Die Braut des Medicus
Máire Brüning
Impressum
© 2016 Máire Brüning – alle Rechte vorbehalten.
Máire Brüning
Lektorat: S. Mesters-Wöll
Umschlagfotos: Kiselev Andrey Valerevich/Shutterstock.com, Megin/Shutterstock.com
Das Buch:
Dezember 1254. Nach den tragischen Ereignissen in Venedig kehrt Ravena nach Rocca d´Aquila zurück. Allein, voller Trauer und Zweifel, denn der überstürzte Abschied von ihrem Geliebten, dem Medicus Nael, überschattet ihr Glück. Doch Nael beweist ihr seine Liebe. Er erscheint vor den Toren ihrer Burg und hält um ihre Hand an. Eifrig stürzt sich die junge Burgherrin in die Vorbereitungen zum Empfang der Hochzeitsgäste. Doch nicht alle Besucher kommen, um dem Brautpaar Glück zu wünschen. Schon bald muss Ravena sich gefährlicher Feinde erwehren, die ihre Familie bedrohen ...
Dieses Buch setzt die Ereignisse aus `Wie ein Siegel auf dein Herz Teil 1&2 fort. Zum besseren Verständnis sollten die Bücher in der korrekten Reihenfolge gelesen werden.
Die Autorin:
Máire Brüning, geboren 1966 wuchs in einer Region auf, die reich an Zeugnissen staufischer Baukunst ist. Dadurch begeisterte sie sich schon als Kind für alte Ruinen, Sagen und Ritterrüstungen; ihre Leidenschaft für Geschichte und das Mittelalter führte sie schließlich zum historischen Roman. Nach einigen Wanderjahren als Floristin quer durch Deutschland lebt und arbeitet Máire Brüning in der Nähe von Frankfurt. Eine gelungene Verbindung zwischen Beruf und Leidenschaft gipfelte 2003 im Gewinn des Cadeaux-Wettbewerbs.
Von Máire Brüning sind bereits erschienen:
Roana
Tage der Trauer (Sequel 1 zu Roana)
Wie ein Siegel auf dein Herz Teil 1
Wie ein Siegel auf dein Herz Teil 2
Der fremde Gast
Der Warnruf des Turmwächters kam unerwartet. Es war ein eisiger Winternachmittag im Dezember, der nicht dazu einlud, sich im Freien aufzuhalten. Zumindest hatte Peire, seines Zeichens Burgvogt von Rocca d´Aquila, nicht damit gerechnet, so schnell unterbrochen zu werden. Er hatte seine Angebetete in die verwaiste Küche geführt, mit der Absicht, ihr ein paar Küsse zu stehlen. Madda ließ sich nur zu gerne verführen. Gerade war es ihm gelungen, sie auf eine Bank zu ziehen und seine Finger unter ihren Rock wandern zu lassen, als der Alarmruf ihm den Spaß verdarb.
Madda schob ihn von sich, sprang auf und strich eilig ihren Rock glatt. »Das hast du nun davon«, schimpfte sie. »Ich habe dir gleich gesagt, du sollst mir nicht am helllichten Tag nachstellen. Du hörst ja nie auf mich.«
Peire griff nach ihren Handgelenken und hielt sie fest. »Warum machst du uns das Leben nicht ein wenig leichter, indem du aufhörst, mir Dinge vorzuwerfen, die du ebenso sehr willst wie ich?«
Sie sah zu ihm auf, ohne etwas zu sagen. Er hielt den Blick auf ihren Mund gerichtet und betrachtete den vollendeten Schwung ihrer Lippen. Ein Anblick, der niemals aufhörte, ihn zu faszinieren. Doch dann machte sie sich unvermittelt von ihm los und trat zurück. »Du hast recht.«
Peire fiel aus allen Wolken. Niemals hätte er erwartet, dieses Eingeständnis aus Maddas Mund zu hören. »Tatsächlich?«, fragte er mit einem unverhohlenen Grinsen.
»Ja. Es ist nur ... Ich musste in den letzten Tagen oft an Ravena denken.«
»Ich bin sicher, Nael passt gut auf sie auf.«
»Ich kann mir nicht helfen, Peire, aber ich begreife nicht, was sie in ihm sieht. Er ist ein Trunkenbold.«
»War.«
»Schön, er gibt sich Mühe, das ist wahr. Trotzdem kommt er als Ravenas Gemahl nicht infrage. Ein mittelloser Medicus als Burgherr, wo kämen wir da hin?«
»Er ist ein bisschen mehr als das, Madda, glaub mir. Sieh nur einmal genau hin. Ich bin ein einfacher Mann aus dem Volk. Er nicht.«
»Ich bemerke da wenig Unterschied zwischen euch«, gab sie achselzuckend zurück. »Wenn es um Frauen geht, seid ihr die gleichen unersättlichen Lüstlinge.«
»Mag sein.« Er legte ihr die Hände an die Wangen und drückte ihr einen schnellen Kuss auf den Mund. »Aber genau deshalb hast du mich ja in dein Bett gelassen. Weil ich Manns genug bin, dich eine ganze Nacht lang zu beschäftigen.«
»Was bist du doch für ein Großmaul«, schimpfte sie mit gespielter Strenge und versetzte ihm einen Klaps auf sein Hinterteil. »Mach, dass du rauskommst. Die Pflicht ruft.«
Grinsend bückte Peire sich nach seinem Mantel, den er zuvor achtlos hatte fallen lassen, und verließ die Küche. Im Burghof trieben ihm Schwaden von Pulverschnee entgegen, in eisiger Stille. Er zog sich die Kapuze seines Mantels tiefer ins Gesicht. Die Sache war hoffentlich wichtig, sonst konnte der Kerl auf dem Turm etwas erleben!
