Ari saß müde am Küchentisch, blätterte durch ihre Notizen vom Virologie Seminar und nippte an ihrem Kaffee. Ihre Mutter kam im Bademantel und einem Handtuch um den Kopf gewickelt herein und goss sich einen Kaffee ein.
„Guten Morgen, Häschen“, trällerte Conny putzmunter. „Morgen“, nuschelte Ari ohne aufzusehen. Conny setzte sich ihr gegenüber an den Tisch und schlug eine Tageszeitung auf. „Na, ist es mal wieder spät geworden gestern?“, fragte sie, während sie die Zeitung nach dem Kreuzworträtsel durchblätterte. „Hm“, bejahte Ari einsilbig. „Hör mal Maus, Katrin hat mich gebeten dich zu fragen, ob du rausfinden kannst, was es bräuchte, damit Thomas sein geschmissenes Studium wiederaufnehmen könnte. Du weißt schon, so, dass er nicht wieder bei null anfängt.“ Interessiert sah Ari auf. „Du meinst, dass ihm seine bisher erbrachten Leistungen und belegten Kurse anerkannt werden?“ „Genau.“
Ari überlegte kurz. Sie war sich sicher, dass das möglich sein sollte. Jedoch beschäftigte sie da noch ein ganz anderes Problem. „Ich will nicht unsensibel sein“, begann sie vorsichtig, weil sie nicht wusste, wie genau ihre Mutter Toms und Katrins Situation kannte, „aber gäbe es da nicht auch finanzielle Hürden?“ Conny runzelte nachdenklich die Stirn. Ihre Miene wurde zusehends bedrückter. „Ja. Auch mit seiner Vollwaisenrente und Bafög könnte es eng werden.“
Ari schluckte. Es erschreckte sie, wie selbstverständlich ihre Mutter vom baldigen Tod ihrer Freundin sprach. Sie hatte sich zwar von Conny stets auf dem Laufenden halten lassen, und wusste, dass Katrin immer schwächer wurde, doch sie hatte keine Vorstellung, wie lange, oder auch wie schnell dieser Krebs einen Menschen dahinraffen konnte. Auch von Tom hatte sie seit Wochen nur erfahren, was ihre Mutter ihr zwischen Tür und Angel erzählte. Doch diese Infos beschränkten sich hauptsächlich darauf, dass Tom seit jener Nacht vor mittlerweile mehr drei Wochen, in der sie Tom zum Krankenhaus gebracht hatte, jeden Tag bei seiner Mutter gewesen war und ihr Essen mitgenommen hatte. Dr. Schnabel hatte ihn außerdem bei einigen dieser Gelegenheiten noch mal unter die Lupe genommen und seine Verletzungen überprüft.
Vollwaise hatte ihre Mutter beiläufig erwähnt. Also war sein Vater auch verstorben. Ari hatte sich schon öfter gefragt, was mit seinem Vater war oder ob es ihn überhaupt gab. Doch wem hätte sie diese Frage stellen sollen, ohne unsensibel oder zu neugierig zu wirken. Sie war bis zu diesem Moment tatsächlich nie auf die Idee gekommen, dass ihre eigene Mutter es sicher wusste und ihr sagen würde.
„Was ist mit seinem Vater passiert“, wollte sie nun doch wissen, da sich zum ersten Mal die Gelegenheit bot. „Andrej ist abgehauen. Einige Woche vor Toms Geburt.“ „Oh scheiße. So ein Arschloch.“ „Naja, war vielleicht besser so“, meinte Conny nachdenklich. „Er war nicht mit Katrin verheiratet und die Schwangerschaft war nicht geplant, wenn du verstehst. Er hatte ihr einen Brief hinterlassen, mit der Bitte um Verzeihung, doch er hatte sich selbst nie als Vater gesehen und fühlte sich dazu weder bereit noch in der Lage. Er glaubte daran, dass es besser für Katrin und das Kind wäre, wenn es ohne ihn als Vater, anstatt mit ihm und einem richtig schlechten Vater aufwachsen würde. Er hatte ihr auch regelmäßig Geld geschickt, um sie zu unterstützen.“ Sie machte eine Pause und Ari sah sie gespannt an.
