„Unter den Zug!“
Bevor Joe Zeit zum Reagieren hatte, hatte Billy ihn bereits gepackt und zu Boden gerissen. Japsend schnappte der Schaffner nach Luft. Sein Brustkorb hob und senkte sich rasend von den Anstrengungen, die er seinem müden Körper zugemutet hatte.
Nina ignorierte Billys Befehl, stattdessen versuchte sie die Fahrgäste im Zug, zum Öffnen der Tür zu überreden. Doch diese starrten sie nur gebannt an.
„Aber sie-“, protestierte Joe. Er wollte nach dem Mädchen greifen. Keiner hatte es verdient zu sterben, vor allem nicht auf eine solche Art und Weise. Unweigerlich musste Joe an den zerfleischten Körper seines Kollegen denken und das Grauen dieser Bilder allein, animierte ihn dazu sich gegen Billy zu wehren.
Der Griff des Blonden war unnachgiebig, beinahe schmerzhaft, als er Joe mit sich unter den Zug zerrte. Er konnte sich nur um einen kümmern. Und seine Wahl war auf Joe gefallen.
„Wir können nichts tun, Joe. Sei vernünftig.“
„Kletter unter den Zug“, schrie Joe dem Mädchen zu, das immer noch mit den Fäusten gegen die Scheiben donnerte.
„Sie werden sie tö-“, rief Joe entsetzt. Er konnte den Satz nicht zu Ende bringen. Ihm blieb die Luft weg, da ihn plötzlich Billys Körpergewicht niederdrückte. Rasselnd schnappte er nach Atem, wollte etwas erwidern, doch der Blonde legte ihm eine Hand auf den Mund. Eisern pressten sich dessen Finger in Joes Wangen, während Billy den Zeigefinger auf seine eigenen Lippen legte, um Joe zu suggerieren, dass er still sein sollte.
„Shhh“, schnell schüttelte der Blonde den Kopf und sie waren sich so nah, dass Joe die Vibration in seinem eigenen Oberkörper spürte.
Nicht nur ein Monster, sondern gleich mehrere, steuerten auf ihre lebende Beute zu, die einen fürchterlichen Lärm machte. Unheilvoll berührten die Schatten ihrer absurden Körper Billy und Joe unter dem Zug.
Trotz des niedrigen Spalts konnte Joe deutlich erkennen, wie Ninas Körper zu Boden geschleudert wurde. Er sah, wie sie niedergerissen wurde, als sie sich in einem kläglichen Versuch, wieder aufzurichten versuchte. Ihre Gliedmaßen in einem merkwürdigen Winkel von sich gestreckt. Schwarze Klauen durchbohrten ihre Haut. Ihren Oberkörper. Die Beine. Schreckensgeweitete Augen traten grotesk aus ihren Höhlen hervor. Sie sahen aus, als würden sie jeden Moment platzen. Dankbar für die Dunkelheit, war Joe froh nicht jedes Detail erkennen zu können.
Ihr Blut spritzte in alle Richtungen, während sie schrie. Joe streckte eine Hand nach ihrem zerfleischten Körper aus, letzte Zuckungen jagten durch ihre Nervenbahnen. Ihr Mund öffnete und schloss sich wie bei einem Fisch, um Hilfe flehend.
Sofort griff Billy nach seiner Hand, schob sie zwischen ihre beiden Köper und klemmte sie dort ein, sodass Joe sich nicht mehr rühren konnte. Tief blickte er ihm in die Augen. Das Blau darin schien sich verfinstert zu haben. Es wirkte beinahe bedrohlich.
Billys andere Hand, die nicht seinen Mund verschloss, vergrub sich in Joes Haaren. Er schloss den anderen fester in seine Arme. Joe spürte, wie heißer Atem seine Halsbeuge streichelte, als er unter dem anderen Körper versank. Glücklicherweise konnte er seinen Kopf nicht mehr zur Seite drehen, wofür Joe Billy dankbar war. Er war sich sicher die Augen von dem brutalen Massaker nicht abwenden zu können.
