…In your eyes I see the light and the heat
In your eyes- Oh, I want to be that complete
I want to touch the light
The heat I see in your eyes…
[Peter Gabriel- In Your Eyes]
[link href="https://www.youtube.com/watch?v=B3kFPBtc9BE"]https://www.youtube.com/watch?v=B3kFPBtc9BE[/link]
Er sitzt mir gegenüber und hat die Augen geschlossen. Die Straßenbahn hält erneut. Personen steigen aus, Andere zu. Tyler hat einen Stöpsel seiner Kopfhörer im linken Ohr. Ich beobachte ihn dabei, wie seine Hand unmerklich im Takt mitwippt und in meinem Kopf bildet sich automatisch eine Melodie zu dem Rhythmus.
Ich registriere aus den Augenwinkeln, wie sich uns eine junge Frau nähert. Sie trägt das blonde Haar locker hochgesteckt. Ihre blauen Augen streifen mich im Vorbeigehen. Ich weiß, was sich in ihrem Kopf ganz automatisch abspielt. Sie scannt mich. Das tun sie alle. Jeder macht es. Ob verstohlen oder offensichtlich. Menschen scannen andere Menschen um sie besser einschätzen zu können. Der erste Eindruck zählt.
„Was machst du so, Will?“, höre ich Tyler fragen. Augenblicklich ruht meine gesamte Aufmerksamkeit auf ihm. Ich beobachte ihn dabei, wie er die Augen öffnet und mich ansieht. „Ich sitze mit dir in der Straßenbahn.“, antworte ich, obwohl ich genau weiß, dass er darauf nicht angespielt hat. Ich höre ihn leise auflachen. „Nein. Ich meine, was machst du sonst so, außer in Ohnmacht zu fallen. Es musst doch etwas geben, das du gerne machst.“ Ich zucke mit den Schultern. „Ich weiß nicht…nichts Besonderes vermutlich.“, sage ich. Der Anflug eines Lächelns huscht über sein Gesicht. „Wieso sollte etwas, das dir Freude bereitet, nichts Besonderes sein?“
Ich suche in seinen Augen nach einem Hintertürchen. Nach irgendetwas, das mit verrät, dass es ihn überhaupt nicht interessiert, was ich gerne tue. Ich suche nach etwas, das meinen Verdacht bestätigt, dass er aus purer Höflichkeit nachfragt. Aber da ist nichts. Seine Augen sind wie ein See ohne Ufer. Ein Meer ohne Grund.
„Malen?“, versuche ich es daher halbherzig. Das klingt nicht nach einer Antwort. Eher wie eine Frage. Meine Handflächen beginnen zu schwitzen. Ich fühle mich furchtbar unsicher und ausgeliefert unter Tylers Blicken. Als könne er durch mich hindurchblicken wie durch Glas. Tyler legt den Kopf leicht schief. Das Lächeln bleibt. „Und was malst du so, Will?“ Ich bemerke, dass sich die Art, wie er meinen Namen ausspricht, angenehm vertraut anfühlt. Und es fällt mir auf, dass er ihn öfter benutzt, als man Namen des Gesprächspartners normalerweise in die Unterhaltung einfließen lässt.
Ich schüttle den Kopf. „Nichts Besonderes. Jedenfalls nichts, was es wert wäre von jemand anderem als mir gesehen zu werden.“ Er lacht schon wieder sein leises Lachen. Es klingt ein wenig rau. So, als hätte er zu lange in der Kälte gestanden. „Und was macht dich da so sicher?“ Etwas perplex starre ich ihn an. Er beugt sich leicht zu mir nach vorne, um leiser sprechen zu können und seine Stimme zu schonen. „Die Dinge, die ich male, male ich so, wie ich sie sehe.“, sage ich leise. „Das ist keine fantastische Aneinanderreihung von wunderschönen Farben.“ Ich vergrabe meine Hände in den Taschen meines Parkers. Ich will nicht, dass er bemerkt, dass meine Handflächen vor innerer Angespanntheit und Nervosität feucht sind. Was, verdammt nochmal, ist denn bloß los mit dir, Will?!!
„Kann ich dich etwas fragen?“ Er nickt. „Wieso hast du dich um mich gekümmert, als ich zusammengebrochen bin?“ Die Straßenbahn hält erneut. Leute steigen ein. Leute steigen aus. „Wieso hast du mich beobachtet?“ Ich spüre wie sich mein Herzschlag ob seiner Gegenfrage beschleunigt und mein Puls in die Höhe schießt. Ich fühle mich ertappt. Obwohl ich doch eigentlich schon weiß, dass er mich beim Starren erwischt hat. „Manche Dinge passieren einfach, Will.“, vernehme ich seine raue Stimme. Mein Kopf fühlt sich auf einmal merkwürdig schwer an. Ich bin müde. Ich fahre mir mit der Hand über das Gesicht.