„Und dann?“ „Tja, irgendwann nicht mehr.“ „Er ist gestorben“, vermutete Ari. „Ja. Wir wissen nicht was passiert ist. Katrin hatte dann irgendwann eine Nachricht von einem Anwalt erhalten, der sie von Andreys Tod in Kenntnis setzte und dass er nichts hinterlassen hatte. Außerdem könne sie nicht mehr mit Geld rechnen, da sie ja nie verheiratet waren und er Thomas nie offiziell als seinen Sohn angenommen hatte. Für einen Vaterschaftstest, um Anspruch auf eine Waisenrente einzuklagen, war es wohl auch zu spät…“, beendete Conny ihren Bericht und zuckte ergeben mit den Schultern.
„Richtig kacke!“, fasst Ari zusammen. Sie fragte sich, ob Tom diese Geschichte auch kannte und wie er dazu stand. Was sie selbst betraf, hatte sie nie einen Vater gehabt und auch nicht vermisst. Ihre Mutter hatte ihn wohl ebenfalls kaum gekannt. Sie hatte vor langer Zeit mal, nach zwei, drei Gläsern Wein erzählt, dass sie genauso gut in eine Samenbank hätte gehen können. Nur wäre das viel teurer gewesen. Stattdessen, hat sie sich einen Mann ausgesucht, der ihr gefiel und von dem sie wusste, dass er intelligent war und hatte sich, ohne es ihm zu sagen, bei einem One-Night-Stand von ihm schwängern lassen. Sie wollte nie einen Mann. Oder eine Beziehung. Sie wollte bloß ein Kind. Als Ari jünger war, fand sie das immer merkwürdig und hatte sich gewünscht, den Menschen mal kennenzulernen, der sie gezeugt hatte und fragte sich, ob sie ihm irgendwie ähnlich war. Doch ihre Mutter hatte damals keine Kontaktdaten mit ihm ausgetauscht, sie wollte nicht einmal seinen Namen wissen. Inzwischen war es Ari egal. Sie war immer zufrieden gewesen und stand ihrer Mutter sehr nah. Sie wüsste nicht, was ein Vater an ihrem Leben überhaupt noch hätte verbessern können. Für sie war es perfekt.
„Wie alt ist Tom eigentlich genau?“, überlegte Ari laut. Eine weitere Frage, die sie sich nie gewagt hatte zu stellen. „Er bekommt die Waisenrente nur bis 27, und auch nur, wenn er studiert. Und ich glaube auf Bafög, wenn er schon mal welches bekommen hat, hätte er jetzt keinen Anspruch mehr. Wegen dem Abbruch. Aber vielleicht kommt er ja für irgendein Stipendium oder andere staatliche Unterstützung in Frage.“ „Hm, guter Punkt. Tom ist jetzt 24, nächstes Jahr im März wird 25. Keine Ahnung wie weit er in seinem Studium gekommen ist und ob 3 Jahre reichen, um es zu beenden. Was hat er noch gemacht? Journalismus oder sowas? Naja, ein Stipendium wäre sicher die einfachste und sicherste Lösung aller finanziellen Fragen. Recherchier das doch mal mit, ok?“ „Klar, mach ich. Und er hat Fotojournalismus und Dokumentarfotografie studiert. Ich glaube er war auch schon im 5. Semester, als er geschmissen hatte", erwiderte sie. Inzwischen war sie hellwach und voller Tatendrang. Am liebsten hätte sie sich direkt hinter ihr Notebook geklemmt und mit der Recherche begonnen. Doch sie musste in weniger als einer halben Stunde los zur Uni.
