»Welche zwei Möglichkeiten?«
Garretts Löffel hing in der Luft, während er den Pfarrer mit der Brille ansah.
»Erstens: Wir tarnen es als Unfall, um die Polizei fernzuhalten und melden alles ordnungsgemäß. Ich kümmere mich um alles und du bittest deinen Vater, vorerst nicht zu kommen und dich abzuholen, bevor die Herbstferien beginnen, weil du nicht aus dem Schulstoff gerissen werden willst oder so. Du bist ein ganz guter Schüler, das ist glaubwürdig.«
Garretts Stirn lag nachdenklich in Falten. »Oder?«
»Wir verheimlichen alles, bis es vorbei ist und melden es dann. Alle denken, deine Mum ist in Brighton. Du müsstest deine Tante nur anrufen und sagen, sie wäre krank geworden, hätte keine Stimme und alles.«
»Es gäbe noch eine dritte Möglichkeit«, murmelte Dionysos und alle blickten ihn gespannt an.
»Wir könnten... es als Verbrechen tarnen, das außerhalb Gatwicks geschehen ist. Sie ist offiziell auf einer langen Zugfahrt mit mehreren Stops. Auf einem davon könnte ihr etwas zugestoßen sein. Wir sind schnelle Läufer, wir könnten sowohl ihr Gepäck in den Zug schmuggeln als auch die Leiche irgendwo auf dem Weg begraben, sodass sie irgendwann gefunden wird...«
Alle dachten einen Moment bestürzt über diese Variante nach und Garrett erschauderte ob Dionysos' immenser krimineller und berechnender Energie.
»Nein... nein, das kann ich nicht. Ich will nicht, dass sie da irgendwo rumliegt und alles. Dann würde meine Tante sie sicher als vermisst melden und ich kann nicht so tun, als hoffte ich, sie lebend wiederzusehen, wenn ich weiß, dass... dass das nicht der Fall ist.«
Dionysos legte dem Jungen den Arm um die Schultern.
»Verzeih. Das war nur ein Gedanke. Ziemlich geschmacklos. Aber so hätte ich es mit jedem anderen Toten gemacht.«
Garrett lehnte sich an den Vampir und wischte sich über die Augen.
»Was willst du also, Garrett? Es liegt bei dir«, fragte Pater Phil wieder mit sanfter Stimme.
»Ich will alles so normal wie möglich. Kein Verstecken, kein Geheimhalten. Ein Mord würde meinen Vater sofort auf der Matte stehen lassen, das geht also nicht. Tut was immer ihr müsst, damit es nach Unfall aussieht und meldet es. Ich will sie nicht unnötig lange irgendwo versteckt halten.«
Garretts Nase war verstopft und seine Stimme zitterte, während er sprach, brach aber nicht. Er war entschlossen, seiner Mutter Frieden beikommen zu lassen.
Phil seufzte. »Es... also, es wird nötig sein, ihr Genick zu brechen... ich hätte dir das nicht sagen müssen, aber ich denke, du solltest alles wissen.«
Garrett wurde weiß im Gesicht, nickte dann aber. Es konnte ihr immerhin niemand mehr wehtun.
Phil erhob sich mit geschäftsmäßigem Gesichtsausdruck und klopfte Jack auf die Schulter.
»Gut. Auf, Jack. Ich brauche jemanden, der mir hilft, das Blut vom Boden zu bekommen. Wir brauchen es. Außerdem weiße Farbe. Das Geschmier an der Wand muss weg.«
»Im Keller steht noch ein Eimer...«, murmelte Garrett mit belegter Stimme. Phil nickte.
»Gut, umso besser. Ich habe mir schon was überlegt. Zum Abend sind wir wieder da. Überlegt euch etwas, warum Garrett nicht in der Schule war.«
»Erzähl bloß keinem, dass er ein Pfarrer ist«, nuschelte der Junge bloß, als Phil und Jack zur Tür raus waren.
»Es gibt Situationen, da ist er einfach ein Vampir auf Mission.«
Dionysos nötigte Garrett dazu, wenigstens seinen Teller leerzuessen und kritzelte derweil auf einem Zettel herum. Anouk verließ das Haus, um die Stadt im Auge zu behalten.