Tyler steht auf und lässt sich kurzerhand auf den freien Platz neben mir fallen. Es dauert eine Weile, bis ich das registriert habe. So lange, bis ich seinen warmen Körper neben mir spüre. Die Müdigkeit lässt meine Augenlider schwer werden. Die Ampel schaltet von Orange auf Rot. Wir stehen schon wieder im Stau. Aber dieses Mal, starre ich ihn nicht quer durch die Straßenbahn an, wie den ersten Menschen auf Erden. Diesmal sitzt er neben mir. Welch Ironie! Als er sich zu mir herüberbeugt bin ich einen Augenblick lang wie erstarrt. Dann spüre ich seine warmen Finger an meinen Ohren und plötzlich erfüllt Musik meinen ganzen Kopf.
„I am standing up at the water’s edge in my dream
I cannot make a single sound as you scream
It can’t be that cold, the ground is still warm to touch“, singt Peter Gabriel. Der Lärm der Straßenbahn und der sich unterhaltenden Leute tritt in den Hintergrund. Ich drehe mein Gesicht in Tylers Richtung. Mein Blick trifft direkt auf den Seinigen und den Bruchteil einer Sekunde, der mir so lange vorkommt, wie ein gesamtes Erdzeitalter, halte ich vor Staunen die Luft an. Tylers Augen leuchten im Neonlicht der Straßenbahn in einem angenehm warmen Braun. Die vereinzelten goldenen Sprenkel um die Iris machen seinen Blick einzigartig. Es gibt nichts Vergleichbares.
„Nächste Haltestelle Rose Clampton Street.“, tönt es monoton aus der automatischen Sprechanlage. Ich sehe hoch. Das Lied ist zu Ende. „Ich muss raus.“, sage ich, während ich ihm die Kopfhörer zurückgebe. Er lächelt. „Schaffst du es bis nach Hause?“, fragt er. Ich nicke. „Ich bin ein wenig müde, aber ich denke schon.“ Das war’s dann. Ich werde mich verabschieden und aussteigen. Die Türen der Straßenbahn werden sich hinter mir schließen, wie hinter jedem anderen Passanten. Ich werde Tyler nie wieder sehen.
Und ein Teil von mir sagt, dass es so wie mit jeder anderen flüchtigen Bekanntschaft sein wird. Wie mit jedem anderen Passanten, neben dem man zehn Minuten an der Bushaltestelle sitzt, sich unterhält und später nie wieder sehen wird. Und dieser Teil in mir sagt, dass die Dinge ihren Lauf nehmen und das so in Ordnung ist.
Der andere Teil zieht sich schmerzhaft zusammen. Weil mir Tyler sympathisch ist. Weil er etwas an sich hat, das in mir den Wunsch erweckt, mehr über ihn erfahren zu wollen.
Die Straßenbahn verlangsamt sich. Ich sehe das Schild der Haltestelle näher kommen. Die weißen Buchstaben leuchten im Licht der Straßenbeleuchtung. Ich stehe auf. Meine Beine fühlen sich nicht mehr ganz so taub an wie zuvor. Ich schwanke ein wenig, aber das liegt daran, dass das Fahrzeug noch nicht vollends zum Stehen gekommen ist. „Danke.“, sage ich leise und hoffe, dass er mich trotzdem verstanden hat. Das Lächeln ist verschwunden. Ich registriere wie sich seine Lippen teilen, als wolle er etwas sagen. Die Straßenbahn hält. Er schließt den Mund wieder. „Na dann…“, sage ich und verspüre gleichzeitig das Verlangen danach, mich einfach wieder hinzusetzen und weiterzufahren. Ich drehe mich um und quetsche mich zwischen zwei alten Damen durch, die den Weg blockieren. Der Geruch ihres penetranten Parfüms steigt in meine Nase und bleibt dort haften, wie Rauch an Kleidung. Ich drücke auf den roten Knopf, die Türen schwingen auf. "Will…“ Mein Herz macht einen Satz, als ich meinen Namen vernehme. Ich stehe bereits auf dem Bürgersteig. Die Türen der Straßenbahn schließen. Ich sehe, wie sich seine Lippen bewegen und Worte formen: „Manche Dinge passieren einfach.“ Der Fahrer tritt aufs Gas. Ein seltsames Gefühl des Abschiedes macht sich in mir breit. Ich werde Tyler nie wieder sehen.