Der Monat startete mit einem Shoppingausflug mit Emma nach Dresden. Zuerst mussten wir Kondome kaufen, da ich das nicht allein, und vor allem nicht bei uns im Dorf, selbst nicht in der nächstgelegenen Stadt machen wollte. Uns war das ziemlich peinlich. Wir haben zwar noch Make-up gekauft, aber die Kassiererin hat mich trotzdem angegrinst. Oder zumindest hat Emma das gesagt, ich habe diese Frau gar nicht erst angesehen. Also gut, Blasenpflaster, Kondome und Wimperntusche sind schon irgendwie eine komische Kombination. Nachdem wir das geschafft hatten, mussten wir erstmal lachen, weil uns das ja eigentlich nicht peinlich sein muss. Sind ja total verantwortungsbewusst und so. Lukes Kommentar am Abend beschränkte sich auf
»Dann brauche ich wenigstens nicht daran denken.«
Nachdem Emma und ich noch einige Geschäfte geplündert hatten und sie mir das Höschen von einem BH überließ, den sie sich gekauft hatte, fuhren wir mit dem Zug nach Hause und hatten uns natürlich viel zu erzählen, vor allem über Luke. Abends dann wollte er Bilder von den gekauften Sachen und meinte, ich könnte auch Bilder ohne Unterwäsche machen, als ich auf seine Bitte hin anmerkte, ich würde mich nicht nur in Unterwäsche photographieren. Emma hat sich halb tot gelacht, als ich ihr das erzählte.
Unglücklicherweise stellte ich fest, dass mir mein Dirndl, welches ich seit einem Jahr besaß, nicht mehr passte, weil meine Brüste zu groß geworden waren. Meine Mutter meinte zu mir, dass ich ja sowieso in nächster Zeit keine Gelegenheit gehabt hätte, es zu tragen, »es sei denn du besuchst Luke mal in Bayern.«
Ich, total ungläubig:
»Als ob ihr mich da hinlassen würdet. Außerdem wohnt er doch in Göttingen.«
Daraufhin meinte sie, dass er ja vielleicht mal seine Eltern besucht und dass dieses Jahr nicht angebracht wäre, aber nächstes Jahr im Sommer, mit fast siebzehn Jahren traut sie mir das durchaus zu. Ich hätte nie geglaubt, dass Mama mir das erlauben würde, aber als ich fragte, ob das ihr Ernst sei, bejahte sie.
Am 05.Mai begann der dreimonatige stationäre Aufenthalt für Luke. Die Zeit kurz vorher, in der wir jeden Tag geredet haben, stundenlang, über Gott und die Welt, behielt ich als schönste Zeit in Erinnerung.
Als er mir mitteilte, dass es wunderbar dort sei, wurde ich irgendwie sehr abweisend in meinem Schreibstil. Dass alles okay sei, glaubte er mir nicht, und ich sollte ihm doch bitte sagen, was los ist, antwortete ich knapp:
»Aber es gibt nichts zu sagen.«
Wieso war ich auf einmal so genervt? Es war doch wirklich alles okay. Oder?
Eines Tages schrieb mir ein Bekannter, welcher gerade eine neue Freundin hatte, dass das Leben zur Zeit total auf unserer Seite sei, und ich antwortete vor Sarkasmus triefend:
»Wenn Du mit 'auf unserer Seite' meinst, dass ich meinen Freund drei Monate nicht sehen kann, es ihm schlecht geht, ich nichts dagegen tun kann und wir nicht so oft die Möglichkeit zum Telefonieren haben, dann ja, steht das Leben voll auf unserer Seite.«
Er hat es noch nicht mal verstanden. Hach. Emma hat auch nicht kapiert, wie man das nicht verstehen kann. Sie dachte die ganze Zeit, ich mache mir Sorgen um Luke. Aber dem war nicht so, er war dort gut aufgehoben. Ich hatte nur Angst, dass diese Beziehung wieder kaputt gehen würde, so wie beim letzten Mal. Ich wusste, dass ich das nicht denken durfte. Emma meinte, es wäre diesmal etwas ganz anderes. Ja, gut, wir waren zusammen, aber die Situation war die gleiche. Was, wenn er wieder glaubt, dass ich ohne ihn besser dran wäre? Er konnte mir alles versprechen, aber nicht, mich nicht zu verlassen. Ich wusste, dass ich auch daran nicht denken durfte, aber manchmal fragte ich mich schon, einfach so, ob es nicht leichter wäre, würden wir das beenden. Eine Art Schadensbegrenzung, mittels derer ich mir tiefe emotionale Schläge ersparte. Aber es war nun, wie es war.