Er stieg auf den Wehrgang über dem Torhaus und spähte ins Tal hinunter. Die Mannschaft der Wachstation an der Straße hatte eine Signalfahne aufgezogen. Reiter näherten sich der Burg.
Das war in der Tat eine Nachricht, die seine Aufmerksamkeit verdiente. Rocca d´Aquila lag abseits der üblichen Reisewege durch das Val d’Adige und Besucher waren ein seltener Anblick, erst recht bei solch einer schlechten Witterung. Einen kurzen Moment lang hoffte Peire, es könne die Burgherrin, Ravena von Rocca d´Aquila, sein, die von ihrer Reise nach Venedig heimkehrte. Doch sogleich schüttelte er über seine törichte Hoffnung den Kopf. Dafür war es noch viel zu früh.
Er wandte sich zu Dinêl um, der an seine Seite getreten war. »Lass die Bogenschützen antreten. Sie sollen sich bereithalten, bis wir wissen, mit wem wir es zu tun haben.«
Dinêl nickte und eilte davon, um den Befehl auszuführen. Peire beugte sich über die Brüstung und spähte angestrengt den Fahrweg entlang. Das Schneetreiben schien noch dichter geworden zu sein und behinderte inzwischen die Sicht so sehr, dass nur die Umrisse der Reiter zu erkennen waren. Peire zählte drei Personen, von denen eine auffällig klein wirkte. Sie näherten sich in langsamem Tempo, so als sei es ihnen gleichgültig, ob sie dem Schneetreiben entkamen oder nicht. Die Bogenschützen nahmen Aufstellung und Peire gab das Zeichen, das Tor zu öffnen.
Er vernahm das dumpfe Rumpeln des Torflügels und den gedämpften Hufschlag der Pferde. Die Tiere stolperten erschöpft in den Hof und blieben sofort stehen, die Köpfe gesenkt. Peire ging zur Treppe und stieg in den Hof hinunter, um die Ankömmlinge willkommen zu heißen, doch die Worte blieben ihm im Hals stecken. Einer der Reiter war Assad, Hauptmann der Palastwache im Dienste Manfreds von Sizilien. Peire erkannte ihn augenblicklich, trotz der tief in die Stirn gezogenen Fellmütze und dem Wolltuch, mit dem er die untere Hälfte seines Gesichtes verhüllt hatte. Auch der zweite Mann war offensichtlich ein Sarazene. Der dritte Reiter dagegen entpuppte sich als Kind.
Peire überlegte fieberhaft. Die Anwesenheit des Hauptmanns konnte nichts Gutes bedeuten. Kein Südländer überquerte im Winter die Alpen, ohne einen triftigen Grund zu haben. Und nur wenige Menschen stießen zufällig auf Rocca d´Aquila.
»Wer seid Ihr?«, fragte er.
Assad gestikulierte ungeduldig. Das Kind glitt aus dem Sattel und kam mit unsicheren Schritten näher. Eine Windbö riss ihm unvermittelt die Kapuze vom Kopf.
Peire stieß einen überraschten Laut aus. Das Kind war ein Mädchen, vielleicht acht oder neun Jahre alt. Sein Haar war fuchsrot und umwehte seinen Kopf wie eine Feuerlohe. Das Gesicht war zart, die Nase schmal, die Lippen blau vor Kälte. Doch das Ungewöhnlichste an diesem Gesicht waren die Augen. Groß und von einem klaren, hellen Grün. Man hätte darin versinken können, wäre ihre Besitzerin nur ein wenig älter gewesen. Grundgütiger, dachte Peire. Dieses Kind wird einmal jedes Männerherz betören!
Das Mädchen versuchte zu knicksen, doch eine heftige Windböe ließ es straucheln. Peire trat eilig näher und griff nach seinem Arm, um zu verhindern, dass es stürzte.
»Herr. Bitte helft mir!«, flüsterte es hastig. »Diese Männer haben mich entführt!«
Peire war geneigt, seinen Ohren zu misstrauen. Doch dann sah er in ihre angstvoll geweiteten Augen und begriff, dass er sie keineswegs falsch verstanden hatte. Die Kleine war außer sich vor Furcht. Er drückte ihr beruhigend die Hand. Sie sah ihn an und in ihrem Blick lag so viel Dankbarkeit, dass ihm doch ein wenig flau im Magen wurde. Auf was hatte er sich da gerade eingelassen?
Nach einem schnellen Seitenblick auf Assad sagte sie: »Wir wurden vom Schnee überrascht, Herr. Bitte gewährt uns Unterkunft, bis die Wetterlage sich bessert.« Sie sprach ein sorgfältig artikuliertes Latein und zum ersten Mal war Peire Rafael dankbar für die Beharrlichkeit, mit der sein Freund ihm die Sprache eingebläut hatte.
Er machte eine einladende Handbewegung zum Palas und führte die Ankömmlinge die Treppe hinauf ins Hauptgeschoss und in die Halle. Die beiden Sarazenen würdigten die anwesenden Burgleute keines Blickes, sondern traten sogleich vor den Kamin und streckten ihre Hände den Flammen entgegen. Das Mädchen dagegen schlug die Augen nieder und wartete geduldig, bis Peire ihm den Mantel abgenommen und an einen Haken neben den Kamin gehängt hatte, bevor es sich dem Feuer näherte. Peire rückte eine Bank zurecht.