„Schön, sag mir Bescheid was dabei rausgekommen ist. Oder, wenn du magst, kannst du es Katrin auch direkt erzählen. Sie fragt oft nach dir und würde sich bestimmt freuen dich zu sehen.“ „Wirklich? Ich hab auch schon überlegt, ob es angebracht ist sie zu besuchen. Wo ich doch eigentlich nichts mit ihr zu tun habe…“ „Quatsch! Klar, komm vorbei.“ „Ich weiß nicht, ob Tom das recht wäre…“ „Was spielt seine Meinung da für eine Rolle?“ „Katrin ist seine Mutter. Und zwischen ihm und mir ist es halt… komisch. Keine Ahnung.“ „Ihr habt es immer noch geschafft, wie normale Menschen miteinander umzugehen?“, bemerkte Conny geradeheraus und schien sich ein Schmunzeln verkneifen zu müssen. „Ihr zwei seid echt… ääh… tut mir leid, dass ich es sagen muss, aber ihr seid beide etwas bescheuert. Was stimmt nicht mit euch? Ich meine, ihr mögt einander offensichtlich, aber kriegt es nicht auf die Reihe, euch auch untereinander darüber einig zu werden.“
Conny schüttelte verständnislos den Kopf, während Ari über nur vier ihrer Worte stolperte. Hatte Tom etwa irgendwas gesagt oder durchblicken lassen, dass ihre Mutter auf die Idee brachte, dass sie einander mochten? Dass ihre Mutter sie durchschaut hatte, überraschte sie nicht. Mütter halt. Die wissen sowas immer. Und wenn man sich noch so große Mühe gab zu tun, als wäre rein gar nichts. Aber bei Tom. Ob sie sich mit ihm unterhielt, wenn er seine Mutter besuchte? Alles Fragen, die sie nicht stellen konnte. Also sah Ari ohne etwas zu sagen aus dem Fenster und trank ihren Kaffee. Für ihre Mutter schien das Antwort genug zu sein. Sie erhob sich vom Tisch, kippte ihren restlichen Kaffee in einem Zug herunter und verließ den Raum in Richtung Badezimmer.
Ari schnaufte erschöpft von diesem Gespräch in ihre Tasse. Dann leerte auch sie ihren Kaffee, raffte ihre Notizen zusammen und beschloss sich ebenfalls fertig zu machen. Sie trug noch ihren Schlafanzug und Haare kämmen war auf jeden Fall auch mal wieder nötig. Sie ließ die Tasse auf dem Tisch stehen und griff sich ihre Thermoskanne vom Geschirrständer neben dem Abwaschbecken. Ari füllte routiniert das Gefäß mit dem restlichen Kaffee und etwas Milch auf, die noch auf dem Küchenschrank darauf wartete, wieder in den Kühlschrank gestellt zu werden. Die Thermoskanne in der einen und ihre Uniunterlagen in der anderen Hand ging sie in ihr Zimmer, um alles in ihrem Rucksack zu verstauen.
Anschließend schälte sie sich aus ihrem Schlafanzug, warf Hose und Oberteil achtlos nacheinander auf ihr Bett und öffnete ihren Kleiderschrank. Sie fischte sich frische Unterwäsche, Socken und zusätzliche dicke Wollsocken aus einer Schublade sowie eines ihrer schier zahllosen schwarzen Tops, die ihr in der kalten Jahreszeit als Unterhemden dienten. Als sie alles angezogen hatte, nahm sie gleich das oberste T-Shirt vom Stapel, ein ebenfalls schwarzes Bandshirt, mit dezentem Aufdruck einer ihrer Lieblingskünstler: Polar. Ihre dunkelrote Jeans vom Vortag war noch tragbar und lag über ihrer Stuhllehne. Sie schlüpfte hinein und zog erst dann die dicken Socken darüber. Fehlte nur noch ein Pulli. An einem der Kleiderhaken an ihrer Zimmertür hing ein schwarzer Kapuzenpullover aus dickem, schweren Stoff, mit extra langen Bündchen an den Ärmeln. Ari schnüffelte kurz daran und stülpte ihn sich dann kurzentschlossen über die zerzauste rote Mähne.
Sie wischte sich mit den Handrücken über die Augen, öffnete blinzelnd die Tür zu ihrem eigenen kleinen Badzimmer und stellte sich vor den Spiegel. Auf dem Regal daneben lag ihre Bürste. Ari beäugte erst den Gegenstand missmutig und dann sich selbst. Sie fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, entwirrte die gröbsten Knoten und beschloss aufs Kämmen zu verzichten. Stattdessen schob sie ihr Haar auf dem Schopf zusammen und stülpte ein Haargummi darüber. Sie betrachte die ihr Werk im Spiegel, zuckte mit den Schultern und ging zurück, durch ihr Zimmer, in den Flur. Dort stand Cornelia, inzwischen ebenfalls angezogen, vor einem großen Spiegel.
„Mama, wie viel Zeit habe ich für die Recherche?“, fragte Ari ihre Mutter mit belegter Stimme. Genauso gut hätte sie fragen können ‚Wieviel Zeit hat Toms Mutter noch?‘ Conny hielt inne und sah ihre Tochter ernst an. Natürlich hatte sie genau verstanden, was Ari sie da fragte.
