Sie sehnte sich nach einer Umarmung. Wie sehr wünschte Hermine sich, wenigstens für einen Augenblick in den starken Armen von Ron versinken zu können. Doch noch immer waren sie gebunden durch den Zauber, der sie schon den ganzen Nachmittag an einem Fleck hielt.
Die Leiche von Harry lag zu ihren Füßen und die vormalige spannungsgeladene Totenstille hatte sich in ausgelassenen Jubel auf der einen Seite und verzweifeltes Schluchzen auf der anderen Seite aufgelöst. Harry Potter, der Auserwählte, war tot. Hilfesuchend ließ Hermine ihre Augen so gut es trotz ihrer Starre ging durch den Raum wandern. Sie traf auf McGonagall, welche ebenso verzweifelte wirkte wie sie selbst. Die ehrwürdige Lehrerin ging auf die Achtzig zu und zum ersten Mal wirkte sie auch genau so auf Hermine.
„Was sollen wir mit den übrigen Muggleliebhabern und Schlammblütern hier tun, werte Freunde?", erklang da erneut die Stimme von Lord Voldemort. Eisige Kälte breitete sich in Hermines Körper aus – jetzt war auch für sie der Zeitpunkt des Todes gekommen. Laute Rufe waren zu hören, die meisten forderten den Tod aller Gefangenen.
„Ich sehe, ihr wollt reinen Tisch machen", sagte Voldemort, als der kurze Aufruhr sich zu legen begann, „doch ich bin anderer Meinung. Als Herrscher über diese neue Welt können wir es uns nicht leisten, unsere Aufmerksamkeit von etwas anderem als der Politik ablenken zu lassen. Wie im alten Rom kommt es jetzt uns zu, die Geschicke der Welt zu beraten, während unsere Sklaven für unser leibliches Wohl sorgen!"
Erneut brach lautes Gemurmel aus, die verbliebenen Todesser diskutierten den Vorschlag ihres Meisters. Schlammblüter als Sklaven? Die Verlockung dieses Vorschlags war groß, das Dasein als Sklave wäre sicher noch leidvoller als der schnelle, sofortige Tod. Es dauerte nur wenige Minuten, da war auch der letzte davon überzeugt, dass dies der viel bessere Plan war.
„Ich dachte mir, dass ihr euch für meinen Vorschlag entscheiden würdet. Stellt euch nur vor, was ihr alles anstellen könnt mit den wehrlosen Zauberern hier. Künftig werden sie sogar noch unter den Hauselfen stehen, denn diese können immerhin noch Magie anwenden. Eurer Fantasie im Umgang mit euren Sklaven soll keine Grenze gesetzt werden, denn Sklaven sind nicht mehr als Werkzeuge im Alltag: Sie müssen funktionieren und wenn sie das nicht tun, kann man sie wegwerfen und ersetzen!", verkündete der Dunkle Lord lachend. Applaus kam auf und Hermine bemerkte, wie besonders in den Gesichtern der alten Todesser plötzlich ein merkwürdiger Ausdruck stand. Augenblicklich wurde sich die junge Hexe ihrer eigenen Nacktheit sehr bewusst und sie errötete.
„Hermine…", nahm sie da ein Flüstern von Ron wahr, „verstehe ich das richtig…? Wir sollen diesen Unmenschen dienen? Vor ihnen im Staub kriechen?"
Sie schluckte: „Wenn es das nur wäre, Ron … was ich in den Augen einiger Todesser da sehe, macht mir viel mehr Angst …"
Obwohl sie kaum in der Lage war, ihm in die Augen zu schauen, konnte Hermine doch die unausgesprochene Frage spüren, die sich in Rons Gesicht abzeichnete: „Na, was meinst du denn, was die alten Säcke da mit Frauen anstellen? Oder vielleicht sogar mit Männern …?"
Ein würgendes Geräusch zeigte ihr, dass Ron nun auch begriff, was sie fürchtete. Ohne ihren Zauberstab und als Sklaven, die nicht mehr als Dreck waren, gab es keine Möglichkeit, sich gegen jegliche Art von irrer Fantasie zu schützen. Und ob der Ekel der Todesser vor Schlammblütern groß genug war, dass sie vor Vergewaltigungen zurückscheuten, das wagte sie zu bezweifeln. Hermine wusste nicht, ob sie in Anbetracht dieser Zukunft nicht doch den Tod vorgezogen hätte.
