Zwei volle Tage lang tobte der Sturm über das vereiste Land, rüttelte an den Fensterläden und ließ die Holzschiefer auf dem Dach klappern. Dann, am Morgen des dritten Tages erwachten die Bewohner des Moorseehofs bei vollkommener Stille. Kein Lüftchen strich mehr jammernd um das Bauernhaus und selbst die Tiere im angrenzenden Stall schienen nach dem Lärm und der instinktiven Angst der letzten Stunden noch zu schlafen.
Thorstein war der Erste, der erwachte und dem die Ruhe wie ein unverhoffter Genuss auffiel. Sie hatten es überstanden! Wie in den vergangenen Jahren hatte das alte Bauernhaus den Dienern Njörds getrotzt.
Neben dem Steuermann räkelte sich seine Gefährtin in den Fellen. Nur einmal war die kleine Solvig heute Nacht wach geworden und hatte nach ihrer Milch verlangt. Gleich nachdem sie von Rúna trockengelegt worden war, schlief sie auch schon wieder. Das tat sie noch, als der Mann seine beiden Bettgenossinnen nun eingehend betrachtete. Angeschmiegt an den warmen Oberkörper ihrer Ziehmutter ruhte die Kleine sicher und warm, nichts ahnend von der winterlichen Bedrohung, der sie gerade erst entkommen waren.
Lächelnd erinnerte er sich, wie Rúna ihn im Herbst gefragt hatte, welchen Namen sie der Kleinen lehren solle. Wollte er als 'valdr' oder 'herra' bezeichnet werden, wenn Solvig ihn ansprach? Lange hatte er damals gezögert, dabei war es am Ende so einfach gewesen. Das kleine Mädchen war auch sein Kind, wenngleich er es nicht selbst gezeugt und Rúna es nicht geboren hatte. Doch so, wie Odin jeden Tag Skinfaxi mit dem Sonnenwagen über den Horizont schickte, waren auch sie beide, Rúna und er, jeden Tag gefordert, sich um die Kleine zu kümmern. So erfreuten sie sich auch an deren Fortschritten, sahen ihre kleinen Wehwehchen mit Sorge und genossen jedes Lachen, dass Solvig ihnen schenkte. Ein faðir war er geworden. Damals, als Rúna ihn darauf ansprach, hatte er es nur noch nicht gewusst. Später, als er ihr diese Antwort mit gutem Gewissen geben konnte, hatte ihr strahlendes Lächeln mehr verraten als alle Worte, die sie hätte finden können.
Leise erhob sich Thorstein von seinem Lager, um die beiden Schläferinnen nicht vor der Zeit zu wecken. Ebenso vorsichtig umrundete er die anderen Ruhenden, die es sich auf einer dicken Strohschicht vor dem inzwischen fast erloschenen Feuer bequem gemacht hatten. Sie alle hatten diesen Schlaf redlich verdient!
Der Steuermann öffnete langsam die Tür und sah sich einem blendenden Weiß gegenüber, das die horizontnahe Sonne mit langen, glitzernden Strahlen überzog. Nach dem Sturm musste in der Nacht noch einmal frischer Schnee gefallen sein. Kein Fußabdruck und kein Grau unterbrachen die saubere Schicht auf dem Hof.
Lange stand der Krieger vor dem Haus und starrte hinaus in das eisige Weiß. Friedlich sah das Land unter dieser frisch gewebten Decke aus, still und unbeweglich unter der Last des Schnees. Das Land! Wiedereinmal sann Thorstein über jene Dinge nach, die ihn umgaben und die seinen Lebensinhalt ausmachten. Der Fjord, die Berge, das weite, meistenteils unberührte Land, die unberechenbare See, der Duft nach Tang und Salz - all das waren Dinge, für die sich sein Herz erwärmen konnte. Und die Menschen, allen voran seine schöne, liebenswerte Gefährtin mit der kleinen Solvig, aber auch seine Freunde, Teitr, Rollo, der fleißige Oddi - seine Leute. Dass diese nun bedroht wurden, weil eine Gruppe wildgewordener Fremder und ein hinterhältiger benachbarter Möchtegern-Jarl ein Auge auf Straumfjorður geworfen hatten, trieb ihm trotz der friedlichen Landschaft vor seinen Augen die Zornesröte ins Gesicht.
Thorstein ballte seine Fäuste. Sie würden Arngrim aufhalten, koste es, was es wolle. Nach dem, was Frode ihm gestern berichtet hatte, war er sich sicher, dass Rollo, er und die zurückbleibenden Männer des Jarl es mit dieser Bande von scheinbaren Rittern und Strauchdieben aufnehmen konnten. Auch Arngrim war zur Leidang verpflichtet worden und es konnten kaum mehr als zwei Dutzend Männer in Moseby zurückbleiben. Dazu die drei fränkischen Ritter, deren Knappen und ein paar weitere Dahergelaufene, die der Gegner vielleicht noch würde anwerben können. Wenig genug, dass er, Thorstein, ihnen mit seinen Männern die Stirn bieten konnte - nun, da er mehr über die Gefahr wusste.
