„Es ist wirklich so, wie wir es euch sagen“, bekräftigte sie. Arngrim hat diese Männer von seinem letzten Raubzug gegen das Umland der Hammaburg(1) mitgebracht. Er sagt, sie seien Krieger des fränkischen Königs und hätten geheime Kräfte.“ Die Frau fluchte halblaut. „Trinkfest und brutal sind sie jedenfalls. Eingenistet haben sie sich in Moseby wie eine Bande Ratten in einem Vorratsschuppen. Fordern nur das beste Fleisch, den stärksten Met, Bier, die schönsten und jüngsten Frauen …“
Sie schluckte und wischte sich ungehalten über das Gesicht, um zu verbergen, dass eine Träne ihre Wange hinunterrann. „Unsere Tochter haben sie auch gefordert …“ Das Gesicht der Frau wurde noch blasser, als sie über dieses für sie so schlimme Ereignis berichten musste.
„Wir sind nun mal keine freien Menschen …“, murmelte sie leise. „Was hätten wir denn dagegen tun sollen?“
Betroffenheit machte sich im Raum breit. Jeder dachte sich bereits, was nun weiter geschildert werden würde. Längst hatte Thorstein seine Schwertspitze sinken lassen und auch Teitrs Messer war auf den Tisch zurückgelegt worden. Stille breitete sich aus, bis der Mann das Wort ergriff.
„Nach drei Tagen kam sie zu uns zurück … mit blauen Flecken am ganzen Körper und einem zerschlagenen Gesicht. Sie hatte sich gegen die Männer zur Wehr gesetzt. Doch gegen die Scham konnte sie sich nicht wehren.“ Auch der Vater musste mehrmals schwer schlucken, bevor er zu Ende erzählen konnte.
„Wir fanden sie am nächsten Morgen … Sie hatte sich im Schuppen erhängt.“
Mutter und Sohn weinten nun ganz offen und der Erzähler zeigte ein verschlossenes, trauerndes Gesicht.
„Ich glaube nicht, dass diese Männer wirklich Frankenkrieger sind“, fuhr er fort, nachdem er sich ein wenig gefasst hatte. „Keiner der Adligen vom Festland würde sich so weit nach Norden wagen und gemeinsame Sache mit uns machen. Keiner von denen, die mit dem Frankenkönig kämpfen, würde gemeinsame Sache mit dem Feind machen. Sie kämpfen mutig und haben Ehre. Und sie sind Christen …“ Er knurrte verächtlich. „Doch hier oben im Norden gilt ihr Gott nichts. Vor Odin aber und Thor fürchten sich diese Landratten wie vor einem unerwarteten Wintergewitter, das vom Meer heraufzieht.“
Die Männer um Thorstein knurrten bei diesen Worten zustimmend und dieser musterte den Sprecher mit einem versöhnlichen Blick.
„Auch ich habe noch nie gehört, dass sich ein Frankenkrieger mit Horik oder einem der Gefolgsleute unseres Königs verbündet hätte. Es gibt zwar sicher bei jedem Volk Abtrünnige, doch die Christenkrieger halten zu ihrem König.“ Der Steuermann dachte einen Moment lang nach.
„Wer also, meinst du, könnten diese Männer sein, die in euer Dorf gekommen sind? Und was könnten sie planen?“
Der Gefragte runzelte die Stirn. „Sie sind Franken, das ist unbestreitbar. Man versteht sie kaum(2) ! Das Wenige, das sie von unserem Nordisch gelernt haben, reicht gerade aus, dass sie ein Warmbier fordern können. Einer unserer Sklaven spricht ihre Sprache und wurde dem Ältesten als Übersetzer zugeteilt. Er ist ebenfalls ein Franke.“ Der Mann knurrte verächtlich. „Und sie nehmen es hin, dass ihresgleichen ihnen bettelnd zu Füßen sitzt …“
Seine Frau stimmte ihm nickend zu. „Habgieriges Pack ist das!“, ließ sie die Zuhörer wissen. „Sie haben keine ausgetüftelten Pläne. Sie wollen zusammenraffen, was sie bekommen können.“
Der Sohn stimmte jetzt ebenfalls ein. „Deshalb haben sie Arngrim auch dazu überredet, die umliegenden Siedlungen zu plündern, während deren Krieger bei Horik die Leidang ableisten müssen.“
Thorstein zog eine Augenbraue nach oben. „Das ist interessant!“, gab er zu. „Doch woher wisst ihr …?“
Er sprach den Satz nicht ganz aus, doch der Mann verstand ihn dennoch. Er seufzte. „Ich habe nicht immer in Moseby gelebt“, gab er zu. Als junger Mann diente ich einem Kaufmann in Haithabu. Der trieb mit vielerlei Seefahrern Handel und sprach sowohl den Dialekt der Hammaburger als auch die Sprache der Franken. Auch wenn ich heute kaum noch etwas davon über die Lippen bringe, weil ich viele der Worte nicht mehr gut erinnern kann, verstehe ich doch noch recht ordentlich, worüber gesprochen wird. Und da die drei Südländler nicht annahmen, dass man sie belauschen könnte, waren sie sehr freizügig in dem, was sie besprachen.“
Wieder schwieg der Mann und Thorstein bedeutete ihm weiterzusprechen. Doch der Gefangene schüttelte den Kopf.