„Severus, mein treuer Diener", erscholl nun erneut Voldemorts Stimme, „komm an meine Seite. Du bist mein loyalster Untertan, auch wenn ich lange an dir gezweifelt habe. Deine Handlungen in den letzten Tagen haben bewiesen, dass du zu mir stehst und dafür sollst du belohnt werden. Du darfst dir als erster einen Sklaven aussuchen!"
Unbewegt trat Snape vor und stellte sich so, dass er möglichst alle Gefangenen sehen konnte. Ein Brechreiz machte sich in Hermine breit bei dem Gedanken, dass einer von ihnen diesem grausamen, verlogenen Mann in die Hände fallen würde. Hatte er vor, sich eine ehemalige Schülerin als Sklave zu nehmen und seine perversen Gedanken an ihr zu befriedigen? Das Zittern, das sie bereits zuvor verspürt hatte, wurde stärker.
„Habt Dank, mein Lord. Die Auswahl ist groß und ich gedenke, den Vorteil der ersten Wahl zu meinen Gunsten zu nutzen. Da ich Schlammblüter abstoßend finde, fällt meine Wahl auf eine reinblütige Hexe, deren Verstand so vernebelt ist, dass sie sich mit dem Feind verbündet hat. Ich glaube außerdem sagen zu können, dass besonders sie für den von uns gegangenen Potter sehr wichtig war, was meinem Spaß umso zuträglicher sein wird", sagte Snape. Obwohl seine Stimme Verachtung und Hohn ausdrückte, blieb sein Gesicht unberührt. Hermine hingegen zitterte stärker – waren diese Worte auf sie gemünzt? Oder meinte er etwa …?
„Ich wähle Ginny Weasley!"
„Nein!", tönte wieder die aufgebrachte Stimme von Ron durch den Saal, „du wirst es nicht wagen, deine dreckigen Finger an meine Schwester zu legen!"
„Nicht?", fragte der ehemalige Lehrer amüsiert, „und wer soll mich daran hindern – du, kleine Wiesel?"
Gelächter machte sich breit und sogar der Dunkle Lord zeigte ein offenes Grinsen. Die Worte seines liebsten Dieners gefielen ihm: „Sehr gut, Severus. Deine Wahl ist ebenso exzellent wie nachvollziehbar. Ginny Weasley soll dir gehören – viel Spaß!"
„Ginny … oh Gott", entfuhr es Hermine. Sie konnte Rons Gefühle verstehen – erst verlor er seinen besten Freund und nun musste er mit ansehen, wie seine jüngere Schwester, nackt und hilflos wie sie war, zu dem verhassten Lehrer und größten Verräter geschickt wurde. Ginny hingegen wirkte gefasst, doch Hermine erkannte sofort, was wirklich in ihr vorging: Sie hatte ihre große Liebe verloren. Egal, was ihr selbst noch zustoßen würde, nichts konnte für sie schmerzhafter sein als dieser Verlust. Zumindest hoffte Hermine, dass Snape keine Grausamkeiten kannte, die den Tod von Harry noch in den Schatten stellen würden.
„Und nun, Severus, sage mir, wer als nächster seine Wahl verkünden darf!"
Nur einen kurzen Augenblick überlegte der Zaubertränkemeister, dann hatte er sich entschieden: „Lucius Malfoy. Auch, wenn er nicht immer ehrenhaft gehandelt hat, so sollten wir ihm dafür danken, dass er immer wieder sein Anwesen für Versammlungen zur Verfügung stellt."
Lord Voldemort nickte sein Einverständnis und bedeutete dem älteren Malfoy vorzutreten: „Komm her, Lucius. Severus hat wahr gesprochen. Triff du nun deine Wahl – triff sie für deine ganze Familie, denn ich werde euch nicht mehr als einen Sklaven erlauben!"
Snape packte Ginny an den Haaren und zerrte sie zur Seite, damit Lucius Malfoy seinen Platz einnehmen konnte. Im Gegensatz zu Snape schien der blonde Zauberer unentschlossen, wen er als Sklaven halten sollte. Ratsuchend schaute er seinen Fürsprecher an, doch dieser hob nur eine Augenbraue und blickte streng zurück. Hermine wurde nicht schlau aus dieser Interaktion, doch offensichtlich hatte Lucius irgendeinen Hinweis aus dieser Geste gezogen, denn plötzlich schien er entschlossen.