Ein anderes Problem drängte sich in seine Gedanken. Die Neuen mochten mit den acht waffenfähigen Männern einen guten Gewinn für den Moorseehof darstellen, selbst wenn sie irgendwann einmal weiterziehen würden. Doch bis zum Frühjahr waren es noch gute zwei Monde und als Bauer wusste Thorstein, dass seine Vorräte nur mit großer Einschränkung all diese neu hinzugekommenen Mäuler würden stopfen können.
Nachdenklich stapfte der Mann nun doch bis zum Brunnen und ließ den Eimer hinab. Der eiserne Boden des Gefäßes durchschlug mit einem Knacken die dünne Eisschicht tief unten im Schacht. Thorstein lauschte. Sie mussten besser darauf achten, dass das offene Wasser nicht zufror. Keiner wollte gern bei dieser Kälte in den Brunnen hinabsteigen, um das Eis aufzuhacken, wenn es zu dick geworden wäre.
Der Steuermann ließ sich seine Probleme vor den Fremden nicht anmerken. Als die Menschen und Tiere des Gehöftes nach und nach erwachten, gab er sich zufrieden und sorglos. Erst nach dem Morgenmahl, als jeder irgendeiner Aufgabe nachging, fand er sich mit Rúna und Teitr zusammen, um über die Neuen zu sprechen und über die Vorratsprobleme, die die zusätzlichen Esser trotz aller Unterstützung, die sich versprachen, mit sich brachten.
»Wir werden zusätzliches Getreide und auch Fleisch kaufen müssen«, vermutete Thorstein, nachdem er seine Gedanken ausgesprochen hatte. »Das wird uns einige Dirhem(2) kosten.«
Teitr runzelte die Stirn. »Du willst diese Sklaven doch nicht wirklich bis zur nächsten Ernte durchfüttern«, widersprach er seinem Freund. »Das wird dich ein Vermögen kosten! Verkaufe doch die Weiber und das Mädchen, dann hast du genug Einnahmen, um den Rest zu ernähren.«
Der Steuermann sah, wie Rúna sofort Einspruch erheben wollte. Bisher hatte er keine Sklaven auf dem Hof gehabt und der Gedanke daran, Menschen zu verkaufen wie Vieh, war seiner Gefährtin verständlicherweise unrecht. Doch auch er hatte gute Gründe, einen solchen Handel nicht einzugehen.
»Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass diese Männer für uns zu den Waffen greifen werden, wenn wir vorher ihre Frauen und Kinder verschachern?«, fragte er nach. »Nein, nein! Auch für die Frauen wird es genug Arbeit geben, wenn erst der Schnee getaut ist. Ich werde ihnen allen Freibriefe anbieten - Freibriefe gegen Schwertarme. Das bringt uns allen Vorteile und stärkt uns gegen Arngrim.«
Er sah Teitr so ernst und entschlossen an, dass der Alte auf jeden weiteren Widerspruch verzichtete. »Ein solcher Handel muss mir ein wenig Silber schon wert sein.«
Sie beschlossen, den Markt von Straumfjorður zu besuschen, sobald die Wege wieder befahrbar waren. Bis zum Frühjahr zu warten, erschien keinem der drei klug, würden doch dann die Preise für Getreide und Schlachttiere noch viel höher sein als jetzt.
Mit diesem Plan schlossen sie ihre Unterredung ab, zufrieden, einen Weg gefunden zu haben, Thorsteins Mannen zu verstärken. Schon am kommenden Tag wollte dieser einen Teil seines Schatzes heben, den er unter dem gestampften Boden des Stalles vergraben hatte. Wozu hatte er das Silber gespart, wenn er es nicht in Notlagen wie dieser einsetzte? Rúna bewunderte ihn für diese Großzügigkeit und auch teitr sah die Notwendigkeit, sich zuverlässige Kämpfer zu sichern, schließlich ein.
Doch nur wenig später es kam ganz anders, als sie es geplant hatten. Am Abend ritt ein Besuch auf den Hof, mit dem keiner von ihnen gerechnet hatte. Ragnar hatte seinen besten Mann ausgeschickt, um nach den Menschen auf den Einödhöfen zu sehen. Auch Straumfjorður hatte der Sturm arg zugesetzt und der Jarl machte sich Sorgen um seine Lehensmänner.
Sein Bruder bekam den Auftrag, nachzusehen, ob alle wohlauf waren und ob Hilfe bei der Reparatur möglicher Schäden gebraucht wurde. So kam es, dass Rollo mit zwei Knechten auf dem Moorseehof eintraf, wo er - Odin sei Dank - alle gesund und munter vorfand. Allerdings war er äußerst erstaunt, als er an Thorsteins Tafel nicht nur die bekannten Gesichter antraf, sondern gleich ein Dutzend Fremde ihm entgegensahen.
(1) "Menn sé ek!" - Nordisch: "Ich sehe Männer!"
(2) Dirhem: ein Zahlungsmittel aus dem arabischen Raum. Man täusche sich nicht! Hier liegt kein Irrtum von mir vor. Aus mehreren Forschungsquellen geht hervor, dass die Wikinger durch den Seehandel Schätze von Silberdirhem angelegt hatten. Die Münze galt auch bei ihnen als materieller Wert und damit sicher auch als Zahlungsmittel.