»Setzt dich.«
Madda kam mit einem Tablett voller Becher herein und ging zum Kamin.
»Gleich wird dir warm«, versprach sie nach einem Blick auf das blasse Kind. Sie schöpfte heiße Brühe aus dem Kessel über dem Feuer, wickelte ein Tuch um den dampfenden Becher und brachte ihn dem Mädchen.
Ohne Eile trat Peire an ihre Seite, um seinen eigenen Becher entgegenzunehmen. Unauffällig beugte er sich zu ihrem Ohr und flüsterte ihr eine Warnung zu.
Der Sänger musterte den Hauptmann. Bisher hatte der Sarazene durch nichts zu erkennen gegeben, dass er sich an ihn erinnerte. Das war ein Glück, befand Peire, denn so konnte er in Ruhe überlegen, wie er weiter vorgehen sollte.
Er konnte sich keinen Reim auf Assads Anwesenheit machen, hegte der Sarazene doch eine tief verwurzelte Abneigung gegen Kälte und Schnee. Manfred, Regent von Sizilien befand sich in Apulien und so gab es für den Hauptmann seiner Leibwache eigentlich keinen Anlass zu einer Reise nach Norden. Es sei denn, das Kind war eine wichtige Geisel, für deren Bewachung Manfred einen vertrauenswürdigen Mann benötigte.
Nur - wie kam er dann ausgerechnet nach Rocca d´Aquila? Gut, es gab seltsame Zufälle, doch daran mochte Peire nicht glauben. Viel wahrscheinlicher erschien ihm, dass Assad den Auftrag hatte, Rafael von Rodéna aufzuspüren. Peire schüttelte irritiert den Kopf. Um Rocca d´Aquila zu finden, musste man entweder eine Wegbeschreibung besitzen oder alles Glück dieser Erde für sich gepachtet haben. Also doch ein Zufall?
Madda trat an seine Seite und drückte ihm kurz die Linke. Er wusste, sie konnte ihm immer ansehen, wenn ihn etwas beunruhigte. Sie kannte praktisch alle Details, die Rafael ihm über seine Fehde mit Manfred von Sizilien offenbart hatte. Manfred hatte vor Zeugen geschworen, das Haus Rodéna nicht mehr zu behelligen. Assads Anwesenheit war ein Affront gegen Rafael, der Ähnlichkeit mit einer schallenden Ohrfeige hatte. Diesen Eidbruch des Regenten konnte Rafael nicht hinnehmen, ohne dabei sein Gesicht zu verlieren. Bestimmt hatte sein Zusammenstoß mit Manfred im Königreich längst die Runde gemacht und nun lauerten all jene Grafen, Edelleute, Sheiks und Bischöfe, die nach der Grafschaft Rodéna gierten, darauf, wie Rafael sich behaupten würde.
Peire musste herausfinden, was Assad plante. Er scheute sich nicht davor, zu drastischen Mitteln zu greifen - damit hatte er keine Probleme - , aber ihm graute davor, eine falsche Entscheidung zu treffen und dadurch die Burg und ihre unschuldigen Bewohner in Gefahr zu bringen. Dennoch durfte er nicht zögern, hart durchzugreifen, sollte es sich als notwendig erweisen. Es war der einzige Weg, das sich anbahnende Unheil noch im Keim zu ersticken.
Er trank einen Schluck, stellte den Becher weg und wandte sich Assad zu. »Da Ihr Euch nun ein wenig aufgewärmt habt, seid so gütig, mir Eure Namen und Euer Reiseziel zu nennen.«
»Unsere Namen tun nichts zur Sache«, knurrte Assad unwirsch. »Wir werden Euch für Unterkunft und Essen angemessen bezahlen. Sobald der Schneefall nachlässt, brechen wir wieder auf.«
»Das würde ich Euch nicht raten«, sagte Peire. »Es sei denn, Ihr habt vor, zu erfrieren. Eure Tiere sind erschöpft, Eure Ausrüstung völlig ungenügend für den Winter in den Bergen ...«
»Ich schlage vor, Ihr lasst das unsere Sorge sein«, unterbrach Assad leise, aber scharf. »Wir haben einen Eid zu erfüllen. Eine Verzögerung können wir uns nicht erlauben.«
»Schön. Ich kann Euch nicht hindern, in Euer Verderben zu laufen. Aber das Mädchen bleibt hier.«
»Darüber habt Ihr nicht zu entscheiden.«
»Das Kind ist viel zu zart. Die Strapazen der Reise würden es umbringen. Als guter Christenmensch ist es meine Pflicht, die Schwachen zu beschützen. Es bleibt.«
Assad stieß die Luft durch die Nase aus. »Wirklich? Und wenn ich etwas dagegen habe? Oder glaubt Ihr vielleicht insgeheim, Ihr könntet das Mädchen für Euch selbst behalten?«
Peire seufzte verstohlen. »Ihr wisst genau, dass ich nichts dergleichen im Sinn habe. Warum auch? Ich weiß nicht einmal, wer die Kleine ist. Momentan sehe ich nur, dass Euer Starrsinn das Kind umbringen wird. Und dagegen habe ich entschieden etwas einzuwenden.«
»Aber ...«
»Kein Aber. Ihr bleibt. Entweder als mein geschätzter Gast oder als Gefangener. Entscheidet Euch.«
Assad fuhr herum und packte Peire beim Oberarm. »Wagt es nicht, mir zu drohen.«
»Wieso?«, konterte Peire, die nachlässige Haltung plötzlich wie weggewischt. »Was, denkt Ihr, könnt Ihr gegen meine Männer schon ausrichten?«
»Oh, Ihr würdet Euch wundern«, entgegnete der Sarazene und seine Stimme klang seltsam gepresst. Er stieß den Sänger mit einem Ruck von sich. »Ich könnte praktisch Eure ganze Garnison außer Gefecht setzen, indem ich Euch meinen Dolch an die Kehle halte, wisst Ihr? Eure Männer sind viel zu weit weg, um Euch von Nutzen zu sein.«
Peire lächelte ungerührt. »Sicher, das könntet Ihr.« Er nickte Madda zu, die das Mädchen bei der Hand nahm und aus der Halle führte.