»Was wird Phil tun?«
»Ich schätze, wenn er fertig ist, wird es aussehen, als wäre sie unglücklich gestürzt. Er ist erschreckend einfallsreich, aber oft ziehen die einfachsten Ideen noch am besten.«
»Und ich? Fällt das nicht auf, dass ich die ganze Nacht nicht da war?«
»Nein, ich hab mir was überlegt. Noch ist Sommer. Erinnerst du dich, wie du früher im Wald gezeltet hast?«
Garrett nickte, aber das hatte er dem Vampir nie erzählt. Hatte er ihn tatsächlich bereits so lange im Auge?
»Du sagst einfach, du hättest die Schule geschwänzt, was glaubwürdig ist, da du das öfter machst. Du hast die Nacht im Zelt verbracht, weil du ja dachtest, deine Mutter würde zeitig fahren und es nicht merken. Wie hättest du da merken sollen, dass sie zuhause einen Unfall hat?«
»So ein konstruiertes Alibi klingt, als hätte ich es getan«, murmelte Garrett und nippte an seinem Suppenlöffel.
»Ich weiß. Aber du kannst ja schlecht die Wahrheit sagen, dann hätten sie dich erst Recht im Visier. Uns alle, zwielichtige Gestalten, die wir sind. Vier Fremde und ein sonderbarer Junge aus der Stadt ohne Freunde. Kein gutes Bild, glaub mir.«
Ein verhaltenes Kichern rutschte aus dem Jungen raus.
»Du und fremd hier? Du hast die Gründung der Stadt miterlebt.«
»Schon, das weiß aber keiner außer dir und der letzte Mensch, der mich noch als Bewohner dieser Stadt kannte, ist vor 40 Jahren gestorben. Ich bin für die Menschen hier so fremd wie die anderen.«
Einen Moment schwiegen sie. Garrett, dem der Eintopf zu schmecken begann, nahm sich schließlich doch noch einen Teller und Dionysos kramte in einer Truhe unter der Garderobe rum.
»Was machst du da?«
»Ich such' das Zelt, aber...« Er grummelte und schlug den Deckel zu.
»Du schaust gut aus mit roten Wangen«, nuschelte Garrett verlegen und Dionysos lächelte.
»Du auch. Besser als mit Tränen.« Er fuhr dem Jungen sanft mit den Fingern durch die duftigen, noch feuchten Haare und verschwand im Wohnzimmer. Garrett, dem auffiel, dass er diesen Raum nicht kannte, folgte ihm neugierig.
Der Raum war schummrig, durch die dichten Gardinen fiel nicht viel Licht und auch die bordeauxroten Vorhänge schluckten etwas. Überrascht stellte Garrett fest, dass die hübsche, aber altmodische, beige-rosa-gestreifte Tapete echte Seidentapete war. Der Boden war aus glänzenden dunklen Holzbohlen, auf dem beige-rote Teppiche lagen. Ein Kamin grenzte an die Wand zum Badezimmer und heizte dieses im Winter bestimmt mit. Davor angeordnet stand eine altmodische, viktorianisch aussehende Sitzkombination aus einem Sofa mit Holzbeschlägen, einer Ottomane und einem urig bequem wirkenden Ohrensessel. Die Polster wirkten zwar etwas abgewetzt, aber bequem und hatten eine satte, weinrote Farbe. Ein Couchtisch sowie ein storchenbeiniger Beistelltisch am Sessel boten Platz, um Dinge abzustellen. In einer Ecke stand ein einfacher, schwarzer Fernseher für faule Mußestunden.
Die Wand hinter dem Sofa, gegenüber der Tür, bestand komplett aus einem rappelvollen Bücherregal mit Büchern, die wie 100 Jahre und älter aussahen. Neben der Tür stand außerdem eine massive Kommode mit Spiegel. In dieser steckte Dionysos nun fast zur Hälfte drin und kramte.
»Das ist ein schöner Raum. Noch ein Pantoffel da an die Wand und ein Luftgewehr in die Ecke und wir sind in der Baker Street 221 b«, lachte Garrett leise.
»Ich bewahre meinen Pfeifentabak in einem Kästchen im Bücherregal auf, aber ein Gewehr habe ich gerade leider nicht da.«
Dionysos' Stimme klang dumpf, doch dann triumphierte er, als er die Tasche mit dem Zelt hervorzog.
»Ordnung ist das halbe Leben.«
»Du hast es schön hier. Es täte mir leid, wenn du das alles verlieren würdest.«
Dionysos schloss seine Arme um Garrett.
»Glaub mir, ich würde das alles aufgeben, um die Tragödie von gestern ungeschehen zu machen. Wenn das alles deine Mutter zurückbrächte.«
Garrett klammerte sich an das duftende Hemd des Vampirs und presste seine Nase an dessen Hals.
