Marc hat gestern Abend nicht gefragt warum ich erst so spät nachhause kam. Und auch heute Morgen saß er wieder an seinem Schreibtisch, wie immer. Eine Tasse Kaffee, die Zeitung, sein Laptop vor ihm und seine Brille auf der Nase. Er ist nicht sonderlich gesprächig, aber in letzter Zeit hört er mir nicht einmal mehr zu.
„Marc, ich werde heute noch später nachhause kommen als Gestern. Ich muss an den Entwürfen weiterarbeiten. Ist das okay für dich?“
„Mhm“, antwortete er während er den Kopf in den Laptop steckt. Er sieht mich nicht an und bekam auch bestimmt kein Wort davon was ich sagte. Probieren wir es mal so;
„Marc ich habe mit deinem Bruder geschlafen...“
„Mhm“
Wow. Toll.
Enttäuscht schüttelte ich den Kopf und verließ unsere Wohnung. Verabschieden wollte ich mich nicht, er hätte es wahrscheinlich sowieso nicht mitbekommen. Immer wieder versuchte ich mich daran zu erinnern warum ich Marc so liebte... In letzter Zeit fielen mir nur leider immer weniger Gründe ein. Ich sagte mir immer wieder, dass das nur so eine Phase war und glaubte an unsere Liebe. Hoffentlich würde ich damit Recht behalten.
Als ich im Studio ankam beriet Ally gerade eine junge Frau die sich an der Stange ein paar Outfits ansah. John saß hinten im Büro an seinem Schreibtisch und zeichnete. Das Studio war nicht groß, aber dafür sehr gut aufgeteilt. Wenn man hineinkam befand man sich quasi direkt im Showroom, durch einen großen Türbogen gelang man zu den Kabinen, wo auch eine große Samtcouch stand. Links von den Garderoben befanden sich einige weitere Räume. Zwei Schneiderräume und ein Büro, wo jeder seinen Schreibtisch hatte. Es gab noch ein weiteres Büro, welches Mary gehörte. Nun war es wahrscheinlich Benjamin’s.
Als die Kundin ging erzählte ich Ally von meinem „Gespräch“ mit Marc. Sie lachte nur und meinte zum tausendsten Mal, ich verdiene etwas besseres. Vielleicht hatte sie ja Recht, doch ich liebte ihn wirklich. Seine Abwesenheit beschäftigte mich sehr und ich beschloss mich an die Arbeit zu machen. Und siehe da es lief wie am Schnürchen.
Ab und zu kamen Ally und John und wir tauschten gegenseitig Ideen aus. Ich liebte die beiden, es war ein miteinander, kein gegeneinander arbeiten. John präsentierte und die neue Sommerkollektion in Pastell-Tönen, Ally zeigte uns die Entwürfe der Herbstkollektion in Erdfarben. Auch ich ließ einen Blick auf meine Entwürfe zu und beide waren begeistert, vor allem von meinem „Masterpiece“ wie ich es nannte.
Es sollte ein Seidenkleid in royalblau werden, mit viel Spitze und Stickereien natürlich.
Auf dem Papier sah es umwerfend aus, ich hoffte ich konnte es auch in die Tat umsetzen.
Die Arbeit lief wirklich gut und ich bekam das Gefühl mal wieder Spaß im Studio zu haben, seitdem Mary nicht mehr bei uns war.
Benjamin kam am späten Nachmittag vorbei und ließ sich auf dem Laufenden halten. Wie auch Gestern war er zuerst bei Ally und danach bei John. Auf mich achtete er heute kaum. Ich wusste nicht ob ich das wollte oder nicht, einerseits konnte ich ohnehin kaum einen klaren Gedanken fassen wenn er in meiner Nähe war. Andererseits wollte ich, dass er in meiner Nähe war. Keine Ahnung warum, aber seit er sich im Studio aufhielt, hielt ich immer Ausschau nach ihm und kam mir dabei ziemlich lächerlich vor.
Die Zeit verstrich und John verabschiedete sich, kurz nach ihm ging auch Ally und wies mich zwinkernd daraufhin, dass Benjamin noch hier war. Ich verdrehte nur die Augen und hoffte er würde in seinem Büro bleiben.
Die Hoffnung hielt jedoch nicht lange an.
Als ich gerade dabei war einige Kostüme zu zeichnen kam Benjamin in unser Büro und stellte sich hinter mich um die Entwürfe zu betrachten.
„Haben sie die Farbauswahl der Stücke durchdacht?“
Was sollte diese beschissene Frage?
„Natürlich habe ich das, was denken Sie denn?“, schnauzte ich ihn an.
Vielleicht war das ein wenig zu harsch, aber was glaubte der Typ wer er war.
„Na na, ganz ruhig. Das war bloß eine Frage“, gab er belustigt zurück.
