Sie schritten zügig aus und kamen dem Moorseehof schnell näher. Thorsteins Männer hatten die drei Gefangenen zwischen sich genommen und führten die kleine Familie zwischen blank gezogenen Schwertern sicher in Richtung Thorsteins Haus. An der Einfriedung des Hofes verharrten sie einen Moment lang.
„Wir könnten sie erst einmal im Stall einsperren“, schlug einer der Knechte an Thorstein gewandt vor. „Bis morgen früh bewachen wir sie – dann hast du Zeit, sie nach dem Frühstück zu befragen.“
Ein Schatten löste sich aus dem Dunkel der Einfriedungsmauer und kam näher – Oddi. Der Steuermann war zufrieden. Seine Männer waren wachsam und der Situation bisher vollkommen gewachsen. Dennoch würde Thorstein sich nicht so viel Zeit lassen, wie sie offenbar dachten.
„Wir werden sie jetzt befragen, sofort!“, legte er entschieden fest. „Es gibt keinen Grund, länger zu warten. Bringt die drei ins Haus! Dann reden wir dort …“
Thorstein blieb einen Moment lang bei Oddi stehen. „Bist du der einzige hier draußen?“
Der Knecht verzog das Gesicht zu einem belustigten Lächeln, das dem Steuermann trotz des geringen Lichtes nicht entging. „Aber nein! Drüben am Dorfweg steht Alfrik. Und Teitr hat ein Auge auf den Hof, auch wenn er bei den Frauen im Haus ist. Er sitzt direkt am Fenster und passt auf, dass sich niemand ungefragt der Tür nähert.“
Der Steuermann nickte zufrieden. „Damit hat kaum jemand eine Möglichkeit, ungesehen hinter die Mauer zu gelangen.“
Thorstein war zufrieden mit seinen Leuten. Dennoch war er sich der inzwischen gegenwärtigen Gefahr durch Arngrims Männer deutlicher bewusst als zuvor. „Vielleicht sollten wir trotzdem die Einfriedung verstärken?“, schlug er Oddi vor. Ein wenig mehr Stämme könnten nicht schaden.“
Der Knecht nickte zustimmend. „…oder Steine.“
Thorstein hob überrascht den Kopf bei diesem Gedanken. Doch Oddi hatte recht. Steine waren wesentlich besser als Holz, schon wegen ihrer Festigkeit, aber auch wegen ihrer besseren Sicherheit vor Feuer.
Während der Steuermann noch über die Befestigungsmöglichkeiten der Einfriedung nachsann, erreichten sie das Haupthaus. Teitr stand bereits in der Tür und sah ihnen entgegen. Die Wärme hüllte ihn in eine Wolke aus Dunst und das matte Licht der Kerzen und des Feuers schimmerte hinaus auf den vereisten Boden des Hofs. Weit hielt der alte Vorarbeiter die Tür auf, um seinen Freund und desen Begleiter einzulassen.
Als Thorstein Runa erblickte, schlug sein Herz ein wenig schneller. Was für ein Glück, dass die Gefangenen nur einfache Menschen waren und keine gefährlichen Krieger. Es hätte sonst kaum mehr als seine Hand und sein Schwert zwischen ihr und der Gefahr gestanden.
Nun aber sah er seine schöne Gefährtin, wie sie mutig mit ihrem Schwert in der Hand den Fremden entgegentrat. Und auch den Knechten entging der Kampfgeist der jungen Frau nicht. Sie lächelten zufrieden. Teitr schloss die Tür und beobachtete aufmerksam, wie die Männer ihre Gefangenen weiter in den Raum hineinschoben.
„Hinsetzen!“, herrschte Thorstein sie schließlich an und wies auf eine der niedrigen Bänke.
Seinem Befehl wurde sofort Folge geleistet. Ängstlich darauf bedacht, keinen Fehler zu machen, platzierten sich die drei zerlumpten Gestalten auf der äußersten Kante des Möbels.
Der Steuermann zog sich einen Schemel heran und ließ sich dicht vor der Frau nieder. Dabei spielte er auffällig mit dem Griff seines Schwertes, ließ es ein wenig hin und her pendeln, drehte den Korb um seine eigene Achse. Scheinbar entging ihm dabei, wie die gefährliche Waffe von seinen Gefangenen gemustert wurde.
