleiche Gesicht in der Sternennacht.
»Hörst du die Farben, Tobi?«, flüsterte sie. Langsam kniete sie sich zu ihm, näherte sich soweit, dass ihr Gesicht seinem ganz nahe war. »Schmeckst du die Leichtigkeit?«
Er hörte sie, er schmeckte sie und er wusste, dass es eine Lüge war.
Sie rannten wie damals, er versuchte sie zu fassen, aber sie war so schnell. Wie ein Gedanke zwischen Schlaf und Wachheit. Er erblickte sein Fenster und sie flatterte zurück, nahm ihn mit sich, obwohl er sich sträubte.
»Du musst irgendwann loslassen«, hauchte sie auf seine Lippen, aber er wollte es nicht.
»Nicht jetzt«, beharrte er.
Sie leitete ihn über die Baumkronen, hielt ihn fest und landete auf einem Ast. Sie deckte ihn mit Wünschen zu und hauchte einen Kuss auf seine Stirn.
»Nein, noch nicht«, erwiderte sie. Damit strich sie ihm mit ihrem Handrücken über die Wange und ging.
Hätte er damals gewusst, was passieren würde, er hätte sie nicht gehen lassen.