Als Luke mich fragte, ob ich mit der Situation, wie sie gerade ist, klarkäme, bejahte ich auch, obwohl es eigentlich nicht so okay war, wie ich es gern gehabt hätte. Er würde sich nur Vorwürfe machen, und das wollte ich vermeiden, also lieber die Wahrheit mittels eines Euphemismus vertuschen. Emma sagte zwar, ich solle nicht alles totschweigen, aber ich kann schweigen wie ein Grab, wenn es für die betreffenden Menschen besser ist. Ich fing an, Luke nicht mehr mitzuteilen, was ich für Sorgen hatte. Denn ich war mir sicher, dass Entfernung in unserem Leben immer ein Problem darstellen würde. In drei Jahren wäre ich mit der Schule fertig, und er immer noch am Studieren in Göttingen. Was ich nach dem Abi machen wollte, wusste ich noch nicht so richtig. Mein Traum war schon lange, Psychologie zu studieren. Dieser Traum sollte später noch zerplatzen wie eine Seifenblase an einem Grashalm. Jedenfalls konnte meine Ausbildung, mein Studium oder was auch immer sonst wo sein. Bis ich damit fertig gewesen wäre... Eigentlich hatten wir nie eine Zukunft. Als Emma meine ellenlange Nachricht zu diesem Thema Luke zukommen ließ, meinte er, wir besprächen Zukünftiges noch. Weiterhin schrieb er:
»Du bist mein Ein und Alles. Ich brauche dich.«
Worte wie Peitschenhiebe; brennend auf meiner Haut wie Feuer.
Mitte Mai begann ich mein Praktikum bei einer Versicherung und lernte zum ersten Mal jemanden in natura und außerhalb der Schule kennen. Tobi war sehr nett, sah wirklich gut aus und hörte mir gern zu. Wegen eines Bahnstreiks brachte er mich nachmittags sogar zum Hauptbahnhof, obwohl das gar nicht seine Richtung war, ich allerdings sonst ziemlich aufgeschmissen gewesen wäre. Er meinte die ganze Zeit, ich sähe aus, als würde mir das alles richtig große Angst machen. Als wir im letzten Bus waren, war er sich ziemlich sicher, dass dieser zum Hauptbahnhof fährt und wenn nicht, sollte ich zu ihm kommen und er brächte mich nach Hause. Das war so süß. So eine riesige Aufmerksamkeit hatte mir noch nie jemand geschenkt. Jedenfalls kam ich heil am Bahnhof an und musste dieses Erlebnis sogleich meinen Freunden mitteilen, sendete die Nachricht aber dummerweise statt an Elena an Luke. Oh, hätte ich mir ins Gesicht schlagen können. Mir war so klar, dass er eifersüchtig würde, auch wenn es eigentlich keinen Grund dazu gab.
Am 20.Mai stellte ich fest, dass Luke und ich uns nun schon genau ein Jahr lang kennen und verfasste zur Feier des Tages eine Nachricht, die ich Emma und meiner Freundin Kirsten zukommen ließ:
“Hey, guess what! Heute ist der 20.05.2015. Und weißt Du, was das heißt? Vor genau einem Jahr habe ich Luke angeschrieben. Jetzt sind wir zusammen. Irgendwie kann ich es immer noch nicht so ganz fassen und verstehen schon gar nicht. Ich weiß nicht, was er an mir hat. Aber offensichtlich muss es irgendetwas geben, sonst wären wir heute schließlich nicht das, was wir sind. Es ist trotzdem immer noch alles so... wie ein Traum, aus dem man irgendwann aufwacht. Eigentlich habe ich gar keine Lust, aufzuwachen.
Manchmal denke ich darüber nach, wie es wäre, wenn er nicht wäre. Schon lustig, ich hatte gerade angefangen, ihn zu vergessen und dann schrieb er mir doch. Eigentlich hätte ich sauer sein sollen. Er hatte mich so verletzt. Ich kann das gar nicht in Worte fassen. Erst dieses ewige Hin und Her. Mit jedem Tag, an dem wir nicht redeten, bin ich ein Stück weiter zerbrochen. Vielleicht wollte ich es nicht wahr haben und habe deshalb so lange versucht, alles aufrecht zu erhalten. Aber da war nichts mehr.
Mich interessiert es schon, wann genau er zu dem Entschluss kam, dass ich ohne ihn besser dran wäre. Ich wüsste so gern, was er dachte. Ich glaube, in dem Moment, in dem er das für sich entschieden hat, wusste ich es irgendwo schon. Mit jedem Telefonat, das nicht mehr stattfand, mit jeder ungeschriebenen Nachricht erschien es mir klarer. Aus immer wurde meistens, aus meistens manchmal, aus manchmal selten und aus selten nie mehr. Er hat mir so gefehlt. Und ja, es ging mir nicht gut, auch wenn ich das nicht immer zugeben wollte. Aber es war okay so. Es war wirklich okay. Enttäuschungen gehören zum Leben dazu. Wobei Enttäuschung allein eigentlich nicht das richtige Wort dafür ist. Für meinen Teil war es eine Mischung aus Trauer und Enttäuschung. Trauer über dieses verlorene Stück Leben, über all die ungetanen Dinge, über jede nicht gemachte Erfahrung.