Steine bohrten sich in sein Rückgrat. Und die unbequeme Unterlage hätte Joe sicherlich gestört, wenn Ninas frisches, noch warmes Blut, das sich erneut durch seinen Anzug fraß, nicht seine ganze Aufmerksamkeit eingenommen hätte.
Unkontrolliert schoss ihm sein eigenes Blut durch die Venen, pumpte es unregelmäßig aus seinem Herzen und ließ Joes Körper in spastischen Bewegungen Zucken, die allein Billys Körper auf ihm unterdrückte.
Mit Ninas letztem Atemzug, der in einem gequetschten spitzen Schrei endete, blieb auch Joes Herz stehen. Entsetzliches Grauen erfasste ihn, seine Augen weiteten sich und er spürte, wie er selbst in Billys Hand schrie. Dessen Griff wurde etwas fester. Joe sah, wie er die Zähne zusammenbiss, doch er konnte nichts gegen die Panik in seinem Körper tun.
Geräusche drangen zu ihnen herüber, die Joe lieber nicht gehört hätte. Er hörte die Monster fressen, wie sie das Fleisch auseinander rissen, das zwischen ihren Zähnen knirschte. Knurrend stritten sie um das beste Stück. Es waren grausame Bestien, ohne Verstand, von purem Instinkt - dem Hunger - geleitet.
Eine Ewigkeit schien zu vergehen, während sie sich an dem toten Körper labten. Wieder blieb sein Herz eine geraume Zeit stehen, als die Wesen in die Luft zu schnüffeln begannen. Es war nicht genug. Sie lechzten nach mehr. Joe schloss die Augen, keuchte und klammerte sich mit einer Hand an Billys Schultern, um sich zu vergewissern, dass er nicht alleine war.
Dann waren sie plötzlich verschwunden. Keine Geräusche, keine Schatten, die unter dem Zug über die Gleisen tanzten. Sie waren fort. Trotz allem rührte sich keiner der beiden Männer.
„Gleich klettern wir raus und rennen zum Zuganfang. So schnell du kannst“, flüsterte Billy ihm ins Ohr. Sein heißer Atem ließ Joe erschaudern. Noch immer lag dessen Hand auf seinen Mund. Das Atmen fiel Joe sichtlich schwerer. Trotzdem nickte er.
„Durch die zerbrochene Scheibe gelangen wir wieder in den Zug.“
Noch ein Nicken.
Danach ging alles sehr schnell. Billy kletterte zuerst unter dem Zug hervor, dann packte er Joes erschlafften Körper und zog ihn mit einer Kraft, die dieser ihm nicht zugetraut hätte, zu sich.
Schwach vom Schock knickten Joes Beine einfach weg, sodass Billy ihn stützen musste.
„Los! Los! Los! Lauf, Joe!“, spornte ihn der Blonde an, zog ihn hinter sich her, stellte ihn auf die Beine und schob ihn mit der Hand im Rücken vorwärts. „Sie kommen zurück. Beeil dich!“
Die Angst verlieh Joe ungeahnte Kraftreserven. Er rannte. Wie ein Verrückter.
Dumpfes, knackendes Geäst und Billys schwerer Atem, der unmenschlich laut ging, verfolgten Joe unheilvoll. Sie waren zu nah. Es war zu spät.
Plötzlich wurden die Geräusche leiser. Billys gehetzte Schritte verklangen. Doch Joe rannte noch ein ganzes Stück weiter, bis er die Veränderung bemerkte. Bis er merkte, dass etwas nicht in Ordnung war.
Als er sich umdrehte, sah er, wie sich eines der Ungeheuer in Billys Schulter verbiss. Der Blonde hatte die Zähne zusammengebissen. Er schrie nicht. Dann sprang ein weiteres Monster vor und verdeckte die Sicht auf Billy.
