Einst gab es eine Zeit, in der Fabelwesen nicht bloß Mythen waren. Sie existierten fernab der Normalität, in einer Welt, die für Menschen unbegreiflich war. Sie war älter, magischer, außergewöhnlicher und faszinierender. Aber auch gefährlicher.
Eine Welt, in der es hieß: Das Gute gegen das Böse. Diese magische Welt war übersät mit Schlachten in vielen Teilen der Länder, doch wurden diese nicht mit Waffen ausgetragen, sondern mit Kräften, die einfache Menschen nicht besaßen.
Es gab aber auch noch friedliebende Dörfer, in dieser fremden Welt. Eines von ihnen wurde Morac genannt. Auf diesem Fleckchen Erde lebten die verschiedensten Kreaturen in Frieden zusammen und hielten sich aus dem Kriegsgeschehen heraus. So machte es den Eindruck, dass die Welt in Ordnung war.
Doch das war sie nicht. Abseits des tiefen und dunklen Waldes, der sich um Morac erstreckte, lebten sie. Die Maleficas. Wo man ihren Namen aussprach, herrschte Angst. Sie fielen in die Dörfer ein und hinterließen Blutbäder. Sie plünderten und verletzten, wann immer ihnen der Sinn danach stand. Sie richteten niedere Völker hin und töteten aus Leidenschaft alles, was nicht einer reinen Blutlinie entsprungen war.
Die Maleficas bestanden aus verschiedenen Gattungen der magischen Bewohner. Unter ihnen waren Zwerge, Trolle, Kobolde, Werwölfe, Dunkelelfen und auch Orks. Die schlimmsten von ihnen aber waren die Hexen. Unweit von Morac, gleich hinter dem Wald, der sich kilometerlang erstreckte, lebte der grauenvollste und mächtigste von ihnen. Er wurde Nukleo genannt und verbreitete mit seiner dunklen Armee Angst und Schrecken. Niemand stellte sich ihm in den Weg, denn alle fürchteten seinen Zorn.
So begannen die Bewohner von Morac sich vor dem Wald zu fürchten, von dem sie umgeben waren. Niemand wagte den Weg hindurch, in das Land der Maleficas. Niemand überschritt die Grenze, wenn ihm sein Leben lieb war.
Morac bot allerdings genügend Ablenkung, um den Waldrand weitestgehend zu ignorieren. Die Bewohner liebten ihre Heimat. Sie feierten viele Feste und ein jeder half dem anderen, wann immer sich die Gelegenheit dazu bot. Auch dort lebten die verschiedensten magischen Wesen und sie alle wussten einander zu schätzen und fügten niemandem Leid zu.
Es gab eine Hexenfamilie, die es ganz besonders schade fand, dieses Treiben nicht immer miterleben zu können. Die junge Thyra, ihr älterer Bruder Aramis und ihre Mutter Shywa.
Sie lebten in der Menschenwelt in einem kleinen Städtchen, das Lupor genannt wurde. Thyra und ihr Bruder lebten dort wie ganz normale Menschen. Sie besuchten die Schule und lernten Dinge, die sie nie wieder brauchen würden. Sie waren stets freundlich und aufgeschlossen und trotzdem behandelte man sie wie Aussätzige.
Das lag vor allem daran, dass sie sich außerhalb der Schule nirgendwo zeigten. Aramis zog es vor, für sich zu sein und genoss die Gegenwart der Menschen nicht besonders. Er lebte bloß von einer Ferienzeit zur nächsten. Das Wichtigste in seinem Leben war immer nur die Rückkehr in die Welt, mit der er sich so verbunden fühlte.
Auch für Thyra war Lupor nicht die Heimat, für die sie sich entscheiden würde. Doch diese Wahl hatte ihre Mutter einst für sie getroffen, als sie der Hexerei abschwor und einen Menschen heiratete. Aiden. Thyra liebte ihren Stiefvater von ganzem Herzen. Er war ein großzügiger und offenherziger Mann. Sie konnte sich nicht an den Tag erinnern, an dem er erfuhr, dass er sich in eine Hexe verliebt hatte.