Mich hat es fasziniert, dass ich einen Menschen, den ich noch nie gesehen hatte, derart vermissen konnte. Habe mir tausend Szenarios ausgemalt, tausend Hoffnungen gemacht, nur um am Ende als »entferntere Person« betitelt zu werden. Entfernt. Unwichtig. Belanglos. Das hat gesessen. Das hat wirklich gesessen. Auch wenn er es nicht wollte. Ich kann mich genau an das Telefonat erinnern, in dem ich ihm sagte, wie sehr mich das verletzt hat, er sich entschuldigte und ich wusste, dass es ihm wirklich leid tut. Ich verzeihe, aber ich vergesse nicht. Leider. Ich würde es so gern von meiner Festplatte schmeißen.
Manchmal weine ich schon, wenn ich so über uns nachdenke. Einerseits aus Freude, weil es irgendwie einfach passt. Andererseits aus Angst. Wie Du weißt, habe ich große Angst davor, dass wir uns nichts mehr zu sagen haben. Eben weil es schon mal passiert ist. Ich habe Angst, verlassen zu werden. Es ist ein furchtbares Gefühl, ihn nicht einmal anfassen zu können. Ja, man fühlt sich verlassen. Aber es geht nicht anders. Es ist okay.
Das macht mir auch Angst: Ich vermisse ihn so sehr, ich könnte mich von einer Brücke werfen. Metaphorisch gesehen. Und die Gewissheit, dass es auch nicht besser wird, macht mir auch zu schaffen. Aber darüber will er ja noch mit mir reden... Ich meine, wie schon so oft gesagt, selbst wenn er nicht in der Klinik wäre, hätte er keine Zeit. Aber den Umstand nur an ihn zu heften wäre unfair. An mir liegt es schließlich auch. Es wäre alles so viel einfacher, wenn ich schon achtzehn Jahre alt wäre. Ich hätte keine Eltern, die mir vorschreiben können, mit wem ich wann was tun darf. Und vor allem müsste er nicht zwingend hier her kommen. Ich könnte genauso zu ihm fahren. Das wäre deutlich besser. Momentan habe ich einfach nur ein schlechtes Gewissen, eben weil ich weiß, dass er, wenn er mich sehen möchte, herkommen muss, da mir ja alles andere verwehrt bleibt. Siehst Du das Problem?
»Wer das Ziel will, muss auch den Weg wollen.« Ich weiß zwar nicht, was unser Ziel ist, aber ich weiß, dass es nicht leicht wird. Es sind einfach so viele Umstände, die blöd zusammenspielen. Wie schon gesagt. Vielleicht werden die Umstände mal zu einer Sache, die alles kaputt macht. Oder wir machen es selbst kaputt. Wie auch immer es kommen wird, und ich bin mir sicher, dass es irgendwann kommen wird, wünsche ich mir, dass wir friedlich auseinander gehen, jeder um ein paar wertvolle Erfahrungen reicher. Ich könnte es nicht ertragen, ihn unglücklich zu sehen.
Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie sehr ich mich auf Sommer freue. Wie sehr ich mich auf ihn freue. Ich könnte schreien und singen und tanzen vor Vorfreude. Denn, stell dir vor, dann kann ich ihm wieder in die Augen sehen! Ist das nicht lustig, dass das etwas ganz ganz Besonderes für uns, oder zumindest für mich, ist?
Ich hoffe, dass es wie beim letzten Mal wird und wir uns nicht nah genug sein können. Und ich weiß, dass Du weißt, was ich meine. Es ist so unglaublich, was für ein Verlangen ich nach ihm verspüre. Ehrlich gesagt würde ich ihm am liebsten sofort die Klamotten vom Leib reißen. Jedes Mal, wenn ich daran denke, bekomme ich Gänsehaut. Aber er meinte ja sowieso, ich solle fordernder werden, es ausnutzen, dass wir zusammen sind, und ganz viel ausprobieren. Und dass ich keine Angst davor haben bräuchte.
Ich glaube, ich werde es gar nicht fassen können, dass die verhängnisvollen drei Monate vorbei sind und wir uns endlich, endlich! sehen können. Dass wir uns berühren können, dass wir zusammen in meinem Bett liegen können. Dass ich meinen BH nicht selbst ausziehen muss (und den Rest hoffentlich auch nicht). Dass wir nicht allein aufwachen, dass wir miteinander schlafen können. Dass wir uns nah, ganz nah sein können.