„Nicht viel. Tage, vielleicht Wochen.“ Ari sah Tränen in den Augen ihrer Mutter schimmern und ging schnell zu ihr, um sie fest zu umarmen. Conny war etwas kleiner als sie und legte den Kopf auf die Schulter ihrer Tochter. Ari hörte sie nicht schluchzten oder die Nase hochziehen, doch sie wusste, dass ihre Mutter am Boden zerstört war. Die Routine und jahrzehntelange Arbeit in einem Krankenhaus hatten sie gelehrt, ihre Gefühle zu verbergen, in ihrem Inneren einzuschließen und unsichtbar werden zu lassen. Jeden Tag sah sie ihrer besten Freundin völlig hilflos beim Sterben zu. Alles was sie tun konnte, war medikamentös ihre Schmerzen zu lindern und gute Miene zu bösem Spiel zu machen. Und wer wollte denn auch schon die ganze Zeit nur traurige Gesichter um sich haben, wenn man doch noch gar nicht tot war, anstatt die verbleibende Zeit zu nutzen. Ari hielt ihre Mutter noch einige Augenblicke fest, bevor sich die kleinere Frau von ihr löste und sich lächelnd mit den Zeigefingern die Tränen aus den Augenwinkeln wischte, darauf achtend, ihr Makeup nicht zu verschmieren. Voller Mitgefühl betrachtete Ari ihre Mutter.
„Der arme Junge“, schniefte Conny, während sie einen langen dunkelgrünen Schal locker um ihren Hals wickelte. „Er wird ganz allein sein.“
„Ja“, sagte Ari, obwohl sie viel lieber ‚Nein‘ gesagt hätte. Natürlich würde sie ihm versichern, wie sie es zuvor bereits mehrfach getan hatte, dass sie und ihre Mutter immer da wären, immer! Doch Ari war sich nicht sicher, ob Tom in der Lage war zu begreifen, was diese Worte bedeuteten und selbst wenn, ob er ihr Angebot in Anspruch nehmen konnte. Sie verstand nicht, was diesen Kerl so sehr daran hinderte, ihre Hand zu ergreifen und sich einfach mal für eine Weile auszuruhen.
„Ich muss los, Süße, und du auch, denk ich, oder?“
Ari nickte. „Ja, ich muss noch mein Kram fertig packen.“ „Ok, mein Kind, dann mach ich mich schon mal auf die Socken. Bis heute Abend.“ Conny drückte ihrer Tochter einen Kuss auf die Wange, schnappte sich ihre Tasche und verschwand durch die Tür. Ari sah ihr noch eine Sekunde in Gedanken hinterher. Dann rafft sie sich auf, ging zurück in ihr Zimmer und packte ihren Rucksack fertig. Sie warf ihn sich über die Schulter und stellte ihn im Flur neben der Tür wieder ab, um Jacke und Schuhe anzuziehen. Aus einem Schubfach der Flurgarderobe fischte sie ihr Handschuhe, und ihre Kopfhörer, die auf der Ablagefläche auf sie warteten. Sie stöpselte die Kopfhörer an ihr Handy, entsperrte es mit ihrem Fingerabdruck und öffnete die Musik-App. Sie hatte Lust sich mal wieder anschreien zu lassen. Die Playlist „Kakophonie“ erschien ihr durchaus passend und sie wählte als Abspielmethode Shuffle. So startete mit The Ghost Inside in den Tag. Es war schon fast ein bisschen gruselig, und sie fragte sich ob Siri, den ersten Song absichtlich für sie ausgesucht hatte. Jonathan Vigil sang in Engine 45 „It's hard for you to see the light at the end of the tunnel / If it's a war you came to see / You will never see a waved white flag in front of me“
Ari schüttelte den Kopf, doch sie mochte den Song und sang ihn im Kopf mit. Sie warf sich ihren Rucksack wieder über die Schulter, griff sich ihren Schlüssel vom Haken und trat ins Treppenhaus. Sie nahm den Fahrstuhl bis in den Keller, ging durch den betongrauen Flur zum Fahrradkeller und schnappte sich ihr grünes Klapprad.
„All my life I've been searching for something / To break these chains / To break these chains
But I'll keep swinging“, sang sie unbewusst laut mit. „All my life, I've been waiting for something
That never came / It never came / But I'm still saying“