„Du siehst nun, dass mein Wissen dir nützlich sein könnte“, sprach er den Steuermann direkt an. „Doch es ist für mich ebenso gefährlich, es dir zu verraten.“
Listig war der Mann, dachte Thorstein, der einen solchen Einwand schon erwartet hatte. Doch er ließ den anderen erst einmal reden. Sollte der Mann doch ein Angebot machen. Wenn er mehr forderte, als Thorstein zu geben bereit war, konnte man immer noch feilschen.
„Wenn ich dir also erzähle, was ich über Arngrims Pläne weiß, verrate ich meinen sogenannten Herrn und werde, bekommt er mich noch einmal zu fassen, mit einem sicher schmerzhaften Tod bestraft.“ Er schwieg und unterstrich damit die Bedeutung des Gesprochenen.
„Wir mussten dort weg und werden nicht zurückgehen“, stimmte nun die Frau zu. „Es bleibt uns nichts anderes übrig, als mit euch einen Handel zu beschließen. Ihr bekommt, was ihr wissen wollt, und im Gegenzug lasst ihr uns weiterziehen!“
Runa hatte die ganze Zeit still hinter Thorstein gestanden und dem Gespräch gelauscht. Nun meldete sie sich zum ersten Mal zu Wort.
„Ihr könnt nicht weiterziehen“, widersprach sie den Fremden leise. „Noch ist der Winter da draußen im vollen Gange. Wie wollt ihr da ganz ohne Hab und Gut überleben?“
Teitr nickte und auch die anderen Knechte ließen auf die eine oder andere Weise ihre Zustimmung erkennen. „Ihr werdet erfrieren“, stellte der Vorarbeiter trocken fest. „Mit Skaði(3) ist nicht zu spaßen!“
Man sah, wie sich die Wangen der Frau vor Verlegenheit röteten. Lag es daran, dass sich die Herrin im Haus um das Wohlergehen der Gefangenen sorgte oder gab es ganz andere Gründe für deren Erröten? Thorstein nahm sich vor, noch ein wenig genauer nachzuforschen. Doch er war sich inzwischen sicher: Die Informationen, die er von dieser Familie entlaufener Sklaven erhalten konnte, waren es wert, die drei nicht nach Moseby und zu dem hinterhältigen Arngrim und seinen drei fränkischen Strauchdieben zurückzuschicken.
(1) Hammaburg: Die Hammaburg war ein Dorf aus dem 9. Jahrhundert, das sich auf dem Gebiet der hamburgischen Altstadt befand. Genauer gesagt an der Stelle des heutigen Domplatzes am Speersort. Aus dem Dorf entwickelte sich im Laufe der Jahrhunderte die Stadt Hamburg. Mehr dazu in der Geschichte von Hamburg, z.B. hier:
http://www.hamburg.de/geschichte/4617932/hammaburg/
(2) Es gibt einige kluge Köpfe, die hier vielleicht Einspruch erheben könnten. Man nimmt allgemein an, dass sich die Sprachen der Franken, Friesen und Dänen zu jener Zeit noch nicht so unähnlich waren wie heute. Doch da mein fiktives Straumfjorður ziemlich weit nördlich im Kattegat befindet, mag es schon sein, dass die Franken dort Verständigungsprobleme hatten.
(3) Skaði: nordische Göttin der Jagd und des Winters