Assad wollte ihr folgen, fand den Weg jedoch versperrt; vier bewaffnete Knechte standen zwischen ihm und der Tür, die ins Innere des Treppenturms führte.
»Lasst mich durch«, befahl er. Doch die Knechte reagierten nicht, denn sie sahen konzentriert über seine Schultern zu Peire hin, und ehe er sich an ihnen vorbeigedrängt hatte, packten zwei der Männer ihn links und rechts an den Armen und stießen in rückwärts zurück in die Halle. Obwohl der Hauptmann begreifen musste, dass es keinen Sinn hatte, wehrte er sich, trat zu beiden Seiten aus und versuchte, sich den Knechten zu entwinden. Vergeblich. Die großen Hände hielten ihn sicher gepackt und schleiften ihn zu Peire. Dem zweiten Sarazenen, der seinem Hauptmann beizustehen versuchte, erging es nicht besser.
»Nehmt ihnen die Waffen ab und sperrt sie in den Turm«, befahl der Burgvogt. »Getrennte Kammern.«
Er wandte sich zur Tür und klopfte Assad im Vorbeigehen die Schulter. »Ihr werdet es mir doch gewiss nicht übel nehmen, wenn ich Euch die gleiche Gastfreundschaft angedeihen lasse, wie sie Euer Herr meinem Freund Rafael von Rodéna geboten hat, nicht wahr? Wobei wir der Höflichkeit halber auf die Ratten in den äh ... Gästekammern verzichten.«
Damit verließ Peire die Halle und die wütenden Flüche, die Assad ihm hinterherschickte, klangen wie Musik in seinen Ohren.
Madda führte das Mädchen in die warme Küche und forderte es auf, sich an den Gesindetisch zu setzen. Über dem Feuer hing ein Topf, aus dem es würzig duftete. Madda holte Brot aus der Speisekammer und schnitt ein großes Stück davon ab, während die Köchin eine Schale mit Eintopf füllte. Madda brachte das Essen zum Tisch und reichte dem Mädchen einen Löffel. »Hier. Ich dachte mir, du musst hungrig sein. Du hast bestimmt in letzter Zeit nicht viel gegessen.«
»Danke.« Das Mädchen tauchte den Löffel in den Eintopf und es war unschwer zu erkennen, welche Mühe es die Kleine kostete, nicht zu schlingen.
Wenig später betrat Peire die Küche und setzte sich zu den Frauen an den Tisch.
»Ich bin Peire, Burgvogt von Rocca d´Aquila«, stellte er sich vor. »Sei mir willkommen, junge Dame. Darf ich deinen Namen erfahren?«
»Den kann ich nicht sagen«, erwiderte das Mädchen leise.
»Warum nicht?«, fragte Madda. »Wir wollen dir nichts Böses.«
»Die Männer haben es mir streng verboten. Sie würden es gewiss erfahren, wenn ich ungehorsam wäre und dann würden sie ...« Sie brach abrupt ab, und ihre Augen wurden riesig und starr. Sie gab ein leises Stöhnen von sich, das Furcht ebenso wie Jammer ausdrückte.
Peire verschlug es für einen Moment die Sprache. Schließlich murmelte er: »Dachte ich es mir doch, dass an der Geschichte etwas faul ist.«
Madda wandte den Kopf und sah erst Peire und dann das Mädchen an. »Du bist hier in Sicherheit, Kind. Doch dazu musst uns schon erzählen, was die Männer dir angetan haben.«
Das Mädchen legte den Löffel beiseite und schob das halb gegessene Brot von sich. »Ihr werdet mir gegen den Hauptmann beistehen?«
»Natürlich.«
»So natürlich ist das nun auch wieder nicht«, murmelte die Kleine. »Ich kann Euch für Eure Dienste nicht bezahlen.«
Madda öffnete den Mund, um zu widersprechen, doch Peire legte ihr eine Hand auf den Arm und schüttelte den Kopf. Lass mich machen, sagte sein Blick.
Madda erhob sich. »Ich mache uns einen Becher heiße Milch mit Honig«, verkündete sie. Sie griff nach einem Krug und verließ die Küche.
Peire brach sich ein Stückchen von dem verschmähten Brot ab und steckte es in den Mund. »Soll ich dir ein Geheimnis verraten, Kind?«
Das Mädchen sah ihn groß an, doch schließlich nickte es zögernd.