Mitten im Laufen bremste Joe ab, sodass es ihn fast von den Füßen riss. Unkontrolliert strauchelte er, stützte mit einer Hand den Fall ab und rappelte sich mühsam wieder auf. Er merkte nicht, dass er sich die Innenfläche und ein Knie aufgeschlürft hatte. Obwohl er nichts da hatte - kein rettender Ast an den Gleisen - war er wild entschlossen mit Händen und Füßen zu kämpfen, wenn es sein musste.
Billy wehrte sich. Unmenschliche Stärke schien ihm sein Körper im Anblick des Todes zu verleihen. Joe wollte zu ihm rennen, doch ein drittes Biest versperrte ihm den Weg. In einem gezielten Sprung war es vom Zugdach direkt vor Joes Füße gesprungen. Blut und Speichel tropfte aus dem grausigen Spalt, der vielleicht ein Maul sein sollte.
Dieses Wesen war größer, muskulöser und furchteinflößender als alle anderen. Der Anführer, schoss es Joe durch den Kopf.
Blitzschnell holte es mit seiner Klauen besetzten Hand aus und traf Joe hart und schmerzhaft an der Schulter, sodass das Gelenk knackte. Der Schlag riss ihn einige Meter weit nach hinten. Dumpf landete er mit dem Gesicht in dem feuchten Kies, der die Schienen umgab.
Benommen lag Joe da. Er keuchte. Atmen konnte er schon lange nicht mehr. Der Schatten über ihm wuchs immens. Bevor es nach ihm greifen konnte, rollte Joe sich geistesgegenwärtig unter den Zug. Dann robbte er weiter. Das Vieh folgte ihm, versuchte aber vorerst nicht nach ihm zu greifen.
Was sollte er tun, wenn er das Ende des Zuges erreicht hatte? Was wenn es mit seinen Reißzähnen dort auf ihn wartete? Was war mit Billy? War er tot? Auch ein zerfleischter Klumpen Mensch, um dessen Tod sich niemand scherte?
In jenem Augenblick ertönte ein schreckliches Geheul. Es drang durch Mark und Bein, erschütterte die Erde und ließ die Steine unter Joes Händen deutlich beben. Joe erschauderte. So etwas hatte er noch nie in seinem Leben gehört.
Ein Blick nach hinten zeigte ihm, dass sein Verfolger zurückgeblieben war. Kampfgeräusche drangen durch die Dunkelheit. Laut, kreischend und brutal. Lange dauerten sie an. Zerrissen den Frieden der Natur und scheuchten alle Lebewesen auf. Glas splitterte. Die Knurrgeräusche veränderten sich. Panische Schreie und winselndes Jaulen wich der Aggressivität. Dann war es still.
Die Ruhe währte nicht lange. Joe hörte Adrian. Die Frauen und Matthew. Schrill und hoch schallten ihre Schreie durch den Wald, der es in einem unheimlichen Echo wieder zurückwarf. Joe presste sich die Hände auf die Ohren. Er war zu erschöpft, um weiter zu klettern, zu erschöpft, um zurückzurennen - irgendjemandem zu helfen. Er fühlte sich absolut machtlos. Zerbrechlich. Dann waren die Geräusche verebbt und die Wesen scheinbar verschwunden.
Still wartete er auf den Tod. Eine heiße Träne sammelte sich in seinem Augenwinkel und selbst um sich dafür zu schämen, fehlte Joe die Kraft. Die Zeit schien stehen zu bleiben, denn es rührte sich nichts. Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an. Dunkle, schwere Schritte durchbrachen die Stille.
Etwas packte Joe am Knöchel und zog ihn mit enormer Kraft unter dem Zug hervor. Panisch versuchte er sich in einem letzten Aufbäumen an den Schienen festzuhalten, doch entglitten sie seinen verschwitzten Fingern.
Jeglicher Widerstand war zwecklos.
Sobald der Mond seine Haut berührte, ihn in milchiges Weiß tauchte, drehte Joe sich auf den Rücken und warf die Hände schützend vor sein Gesicht. Was auch immer die anderen getötet hatte, würde sich auch ihn holen.
In seinem letzten Atemzug schrie Joe auf, als ihn etwas an den Handgelenken packte.