»Na, wie wär's? Gehen wir eine Runde Campen?«, gab sich der Vampir betont gutgelaunt und tapste Garrett einen Kuss auf die Nase. Der Junge nickte und zog sich im Schlafzimmer Strümpfe, Sweatshirt und Schuhe an.
Dionysos wollte Garrett etwas ablenken und baute deswegen auf einer kleinen Lichtung, auf der Garrett nach der Scheidung seiner Eltern schon einmal strandete, das Zelt auf, warf die Decken, die er dabei hatte, hinein und machte es sich darin gemütlich.
Der Junge, nach dem kleinen Gewaltmarsch und der dumpfen Hitze unter den Bäumen erschöpft, hockte auf einem Baumstamm und nuckelte an der Wasserflasche.
»Hey, ein Zelt ist kein Haus und bedarf keiner Einladung. Komm schon rein.« Dionysos' dunkler Haarschopf war an der Öffnung zu sehen. Garrett spürte, wie er nervös wurde.
Sie waren mutterseelenallein, eineinhalb Meilen von der Hütte weg, in einem Zelt. Es war warm, das Blätterrauschen war romantisch...
Was in der Nacht zuvor geschah, war eine Kurzschlussreaktion, weil er sich so einsam und kaputt gefühlt hatte. Es war wunderschön gewesen, den Vampir so nahe bei sich zu haben, ihn so warm, so menschlich, so stark und schwach zugleich zu spüren, doch nun war er bei völlig klarem Verstand. Eine völlig neue Ausgangslage!
Er strafte die Schultern. Wie oft musste er sich noch ermahnen, kein Feigling zu sein?
Er hatte Allister gestern Nacht, mit Dionysos als Zeugen, Rache geschworen. Blutige Rache! Die bekam er nicht, wenn er feige war. Und vor dem Alleinsein mit Dionysos, der so unerwartet sanft sein konnte, musste er sich doch nun wirklich nicht fürchten.
»Puh, es ist warm hier drin«, ächzte er, als er in das Zelt kroch und sich auf die Decke setzte. Dionysos lächelte.
»Leider. Nachts wäre es perfekt.«
Garrett zog das Sweatshirt über den Kopf und war froh, nach dem Duschen Deo benutzt zu haben, das ihn noch nicht im Stich gelassen hatte. Dionysos packte sein Handgelenk und zog ihn in eine liegende Position, an seine Schulter gelehnt. Seine Haut durch den Stoff war überraschend und erfrischend kühl.
»So nicht mehr so heiß?«
»Diese Temperaturregelung hätte ich auch gern.«
»Werd' ein Vampir.«
»Hmmm, klingt verlockend. Jung, gesund für immer. Leben bis in alle Ewigkeit. Toll...«
Dionysos schnaubte und Garrett hob den Kopf.
»Was?«
»Ewigkeit ist lediglich ein anderes Wort, um Verfall zu beschreiben, Garrett. Denn nichts ist für die Ewigkeit gebaut. Selbst die Dinge, die man als ewig ansieht – wie die Pyramiden – sind von Verfall zerfressen und verschwinden über kurz oder lang. Selbst die Ewigkeit hat nur eine begrenzte Menge an Zeit. Aber die Menschen mit ihrer kurzen Lebenszeit romantisieren den Begriff gern. Ich hingegen hätte schon oft dem Tod freudig die Hand gereicht.«
»Du wolltest sterben?«
»Schon oft, ja. Das erste Mal, als Lachlan starb. Das zweite Mal, als mein Lehrmeister begann, mich zu missbrauchen. Und während meines Lebens als Vampir war ich es auch oft leid. So ein Leben ist einsam.«
»Wenn man keine Freunde hat?«
»Ja.«
»Aber du hast doch Freunde.«
»Ah ja?«
»Ja. Jack ist extra aus den USA gekommen. Und Phil und Anouk kamen quer über die Insel. Das macht man nicht, weil man jemandem einen Gefallen schuldet. Ich glaube, Phil hat großen Respekt vor dir. Anouk findet dich cool und fangirlt dich total und Jack... ehrlich gesagt, ich will nicht wissen, was da war, aber ihr wirkt sehr vertraut.«
»Wir haben eine gemeinsame Vergangenheit. Nichts weiter«, schmunzelte der Vampir und Garrett rang eine Sekunde mit erotischem Kopfkino und aufsteigender Eifersucht auf den schmucken Amerikaner. Dann schüttelte er leicht den Kopf.