Peire zog einen Schlüssel aus seiner Gürteltasche und legte ihn auf den Tisch. »Siehst du diesen Schlüssel? Er gehört zu einer Kammer oben im Turm. Und nun rate, wer in dieser Kammer sitzt und seine Dummheit verflucht?«
»Der Hauptmann?«, fragte das Mädchen ungläubig. »Ihr habt ihn eingesperrt?«
»Richtig«, verkündete Peire grinsend. »Er wird diese Kammer nicht verlassen, bevor ich es ihm erlaube. Was ich nicht so bald zu tun gedenke.«
Das Mädchen nickte, griff nach seinem Löffel und tauchte ihn erneut in den Eintopf. »Mein Name ist Andara von Glouburg«, sagte sie. »Ich war Novizin im Kloster Konradsdorf.«
Peire schüttelte den Kopf. »Glouburg? Nie gehört.« Dann fiel ihm etwas ein. »Oder doch. Der Markgraf von Glouburg heißt Richard, richtig?«
»Mein Vater. Er hat bestimmt, dass ich ins Kloster gehen soll, um einmal Meisterin von Konradsdorf zu werden.«
»Hochfliegende Pläne für ein Mädchen, das noch so jung ist wie du.«
Andara zuckte die Schultern. »Schon möglich.«
Madda betrat die Küche, beladen mit Milchkrug und Honigtopf. Hinter Andaras Rücken warf sie Peire einen Blick zu und zog fragend die Augenbrauen hoch.
»Wie bist du an Hauptmann Assad geraten?«, fragte Peire weiter. »Hat er dich aus dem Kloster entführt?«
Andara schüttelte heftig mit dem Kopf. »Nein. Der Hauptmann stieß erst später zu uns. Wir wurden unterwegs von einer Bande Straßenräuber bedrängt. Es sah ziemlich schlecht für uns aus, bis der Hauptmann auftauchte und uns beistand. Zuerst dachte ich, Gott hätte meine Gebete erhört. Doch Assad war keineswegs so hilfreich, wie er vorgab. Er und seine Männer übernahmen ungefragt das Kommando und wir mussten uns fügen.«
»Wir?«, fragte Peire.
»Wir waren zu viert«, sagte Andara. »Mein Vormund, seine Gattin, der Kutscher und ein ... ach, ich weiß gar nicht, was Ahmad eigentlich ist. Ich glaube, Frau Roana kann ihn nicht besonders gut leiden und er ...«
»Meinst du Roana von Morra?«, fiel Peire ihr ins Wort.
Andaras Augen wurden riesengroß. »Ihr ... Ihr kennt Frau Roana?«
»Gewiss. Rafael von Rodéna und seine Frau sind meine engsten Freunde«, erwiderte Peire. Diese Offenbarung endete mit einem leicht fragenden Unterton.
»Dann seid Ihr Peire, der Sänger?«
»Der bin ich.«
Andara entfuhr ein erleichterter Seufzer. »Dem Herrn sei Dank, dass er uns die richtige Burg gewiesen hat. Frau Roana hat mir versichert, dass wir auf Eure Hilfe zählen können.«
»Das stimmt. Doch, um dir helfen zu können, muss ich wissen, was geschehen ist. Am besten, du erzählst von Anfang an«, forderte Peire das Mädchen auf. »Wie ging es weiter, nachdem Assad das Kommando übernommen hatte?«
»Wir reisten gemeinsam nach Nürnberg. Frau Roana sagte mir, es sei gar nicht so schlecht, die Sarazenen als Schutztruppe zu haben. Sie hatte jedoch einen geheimen Plan, der vorsah, Assad nach Rocca d´Aquila zu locken und ihn mit Eurer Hilfe festzusetzen.«
»Nun, diesen Punkt haben wir ja glücklicherweise schon erledigt. Was geschah dann?«
»Der Hauptmann nutzte unseren Aufenthalt in Nürnberg, um mich zu entführen. Er kam nachts in meine Kammer, befahl mir, ein paar Dinge einzupacken, und zwang mich mit ihm zu gehen. Ich habe versucht, eine Nachricht zu hinterlassen, aber es ging nicht. Er hat es bemerkt und mir eine solche Ohrfeige versetzt, dass ich ...«
»Schon gut, Andara. Kein Grund sich zu grämen. Es war sehr mutig von dir, es zu versuchen.«
»Ich wollte Frau Roana keinen Kummer machen«, murmelte das Mädchen unglücklich.
»Es ist nicht deine Schuld«, beschwichtigte Peire. »Du hattest gegen Assad nie eine Chance, Kind. Doch erzähl weiter. Hast du nach deiner Entführung noch etwas von Roana oder Rafael gehört?«
»Leider nicht, Herr.«
»Hm. Ich kenne Rafael schon sehr lange. Von dir habe ich ihn jedoch nie sprechen hören. Sag mir eines Andara: Was genau hast du mit Rafael und seiner Gemahlin zu schaffen? Wo bist du ihnen begegnet?«
»In Konradsdorf. Herr Rafael sagte, mein Vater habe in seinem Testament verfügt, mich aus dem Kloster zu nehmen, und er sei gekommen, um diesem Wunsch zu entsprechen«, erklärte Andara und zog fröstelnd die Schultern hoch. »Was mich nahezu sprachlos gemacht hat, denn mein Vater ist nicht dafür bekannt, eine einmal getroffene Entscheidung zurückzunehmen. Die Meisterin ...«
»Was war mit ihr?«
»Sie schien ebenfalls Zweifel zu haben und weigerte sich, mich zu entlassen.«
»Das dürfte Rafael nicht gefallen haben.«
»Oh nein, ganz und gar nicht«, bestätigte Andara. »Doch er weiß, wie man sich Respekt verschafft. Und Frau Roana kann wirklich gut mit ihrem Dolch umgehen.«
»Das glaube ich auf der Stelle«, murmelte Peire. »Ich hoffe, es gab keine Toten.«
»Aber nein, natürlich nicht. Wo denkt Ihr hin?«
Madda schnaubte. »Bei Rafael weiß man nie so genau.«
»Zugegeben - die Meisterin wirkte recht eingeschüchtert«, bekannte Andara mit einem verschmitzten Lächeln. »Geschieht ihr recht, dem garstigen, alten Besen.«
»Das beantwortet meine nächste Frage«, stellte Peire fest. »Du warst im Kloster nicht glücklich.«
»Oh nein, Herr. Das ewige Beten und Schweigen hat mir nicht gefallen. Ich war froh, von dort wegzukommen.«
Peire strich sich den Bart, während er intensiv nachdachte. Irgendwo in seinem Hinterkopf rumorte ein Gedanke. Etwas, dass er gehört, ein Wort, das er aufgeschnappt hatte. Doch er bekam es einfach nicht zu fassen.