„Zunächst möchte ich Euch danken, mein Lord. Ich weiß, dass ich Euch enttäuscht habe und umso größer ist meine Freude, dass Ihr mich nun derart bevorzugt behandelt", begann er seine Ansprache, „ich werde es meinem alten Freund Severus gleich tun. Meine Wahl fällt ebenfalls auf eine Schülerin, die Harry Potter nahe stand. Ich gehe sogar soweit zu sagen, dass wir ohne sie schon längst über Potter triumphiert hätten. Und so groß mein Ekel vor Schlammblütern auch ist – die Vorstellung, sie künftig Tag ein, Tag aus in meiner Gewalt zu haben, bereitet mir höchstes Vergnügen. Und ich bin sicher, auch mein Sohn Draco wird es zu schätzen wissen, diesem ewig nervenden Mädchen die ein oder andere Lektion zu erteilen. Meine Wahl fällt auf Hermine Granger!"
Sie hatte es gewusst. Schon mit den ersten Worten, die der alte Malfoy geäußert hatte, war ihr klar geworden, dass er sie wählen würde. Es war nur logisch – die zwei wichtigsten Menschen im Leben von Harry fielen in die linke und rechte Hand des Dunklen Lords. Hermine spürte, wie die fesselenden Bande sich von ihr lösten, doch sie wehrte sich dagegen, ohne Widerspruch in die Fänge von Lucius Malfoy zu geraten.
„Granger, komm her. Begrüße deinen neuen Herren!", befahl Lord Voldemort. Sie schüttelte den Kopf. Niemals würde sie Lucius Malfoy – oder seinen Sohn – als ihren Herren anerkennen. Sie holte tief Luft und drehte sich zu Ron um, der sprachlos und versteinert neben ihr stand.
„Ron", flüsterte sie, „gib niemals auf. Wir werden das hier irgendwie überstehen und wieder zusammen kommen!", sagte sie mit leiser, aber fester Stimme. Dann küsste sie ihn mit aller Leidenschaft, die sie aufbringen konnte. Es war der erste Kuss zwischen ihnen und Hermine fürchtete, dass es zugleich der letzte sein würde. Sie kostete jede Sekunde aus, die man sie nicht von Ron wegziehen würde, doch der Augenblick war viel zu kurz. Schon spürte sie ein Paar kräftiger Hände auf ihren Schultern und spürte, wie die kräftige Gestalt von des alten Malfoys sie mit sich zog.
Grimmig schaute sie bis zuletzt zu Ron zurück, der seinerseits den Blickkontakt zu ihr hielt. Seine Augen waren von Tränen verschleiert, aber darunter entdeckte Hermine neuen Mut und neue Entschlossenheit. Sie würden beide für das kämpfen, was Harry angefangen hatte, sie würden einen Weg finden, die Dunkelheit aus der Welt zu vertreiben. Auch, wenn sich ihre Wege vorerst trennten.
„Rührend, Schlammblut!", fuhr Lucius Malfoy sie an, „aber das wird dir nichts helfen. Glaub ja nicht, dass du den rothaarigen Trottel jemals wiedersehen wirst! Du gehörst jetzt mir – und ich freue mich sehr darauf! Du wirst deine Freunde niemals wieder sehen!"
Hermine konnte ein Zittern nicht unterdrücken, doch sie versuchte, sich nicht entmutigen zu lassen. Hoffnung bestand immer.
„Niemals sag niemals!", flüsterte sie entschlossen und blickte ihrem Sklavenhalter herausfordernd ins Gesicht. Seine Antwort bestand in einer Ohrfeige, die sie zu Boden fegte. Am Rande ihres Bewusstseins bekam Hermine noch mit, wie Voldemort nun einen Todesser nach dem anderen wählen ließ. Jeder versuchte, möglichst junge, weibliche Sklaven abzubekommen, doch die Aufmerksamkeit der jungen Hexe schwand und sie übergab sich nur zu gern der wohligen Schwärze der Bewusstlosigkeit.