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Das Telefon klingelt, die Kinder toben und meine Nerven vibrieren.
Eine alte Freundin ist am anderen Ende der Leitung. „Tag, ich habe gehört, dass du geschieden bist“, sagt sie mit einem erbärmlichen Schluchzen in der Stimme. „Wie geht es dir? Was machen die Kinder? Die armen Würmer tun mir leid.“
„Meinen Kindern geht es gut“. Ihr Vater war selten zu Hause, sie vermissen ihn nicht. “
„Weißt du, welche Schäden das verursachen kann? Daran haben sie noch als Erwachsene zu kauen, glaub mir das!“ „Was hätte ich tun sollen? Weitermachen wie bisher, und dabei unsere Nerven ruinieren? Das hätte den Kindern mehr geschadet, “ verteidige ich mich.
Meine Freundin ist nicht verheiratet, sie hat keine Kinder. Aber unlängst hat sie ein Buch über seelische Schäden in der frühkindlichen Vorpubertätsphase gelesen, oder etwas in der Art.
„Ich hoffe, deine Kinder sind nicht eingeschüchtert und sitzen still und brav in einer Ecke. Wenn ja, hol sie da raus!“ „Nein, sie sitzen nicht still und brav in einer Ecke“.
Mein Sohn rast an mir vorbei. „Tatü tata!“ schreit er in voller Lautstärke. Er ist ein Polizeiauto. Meine Tochter rennt mit dem Arztkoffer hinterher. Sie ist ein Krankenwagen. Beide sind im Einsatz. Unfall auf der Autobahn. Langsam wickelt sich das Telefonkabel um meinen Fuß. Nebenher versuche ich verzweifelt den Kartoffelbrei von vorgestern von der Wand zu kratzen. „Lass sie langsam wieder auf dich zukommen, sie brauchen deine Liebe. Umhülle sie mit Geborgenheit.“ Säuselt meine Freundin.
„Tatü tata“, ruft mein Sohn. Er kommt bei seinem wichtigen Einsatz wieder an mir vorbei, nimmt die Kurve zu knapp und tritt mir auf den Fuß. „Au verdammt, pass auf!“ schreie ich.
„Aggressiv darfst du nicht werden“, tönt es durch den Telefonhörer.
Nein, ich werde nicht aggressiv. Mein linker Fuß ist vollkommen eingewickelt im Telefonkabel. Mein rechter großer Zeh ist blau. Dennoch werde ich nicht aggressiv.
„Essen sie auch genug?“ will sie dann wissen. „Ja, meine Tochter hat heute Mittag zwei Schnitzel ein viertel Pfund Nudeln und eine halbe Salatgurke vernichtet“, versuche ich sie zu beruhigen.
„Liebesersatz!“ kreischt meine Pädagogen Freundin entsetzt. Stopf die Kinder nicht voll … hörst du! Küsse sie, nimm sie in die Arme!“
„Ich nehme die Kinder gerne in die Arme. Aber heute nur, wenn sie sich gewaschen haben. Würdest du ein Kind umarmen, dessen Gesicht von den Ohren bis zum Kinn mit Ketchup beschmiert ist? Sie spielen Verletzte, verstehst du?“
„Wenn die Kinder Verletzte spielen, ist das kein gutes Zeichen, vielleicht sind sie innerlich verletzt“, lamentiert sie weiter, und leiert weiterhin gelesene, aber nie erlebte Theorien herunter.
Sie versteht nicht. Das Einzige, was sie zu verstehen scheint, ist ihr neues Buch, und auch daran beginne ich allmählich, heftig zu zweifeln. „Ich muss kochen und Wäsche waschen, außerdem muss ich die Socken meines Sohnes stopfen, die hat er zerrissen, als er in der Mülltonne Verstecken spielte. Vielleicht können wir unser Gespräch später fortsetzen“, sage ich in der Hoffnung, diese Frau endlich los zu werden.
Das Schicksal will es nicht. „Ich komme heute Abend und bringe das Buch mit, dann können wir in Ruhe darüber reden“, sagt meine Freundin. „Na gut“, antworte ich höflich und beschließe, heute Abend sofort nach den Kindern ins Bett zu gehen, die Ohren mit Watte vollzustopfen, und die Ankunft meiner Freundin zu überhören.
„Noch etwas: Lass dir von deinen Kindern nicht auf der Nase herumtanzen, zeig ihnen deine Autorität.“
„Nein, ich lasse mir nicht auf der Nase rumtanzen“, beruhige ich sie. Mein Zeh ist in der Zwischenzeit angeschwollen und die Verletzten ziehen zwei Meter neu erworbene Mullbinden hinter sich her, um sich gegenseitig zu verbinden.
„Ich komme gern heute Abend, es ist schön, wenn man für seinen Nächsten etwas tun kann“, behauptet meine Freundin.
„Wenn du mir einen Gefallen tun willst, dann bring mir eine Salbe gegen Schwellungen und eine gute Schere mit, damit ich das Telefonkabel von meinem Fuß abschneiden kann“, sage ich und lege den Hörer auf, ohne eine Antwort abzuwarten.
Dann mache ich mich daran, Watte für meine Ohren zu suchen. Vielleicht stelle ich nachher noch die Klingel ab.
PS: Gut, dass es heute schnurlose Telefone gibt. Schlecht, dass es heute Handys mit SMS gibt.