„Ihr kommt also aus Moseby“, nahm er das Gespräch vom Seeufer wieder auf und betrachtete dabei die feine Ziselierung, die im oberen Drittel die Schneide des Schwertes zierte. „Moseby liegt gute zwei Tagesreisen südlich von hier“, fuhr er scheinbar entspannt und leise fort. „Man muss schon gut zu Fuß sein, wenn man den Weg bis hierher mitten im Winter zurücklegt. …gut zu Fuß, denke ich“, brummte er etwas lauter. „Oder aber man hat etwas Schwerwiegendes zu verbergen und will schnell viel Weg zwischen sich und seinen Herkunftsort bringen.“
Die Schwertspitze glitt spielerisch nach oben und zeigte nun auf den Hals des Jungen. „Warum also habt ihr mitten im Winter eure Siedlung verlassen und was wollt ihr hier?“ Die Stimme Thorsteins war immer lauter geworden und gleichzeitig war der junge Mann vor seiner Waffe immer weiter nach hinten ausgewichen.
Dennoch wechselten die so Befragten zunächst nur forschende Blicke miteinander. Saß die Angst so tief, dass sie trotz der Bedrohung durch das Schwert des Kriegers schweigen wollten?
Es war Teitr, der sich nun zu Thorstein gesellte und dabei eines von Runas Brotmessern an der Klinge zwischen seinen Fingern hin und her wandern ließ.
„Arngrim wird euch wohl kaum auf eine Mission geschickt haben, so zerlumpt, wie ihr ausseht“, mutmaßte er. „Weggelaufen seid ihr!“, warf er den dreien vor. „Mitten hinaus in die Kälte und den eisigen Tod – ohne Sinn und Verstand! Ein Glück für euch, dass Thorstein euch gefunden hat …“
Doch es war nicht so sicher, ob diese Menschen das ebenso sahen. Unsicher tauschten sie sich durch beredte Blicke wortlos aus. Dann senkte die Frau den Kopf. „Was bringt es uns, zu schweigen?“, gab sie halblaut zu bedenken. „Wir können eh nur verlieren. Sagst du ihm nicht, was er wissen will, liefert er uns vielleicht noch an Arngrim aus.“
Der Mann zögerte noch, doch die Waffen der Sieger waren machtvoll genug, um letztendlich seine Zweifel auszuräumen.
Überrascht sahen die wartenden Morrseehofbewohner, wie der Gefangene sich straffte und dann seiner Frau und dem Sohn zunickte.
„Also gut!“, ließ er verlauten. „Wir werden euch alles erzählen, was wir über Arngrims Pläne wissen. Doch vorher wollen wir eine Sicherheit, dass ihr uns nicht an unsere ehemaligen Herren nach Moseby ausliefert. Wenn ihr alles erfahren habt, was wir berichten können, dann wollen wir unbehelligt nach Westen weiterziehen.“
Thorstein knurrte. „Du bist gar nicht in der Position, hier irgendwelche Forderungen zu stellen!“ Die Schwertspitze rückte ein wenig näher. „Wenn wir euch Gnade erweisen, dann, weil wir es so entscheiden, nicht, weil du es forderst. Hast du das verstanden?“
Doch der Gefangene schien inzwischen unerwartet viel Mut gefasst zu haben. Er drückte den Rücken ein wenig kräftiger durch und richtete sich auf. „Wir wissen wahrscheinlich viel mehr, als du auch nur ahnst“, entgegnete er. „Oder hast du auch nur einen Hinweis bisher bekommen, dass in Moseby inzwischen die Franken sind?“
Runa sah, wie sich Thorstein ruckartig versteifte. Zu überraschend war die Aussage des Mannes, zu unglaubhaft die Idee, dass sich nur zwei Tagesreisen von ihnen der Feind befand.
Doch es war nicht Thorstein, der dem Mann antwortete. Teitr lachte hell auf, nachdem er sich ein wenig bedacht hatte. „Die Franken, sagst du?“, witzelte er lautstark. „Warum nicht gleich die Männer der Rus?“ Teitr rückte gefährlich nahe zu dem Sprecher auf. „Was glaubst du, wen du hier vor dir hast? Meinst du, wir wären eine Horde von Hornochsen, dass du uns diesen Bockmist verkaufen willst?“
Aus dem scheinbar heiteren Alten war ein zorniger Krieger geworden. Doch es war nicht der gefangene Mann, der ihm antwortete, sondern der Junge.
„Lass ihn!“, schrie dieser erschrocken auf. „Er lügt nicht! Wir alle haben sie gesehen, Franken vom Festland – drei Krieger mit Eisenschilden und langen Schwertern. Sie haben meine Schwester auf dem Gewissen und wollten nun auch Mutter … Lass ihn in Ruhe! Er sagt die Wahrheit!“
So abrupt, wie er seine Rede begonnen hatte, endete der junge Mann auch wieder. Doch die Mutter, die offenbar die besonnenste der drei war, sprach an seiner Stelle weiter.