ICH FREUE MICH SO!“
Natürlich bekam Luke das dann auch noch zu lesen und war nach eigener Aussage positiv überrascht. Er meinte weiterhin, ich solle ihm einfach die Klamotten vom Leib reißen, wenn mir danach sei, ja klar.
Gegen Ende Mai hatten wir das erste Mal Telefonsex. Das war zunächst sehr befremdlich, aber da er mir sagte, was ich mir vorstellen soll, wurde es schon bald ganz entspannt und gleichzeitig spannend.
Tobi und ich unterhielten uns während des vierzehntägigen Praktikums ganz oft, über viele verschiedene Themen. Als wir über Judo sprachen und er meinte, an seiner Schule hätten sie die Gewichtsklassen ausgewogen, sagte ich, dass man sich dann schon dick vorkommt. Er antwortete: »Du bist nicht dick«, woraufhin ich ihn ganz entgeistert angesehen habe und er mir zuzwinkerte. Wie sollte ich das denn bitte verstehen? Was wollte er mir damit sagen? Das war so ähnlich wie eine Situation mit einem Freund, Ronny, als wir im Urlaub waren. Meine Mutter behauptete, ich sähe mit den dunkel gefärbten Haaren aus wie Schneewittchen, ich widersprach, und Ronny neben mir so: »Doch, tust du.« Der gleiche entgeisterte Blick folgte und er zwinkerte mir auch zu. Da wusste ich auch schon nicht, was abgeht. Als ich das Emma erzählte, ging sie total ab und machte sich schon Hoffnungen. Lustigerweise erfuhr ich aber später, dass Ronny nicht auf Frauen steht. Was für eine Ironie.
Je öfter Luke und ich über Sex redeten, desto mehr sagte er, dass er dachte, ich sei braver. Nun ja, ich hätte ihn auch nicht als derart experimentierfreudig eingestuft. Als ich mal fragte, was er gemacht hätte, hätte ich damals kein Kondom da gehabt, meinte er, dass wir dann eben keinen Sex gehabt hätten. Ich gelobe mir einen Mann, der so denkt. Das hieß nämlich, er hatte keines mit, und das hieß wiederum, es war nicht sein Ziel. Ich bin schon eine krasse Analytikerin.
Als ich während des Praktikums eine Aufgabe, die im Kartonfalten bestand, erledigte, fing Tobi an, zu lachen, als er dazu kam. Nur, weil das so gut mit meinen Brüsten umzuklappen ging! Er wurde mir wirklich immer sympathischer. Und sollte es auch noch mehr werden...
Eine hübsche Nachricht, die ich von Luke erhielt (natürlich gerade als ich schlafen gehen wollte), war folgende:
»Du und ich, um Neun?«
Fast als würden wir uns einfach nur wie ganz normale Paare abends nochmal treffen. An solchen Momenten machte ich die Beziehung fest. Was blieb mir auch anderes übrig.
Drei Tage vor dem Ende des Praktikums legte Tobi seinen Arm um mich, weil ich ihm leidtat, wie ich da noch eine Stunde auf den Zug warten musste. Das war schön. Aber ich wusste wieder nicht so richtig, wie ich das verstehen sollte. Als wir mal dem DBU - dienstbegleitenden Unterricht - der Azubis beiwohnten, hatten wir so viel Spaß, haben so viel gelacht, das gefiel mir. Wir hatten beide so gar keine Lust. Ich habe dann einfach meinen Kopf auf seiner Schulter abgelegt und geschlafen. Das war wirklich toll.
Am letzten Tag in diesem Monat stellte Luke einige Fragen, von denen ich Gänsehaut bekam.
»Willst du etwas dagegen tun?«
Mir war es zwar peinlich, aber ich habe es eben doch getan. Das war auch die Nacht, in der Luke mir eröffnete, wie »anregend« es sei, mir beim Atmen zuzuhören. Und dass er es selbst nebenbei gemacht hat, leise. Das war ihm so peinlich. Aber es war auch irgendwie niedlich. Also haben wir es nochmal zusammen gemacht und es war noch so viel intensiver. Ist ja auch klar, wenn man sich vorstellt, dass man dem anderen gerade in Echtzeit zuhört. Ich habe herausgefunden, dass es ziemlich erregend war, wenn er währenddessen Dinge wie »Stell dir vor, es ist meine Hand« zu mir sagte. Sehr interessant. Ich konnte kaum noch an etwas anderes denken. Wenn ich mir heute seine Worte ins Gedächtnis rufe, läuft es mir immer noch kalt den Rücken herunter.