Madda schöpfte heiße Milch in drei Becher, rührte Honig hinein und brachte sie zum Tisch.
»Eines begreife ich nicht«, sagte Peire. »Du sagst, Rafael sei dein Vormund. Hast du keine Mutter oder andere Verwandte, die sich um dich kümmern können?«
Andara aß bedächtig einen Löffel voll, tupfte sich die Lippen mit ihrem Mundtuch ab und sah Peire dann in die Augen. »Meine Mutter ist tot. Gott verfluche sie. Möge sie in der Hölle brennen, für das, was sie meinem Vater angetan hat.«
Der Sänger starrte das Mädchen entgeistert an. Hätte sie sich vor ihm auf den Boden geworfen, um ihm die Füße zu küssen, hätte er kaum überraschter sein können. »Ich bewundere deinen Mut, Mädchen. Es ist sehr gefährlich, so etwas zu sagen.«
»Wenn Ihr der Mann seid, den Frau Roana mir beschrieben hat, habe ich nichts zu befürchten.«
Peire schnaubte. »Trotzdem wüsste ich gern, wer deine Mutter war.«
Andara legte den Löffel in die leere Schale und schob beides von sich. »Gwenfrewi von Glouburg«, sagte sie, mit so viel Abscheu in der Stimme, dass Madda sichtbar zusammenzuckte.
Peire starrte in seinen Becher und ließ die Milch darin kreisen. »Wenn ich es recht verstehe, bist du demnach Rafaels Nichte.«
»So sagte man mir.«
»Hm.«
»Ich wiederhole nur, was Frau Roana mir erklärt hat. Wenn Ihr Beweise wollt, dann müsst Ihr abwarten, bis Rafael kommt. Er trägt den Siegelring meines Vaters und kennt den genauen Wortlaut seines Letzten Willens. Er kann Euch alles erklären, was Ihr wissen müsst.«
Peire zog eine Braue in die Höhe. Er glaubte kaum, dass Rafael das Recht hatte, über die Zukunft des Mädchens zu entscheiden, denn Andara war Richards Tochter und nicht Gandars. Streng genommen hatte Rafael mit dem Kind nichts zu schaffen. Doch dann fiel ihm ein, was ihn die ganze Zeit gestört hatte und er begann, mit Hilfe seiner Finger rückwärts zu zählen, bis er Andaras geschätztes Geburtsjahr erreicht hatte. Mit einem Mal schlug ihm das Herz bis zum Hals. Er war nicht sicher, ob ihm der Schluss gefiel, der sich aus seiner Berechnung ziehen ließ. Doch er bot die einzig vernünftige Erklärung für Rafaels Verhalten. Falls sein Verdacht zutraf, und Assad wirklich den Auftrag hatte, Andara als Geisel an Manfreds Hof zu verschleppen, musste Rafael den Sarazenen töten. Es blieb ihm gar nichts anderes übrig. Aber Peire gedachte nicht, das mit dem Mädchen zu erörtern.
»Ich vermute, Rafael und Roana werden sich an Assads Fersen geheftet haben, um dich zurückzuholen. Ich werde ihnen entgegenreiten«, sagte er. »Sie müssen wissen, dass du hier in Sicherheit bist.«
»Aber mein Herr, das Wetter da draußen ist ...«
»Ein Albtraum, ich weiß.« Er dachte einen Moment nach. »Hör zu, Andara. Du musst jetzt versuchen, dich ganz genau zu erinnern. Wann hast du Rafael und Roana zum letzten Mal gesehen?«
»Das war in Nürnberg«, sagte Andara. »Am Tag nach Allerseelen.«
Erneut rechnete Peire nach. »Ich weiß nicht genau, wo Nürnberg liegt, aber mir erscheint euer Reisetempo ungewöhnlich langsam«, bemerkte er.
»Das stimmt«, bestätigte Andara. »Wir mussten uns von Dorf zu Dorf durchfragen, weil der Hauptmann keinen Führer nehmen wollte. Ich fand, das war ziemlich dumm von ihm.«
»Nicht nur dumm, sondern höchst gefährlich«, bemerkte Madda. »Die Berge verzeihen keine Fehler.«
Andara ließ den Kopf hängen. »Ich konnte ihn nicht davon abbringen«, murmelte sie.