„Was wollen sie eigentlich? Sie kommen hier her und verstehen nichts von dem was wir hier tun. Spielen sie sich nicht auf, immerhin haben sie mir am ersten Tag noch gesagt, wir sollen sie nicht als ihr neuer Boss ansehen“, keifte ich ihn erneut an.
Sofort schämte ich mich für meine Worte. Natürlich war er hier weil er das Unternehmen seiner verstorbenen Mutter retten wollte. Was war nur los mit mir?
„Da hast du Recht, vielleicht gilt das für Ally und John nicht. Aber ich bin DEIN neuer Boss, ob du das willst oder nicht“, entgegnete er ebenfalls leicht gereizt.
Was sollte das denn schon wieder? Warum nur mein Boss? Und seit wann duzten wir uns eigentlich?
Ich schnaubte verächtlich und versuchte ihn zu ignorieren, was mir natürlich nicht gelang.
„Weißt du was dein Problem ist?“, provozierte er mich weiter.
Ich verdrehte die Augen und wartete auf seine Erklärung.
„Du stehst auf mich“, sagte er nun so selbstsicher und grinsend, dass mir schlecht wurde.
„Sie spinnen, ganz ehrlich. Ich führe eine glückliche Beziehung und sie sind mein Boss. Im Übrigen stören sie meine Arbeit, also wenn ich sie bitten darf!“
Ich versuchte ruhig zu bleiben und forderte ihn auf zu gehen, doch sein Grinsen wurde nur noch breiter.
„Beweis es mir, Emily“
„Ich muss gar nichts beweisen. Gehen Sie jetzt“, schrie ich ihn sauer an.
Doch dann kam er immer näher auf mich zu. Er begann die obersten Knöpfe seines Hemdes zu öffnen. Langsam ließ er seine Finger über den Saum streifen, während es sich immer weiter öffnete. Mit großen Augen starrte ich auf den kleinen Fleck, welcher bereits seine Brust zeigte. Der Typ spinnt wirklich!
„Hören Sie damit auf“
Meine Stimme war kaum hörbar, zittrig und unsicher. Und um ehrlich zu sein wusste ich nicht einmal ob ich wirklich wollte, dass er aufhörte. Seine Finger befanden sich nun schon bei den untersten Knöpfen und ich konnte nicht anders als seine nackte Brust anzustarren. Ich traute mich nicht ihm in die Augen zu sehen. Als sein Hemd komplett aufgeknöpft war und er nur noch wenige Zentimeter vor mir stand beugte er sich zu mir und flüsterte mir ins Ohr.
„Küss mich und zeig mir, dass es dir nichts bedeutet“
Seine Stimme war so weich, er sprach so leise als würde uns jemand belauschen.
Ich ließ mich mit Sicherheit nicht von ihm um den Finger wickeln und schon gar nicht so provozieren.
„Ich bin kein kleines Flittchen, dass sie sofort um Ihren Finger wickeln können. Falls sie glauben ich würde mich als Angestellte auf eine Affäre mit meinem Boss einlassen, dann haben sie sich geschnitten“, spuckte ich ihm förmlich ins Gesicht, so wütend war ich.
Ich war gerade dabei an ihm vorbei zu gehen, als er mich am Arm festhielt. Fest genug um nicht entkommen zu können, aber sanft genug um keine Schmerzen zu verursachen.
„Wer sagt denn, dass ich das will? Du bist mir sofort aufgefallen. Ich weiß es gab keinen unpassenderen Moment als das Begräbnis meiner Mutter, aber als ich deine Augen sah... Keine Ahnung“
Plötzlich klang seine Stimme nicht mehr so selbstsicher und seine Augen strahlten nicht mehr so.
Sagte er das gerade wirklich?
Mir wurde warm ums Herz, am liebsten hätte ich mich in diesem Moment selbst geschlagen, doch er hatte recht. Vielleicht stand ich wirklich ein wenig auf ihn. Doch ich war klug genug zu wissen, dass das nicht ging. Ich hatte Marc und ich würde unsere Beziehung niemals gefährden. Plötzlich flackerte etwas in seinen Augen auf, etwas das ich nicht deuten konnte. Ihm wurde anscheinend bewusst wie lächerlich er sich gerade verhielt, denn plötzlich knöpfte er sein Hemd wieder zu und machte Anstalten zu gehen.
„Ehm.. Tut mir leid. Ich weiß nicht was in mich gefahren ist. Vergessen Sie diesen Auftritt am Besten. Es tut mir wirklich leid...“, sagte er nervös und fuhr sich durch seine hellbraunen Haare. Seine Stirn lag in Falten, als könne er wirklich kaum glauben was er gerade tat.
„Wissen Sie was ihr Problem ist, Mr. Darwin?“, sagte ich lächelnd.
„Hm?“
„Sie stehen auf mich“, antwortete ich selbstgefällig und diesmal zwinkerte ich ihm zu, nahm meine Tasche und verließ das Studio.