Ein Zögern war bei ihm trotzdem nie zu erkennen gewesen. Er zog Shywas Kinder groß, als wären sie seine eigenen. Er stellte nie infrage, dass in seinem Haus Magie an der Tagesordnung war, denn anders als Shywa lebten die Kinder die Hexerei.
Trotzdem ging Thyra davon aus, dass es für Aiden ein Schock gewesen sein musste, mit einer Hexe verheiratet zu sein und zwei magische Kinder großzuziehen. Doch Thyra war sich sicher, dass die Tatsache, dass ihre Mutter nicht mehr hexte, eine Erleichterung für ihn war.
Das ganze Haus war voller Magie und es kam niemand zu Besuch, der sich dessen nicht ganz genau bewusst war. Da war zum Beispiel Jaromir, der Troll. Er war ein Haustroll, doch für Thyra gehörte er zur Familie. Auch er musste für Aiden eine Herausforderung sein. Man musste sich mit Sicherheit über einen längeren Zeitraum daran gewöhnen, dass im Haus ein Troll lebte, der kochte, putzte und auch sonst alle Hausarbeiten erledigte.
Obwohl Thyra das Leben in Lupor nicht sehr schätzte, gab es verschiedene Annehmlichkeiten, durch die sich die Zeit zwischen den Schulferien gut bewältigen ließ. Zum einen war da natürlich die Hexerei. Zum anderen war es die Gesellschaft der Menschen.
Im Vergleich zu ihrem Bruder, kam Thyra sehr wohl unter Leute. Sie hatte keine Freundinnen in der Menschenwelt, doch mit einigen der Jungs verstand sie sich gut. Insbesondere mit Finley. Er war der erste der Hexenjäger gewesen, der ihre Nähe nicht nur tolerierte, sondern auch schätzte. Sie verbrachte viel Zeit mit ihm und freundete sich im Verlauf des letzten Jahres mit ihm an.
Sie wollte es gerne so sehen. Der Gedanke, dass man sie nur aus reiner Zweckmäßigkeit, oder gar aus Angst duldete, tat ihr weh und deshalb hoffte sie sehr, dass das nicht der Wahrheit entsprach.
Seit der Nacht im Wald hatte sich Thyras Leben nach und nach verändert. Sie hatten auf dieser Lichtung einen Pakt geschlossen und Thyra hoffte, dass sich aus dieser Vereinbarung echter Respekt entwickelt hatte. Bei Finley war sie sich da beinahe sicher. Er war der erste, der sie nicht mehr angsterfüllt angestarrt hatte, wenn sie in einem Raum waren. Er war der erste, der sich traute, mit ihr alleine zu sein und sich von ihr anfassen zu lassen. Er hatte seine Furcht vor ihr verloren. Die Furcht vor der Hexe in ihr. Thyra wollte Finley als einen Freund betrachten, denn er war der einzige, den sie hatte.
Die Welt brauchte Menschen, wie ihn. Sie brauchte Jäger. Thyras Familie war nicht die einzige, die in der Menschenwelt ihren Platz fand. Viele Hexenfamilien waren seinerzeit vor dem Krieg und der Gefahr geflüchtet. Mit den guten Hexen, den Arush, kam aber auch viel Schlechtes durch die Portale.
Die Maleficas bahnten sich ihren Weg in die Menschenwelt, um sich menschliche Seelen zu suchen und aus ihnen willenlose Dämonen zu machen. Damit ihnen Einhalt geboten werden konnte, gab es die Jäger. Thyras Jäger waren nicht die einzigen in der Menschenwelt, aber sie waren die einzigen in Lupor. Sie nahmen sich der Gefahr an und beseitigten jede Hexe, die sie finden konnten.
Nach dem letzten Jahr war daraus nicht nur eine feste Abmachung geworden. Zwischen Thyra und den Jägern entwickelte sich ein loyales Band. Sie lernten, einander zu vertrauen.
Den Hexenjägern wurde bald bewusst, dass sie viele Jahre lang unschuldige Hexen ermordet hatten und nach und nach wurde Thyra, die Hexe, selbst zu einer Hexenjägerin.