»Oh, Mädchen. Niemand hat das von dir erwartet«, sagte Madda. »Es wäre Rafaels Aufgabe gewesen, dich zu beschützen. Ohnehin frage ich mich, wie es diesem Assad gelingen konnte, dich zu entführen.«
»Herr Rafael war krank«, antwortete Andara. »Es sah ... ziemlich ernst aus, jedenfalls die ersten beiden Wochen. Darum hat niemand sonderlich auf den Hauptmann geachtet.«
»Bevor du entführt wurdest, ging es ihm da besser?«, fragte Peire besorgt.
»Körperlich ja«, erwiderte das Mädchen zögernd. »Aber um sein Gemüt schien es mir ziemlich schlecht bestellt zu sein.«
Peire und Madda sahen sich einen Moment lang an. »Kannst du uns das vielleicht näher erklären?«, fragte Madda schließlich.
Das Mädchen legte die Hände im Schoß zusammen und zuckte die Schultern. »Er hat die meiste Zeit geschlafen«, erwiderte sie. »Und wenn er wach war, hat er nicht geredet. Hat nur dagesessen und vor sich hingestarrt. Das war ziemlich gruselig.«
In Peires Magen ballte sich ein eisiger Klumpen der Furcht zusammen. Er hatte keine Vorstellung, was Rafael zugestoßen sein mochte. Doch es bestand kein Zweifel daran, dass es ein erschütterndes Ereignis gewesen sein musste.
»Ich bin müde«, sagte Andara. Sie erhob sich und Madda folgte eilig ihrem Beispiel. »Ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr mir zeigen könntet, wo ich schlafen kann.«
»Du hast recht, es war ein langer Tag.« Madda trat vor, um ihr die Tür aufzuhalten.
»Wir sehen uns später, Peire.« Sie nahm das Öllicht, das er ihr hinhielt, trat hinaus, und nach wenigen Schritten waren sie im Schatten der Treppe verschwunden, die zum Eingang des Palas führte.
Peire blieb allein zurück, sah ins Feuer und dachte nach. Die Köchin kam und stellte einen Becher mit Wein und eine Schale mit dampfend heißem Eintopf auf den Tisch.
»Aufgewecktes Kind«, bemerkte sie.
»Viel zu erwachsen für ihr Alter«, brummte Peire und begann zu essen. »Ich frage mich, warum man sie so früh ins Kloster gesteckt hat.«
Das Mädchen versprach eine Schönheit zu werden und war von guter Herkunft. Warum hatte Richard von Glouburg nicht versucht, eine vorteilhafte Heirat für sie zu arrangieren?
Peire hob den Weinbecher und stellte ihn wieder fort, ohne zu trinken. Assads Interesse an Andara konnte nur bedeuten, dass sie tatsächlich Gandars Bastardtochter war. Rafael schien darüber Bescheid zu wissen. Nur woher? Und warum war das Mädchen so wichtig?
Peire griff nach dem Löffel und begann zu essen. Es führte zu nichts, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, bevor er nicht die ganze Geschichte kannte.
Nach dem Essen absolvierte er seinen üblichen Kontrollgang durch die Burg und schlich sich dann in Maddas Kammer. Sie hatte ein Nachtlicht für ihn brennen lassen, doch sie selber schlief tief und fest. Mit einem leisen Seufzer hob Peire die Bettdecke und streckte sich neben ihr auf dem Rücken aus. Madda drehte sich im Schlaf auf die Seite, tastete nach seinem Arm, legte die Hand darauf und ließ sie dort.
Trotzdem tat Peire in dieser Nacht kaum ein Auge zu und so hatte er reichlich Gelegenheit, den Betthimmel anzustarren und sich zu fragen, was Rafael wohl zugestoßen war.
Am nächsten Morgen war er bei Tagesanbruch im Hof und überwachte mit Dinêls Hilfe das Beladen der Maultiere mit Vorräten und Ausrüstung. Der Schneefall hielt in unverminderter Stärke an und die Sicht war so schlecht, dass zwei Fußgänger einander in Rufweite passieren konnten, ohne es zu bemerken.
»Sind die Wegmacher bereit?«, fragte Peire.
Dinêl nickte. »Ich habe sie schon ins Tal vorausgeschickt. Sie stoßen im Dorf wieder zu uns.«
Der Sänger warf einen Blick zu Madda hinüber, die in der Küchentür stand und signalisierte, dass alles für das Frühmahl bereit war. »Also gut. Ruf die Männer in die Küche. Sie sollen sich stärken. Nach dem Essen brechen wir auf.«
Peire und Dinêl führten die Männer ins Tal hinunter, durch das Dorf und zur Passstraße. Ihr erstes Ziel war Trient. Die Stadt war ein guter Ausgangspunkt, um sich nach Rafael zu erkundigen. Die Senner waren in der Regel die Ersten, die erfuhren, ob irgendwo fremde oder gar verletzte Reisende untergekommen waren. Peire rechnete damit, die Stadt noch vor dem Mittagsläuten zu erreichen, doch das Wetter machte diese Schätzung schnell zunichte.
Wie Dinêl vorausgesagt hatte, schneite es ununterbrochen. Dazu kam ein böiger Wind, der ihnen die Schneeflocken entgegenpeitschte. Der Pfad war schmal und wenig griffig, die Sicht stark eingeschränkt. Jeder Schritt schien mehr Kraft zu erfordern als der vorangegangene und Peire war froh, als endlich die ersten Häuser von Trient aus dem trüben Grau des späten Nachmittags auftauchten. Der Ort lag wie ausgestorben da, die Häuser schienen sich unter der Schneelast zu ducken und nur hier und da schimmerte ein schwacher Lichtschein durch die Ritzen der Fensterläden. Sie fanden Quartier in der Sennhütte eines Bauern, den Peire eingehend befragte. Doch der Mann hatte weder etwas von Rafael und Roana gehört, noch konnte er sagen, ob Assad und Andara die Stadt passiert hatten. Allerdings wusste er von einem Schneebrett zu berichten, das am Vortag in der Nähe der Passstraße zu Tale gedonnert war.