»Äh ja... und dann bin da... noch ich. Ich zähl' nich' viel, aber...«
»Du zählst alles, Garrett. Nur für dich tue ich das doch alles. Nur deinetwegen bin ich noch hier. In jedem anderen Fall hätte ich mein Refugium vielleicht woanders aufgebaut und nie zurückgeblickt. Aber ich bin hier, weil du hier bist. Du bist alles.«
Garrett bekam glühendheiße Wangen und Tränen schossen ihm in die Augen. Rasch verbarg er sein Gesicht an Dionysos' Schulter.
Jedes Wort traf wie ein Pfeil in sein Herz, jedes Wort klang wie eine Liebeserklärung. Aber das war es nicht, oder? Dionysos sagte selbst, Liebe sei ihm fremd und er liebte, wenn überhaupt jemals, nur kurz. Welchen Eindruck konnte dann er, Garrett, hinterlassen haben...?
»Ich stelle deine Sicherheit wieder her. Und wenn ich dabei meinen Besitz oder mein Leben verliere, bitte!«
»Sag sowas nicht, ok? Ich will nicht noch mehr Leute verlieren. Seit... seit 5 Jahren habe ich das erste Mal wieder das Gefühl, Freunde zu haben, die mir beistehen. Ich will nicht einen von euch verlieren. Am wenigsten dich.«
Dionysos lachte leise.
»Träumerchen. Ich bin doch immer da.«
»Dann sag nicht, dass dir der Tod nichts ausmacht. Ich will nicht, dass du für mich stirbst, du Schafskopf. Lieber verbringe ich noch lebend Zeit mit dir.«
»Sehe ich genauso«, lächelte der Vampir und zog das aufgebrachte Gesicht des Jungen an sich.
»Wo wart ihr denn?«, fragte Anouk, als Garrett – erneut erschöpft von Fußmarsch – mit Dionysos in die Hütte kam.
»Garrett hat die Schule geschwänzt. Wir waren campen. Ein bisschen Abwechslung und Ablenkung, du verstehst?«, erklärte der Vampir, der nicht im Mindesten angestrengt aussah. »Wie weit sind Jack und Phil?«
Er blickte aus dem Küchenfenster in die Abendröte über dem Tal.
»Bei Einbruch der Nacht wollten sie das Haus und alles fertig haben. Schaffst du es, nach Hause zu gehen, Garrett? Wir sind draußen, Phil ist als Beistand bei dir. Er will sich als Bekannter ausgeben. Er wird dir alles abnehmen.«
Garrett nickte. Das Hochgefühl, ausgelöst durch die Stunden im Zelt, war schon wieder verflogen. Immer kurzzeitig vergaß er, was geschehen war und immer, wenn die Erinnerung wiederkam, wollte er hemmungslos weinen.
»M-Muss ich sie denn sehen? Ich glaube, ich kann das nicht nochmal...«
»Nicht, wenn du nicht willst. Phil wird dir schon sagen, was du den Polizisten berichten sollst.«
Erschöpft und niedergeschlagen ließ sich der Junge auf einen Stuhl fallen. Er wünschte, er und Dionysos hätten im Wald bleiben können, fern von allem, nur sie beide und das Zelt.
Der Vampir schien seine Gedanken zu erraten und drückte sanft seine Schultern. Eine Weile herrschte Stille, nur das Grillengezirpe des Abends war zu hören.
Wie friedlich es doch war, dachte Garrett müde, als ein schriller Pfiff aus dem Tal zu ihnen auf den Hügel durchdrang.
»Das ist Jack. Lass uns gehen, Garrett. Phil ist bei dir und wir anderen sind im Wald. Lass Phil reden. Wenn deine Mum... versorgt ist, schmieden wir den Plan, wie wir Allister an den Kirchturm bekommen, ok?«
Dionysos ging vor Garrett in die Knie wie schon einmal, und streichelte dessen verkrampfte Hände. Dieser nickte und presste die Lippen hart zusammen. Er würde froh sein, wenn das Lügen ein Ende hatte. Wenn Allister ein Ende hatte!
Dann wäre Schluss mit dem Mauscheleien gegenüber der Polizei, seiner Tante, die ihn Brighton auf seine Mum wartete und seinem Dad. Was ihm noch bevorstand.
Er stand auf und straffte seinen Rücken.
»Gehen wir!«