Dinêl warf einen sorgenvollen Blick zum schiefergrauen Himmel hinauf, der kein Ende des Schneefalls verhieß. »Unsere Gäste hatten mehr Glück als Verstand«, bemerkte er. »Das hätte böse ausgehen können.«
»Ich weiß.«
»Es sieht nicht gerade rosig aus für Rafael.«
»Ja, vielen Dank auch«, knurrte Peire. »Nimm mir auch das letzte bisschen Zuversicht, das kann ich gerade so richtig gut gebrauchen.«
»Ich sage nur, was du selbst ganz genau weißt«, gab Dinêl unbeeindruckt zurück.
Peire trat näher zum Herd, steckte die Hände in die Ärmel und rieb sich die Arme. Er war völlig durchgefroren. »Ja, natürlich weiß ich, wie gefährlich dieser andauernde Schneefall sein kann«, räumte er ein. »Aber mir kommt es seit Andaras Ankunft vor, als schwanke der Boden unter meinen Füßen. Mann, ich kann immer noch nicht so richtig fassen, zu welcher Niedertracht Assad fähig ist. Dazu kommt, dass ich überhaupt keine Ahnung habe, in welche Geschichte wir da hineingeraten sind. Ich muss Rafael finden.«
»Tja, Madonna Ravena zieht uns die Ohren lang, wenn ihrem Bruder etwas zustößt.«
»Und falls Ravena etwas von uns übrig lässt, gibt uns Nael den Rest.«
»Gott steh uns bei«, murmelte Dinêl.
Die Müdigkeit verhalf Peire zu einigen Stunden tiefen Schlafs, aber lange vor Tagesanbruch wachte er auf. Er wusste sofort, wo er sich befand und was geschehen war. Mit brennenden Augen starrte er in die Finsternis, lauschte den Atemzügen seiner Kameraden und fragte sich zum wiederholten Mal, welche Laune des Schicksals ausgerechnet ihn zum Anführer dieser Männer gemacht hatte. Er hatte für die Berge nichts übrig. Inmitten dieser Felsriesen fühlte er sich klein und verloren, machtlos im Angesicht ihrer unberechenbaren Launen. Seine Glieder kamen ihm vor wie erstarrt, während er daran dachte, dass eine Lawine jetzt in diesem Moment niedergehen und seine Freunde begraben konnte. Ganz gleich, wie sehr er auf Rafaels Umsicht vertraute, bei jedem lauten Geräusch zog sich sein Magen schmerzhaft zusammen, und er rechnete damit, dass die Tür auffliegen, der Bauer hereinstürmen und von einer Katastrophe berichten würde.
Doch er merkte bald, dass all diese düsteren Gedanken nur dazu gut waren, seine Tatkraft zu lähmen. Mit einem ungeduldigen Laut erhob er sich, um die anderen zu wecken.
Nach einer ausgiebigen Mahlzeit brachen sie auf. Der Bauer hatte ihnen geraten, dem Verlauf der Etsch durch das Valle dell’Adige zu folgen. Sie waren weniger als zwei Stunden geritten, als Dinêl plötzlich die Hand hob und sein Maultier mit einem Ruck zum Stehen brachte. Peire sah nach vorne und versuchte zu erkennen, was seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Vor ihnen, in einer Entfernung, die durch die wehenden Schneeschleier nicht zu schätzen war, bewegte sich ein verwaschener dunkler Fleck vor dem Weiß der Berghänge.
Als sie weiteritten und näher kamen, erkannte Peire, dass es drei Reiter waren auf Pferden die ihm seltsam vertraut erschienen. Er gab seinen Männern ein Zeichen zurückzubleiben und trieb sein Maultier zu einer schnelleren Gangart an. Dinêl folgte ihm.
Sie trennten sich, kurz bevor sie die Reiter erreichten. Peire trabte weiter geradeaus auf sie zu, während Dinêl einen Bogen zur Seite schlug, um einem eventuellen Hinterhalt auszuweichen. Trotzdem kamen sie beinahe gleichzeitig bei den Reitern an. Es waren Rafael, Roana und ein dunkelhäutiger Sarazene, den Peire nicht kannte. »Rafael! Dem Himmel sei Dank, dass wir euch gefunden haben.«
Niemand antwortete.
Peire erschrak, als er ihre Gesichter sah. Alle drei waren am Ende. Die Anstrengung hatte tiefe Linien in Rafaels Züge gegraben, seine Augen waren trüb und glanzlos, sein Blick von erschreckender Leere. Roana trug einen Arm in der Schlinge, ihr Gesicht war so weiß wie der Schnee und ihre Haltung zeugte von tiefer Erschöpfung, die weit über das hinausging, was sich mit einigen Stunden Schlaf korrigieren ließ.
Rafael glitt von seinem Pferd und klopfte ihm den Hals, bevor er die Zügel an Dinêl übergab. Hoch aufgerichtet schritt er durch den knirschenden Schnee auf Peire zu. Dass seine Schritte schleppend waren, bemerkte der Sänger nur, weil er ihn lange kannte. Rafael umfasste Peires Unterarm zur Begrüßung und drückte ihn kurz. Erst dann brach er zusammen.