Ari starrte Tom erschrocken an. Irgendetwas in ihrem Gesicht, weckte sein Misstrauen.
„Ich... äh... hab nur mit meiner Mom deine Mom besucht...", stammelte sie.
„Okay... und wieso? Ich meine, sie ist ja nicht deine Mutter."
„Stimmt. Ähm, naja. Ich hab meine Mutter heute Morgen hergefahren. Mit dem Auto."
Tom zog die Brauen hoch, kniff die Augen leicht zusammen und sah sie voller Argwohn an. „Womit auch sonst", stellte er fest.
„Ha... ja. Naja. Ich war halt einfach nur so... dabei."
„Hm." Tom blickte auf die Tür. „Ist Conny noch bei ihr drin?" Das Mädchen erstarrte sichtlich und wich seinem Blick aus. „Nein...", gab sie zu. „Sie ist schon weg."
„Und wieso bist du noch geblieben?", wollte Tom wissen und hatte immer mehr das Gefühl, das ihm hier irgendetwas entging.
„Nur so", antwortete Ari ausweichend. „Deine Mama wollte sich unterhalten."
„Worüber?", fragend er mit gefährlichem Unterton.
„Über... dich." Ari schluckte sichtlich und sah durch ihre dunklen Wimpern nervös zu ihm auf. Tom erwiderte ihren Blick mit wachsender Ungeduld. Er wollte gerade den Mund öffnen, als Ari ihm zuvor kam.
„Bevor du sonst was komisch denkst, bleib cool. Es waren nur so normale Fragen, wie „Geht's ihm gut?" und so", sprudelte sie los. „Ich nehme an, sie denkt, wir wären sowas wie Freunde und ich könne ihr die Frage beantworten. Konnte ich aber nicht. Keine Ahnung wie's dir geht's", endete sie und hob ergeben Schultern und Hände in einer hilflosen Geste. Dann sah sie ihm plötzlich fest in die Augen. „Aber wo wir gerade dabei sind, also nicht, dass ich glaube, du würdest mit mir über deinen seelischen und mentalen Zustand reden wollen, aber vielleicht über deinen physischen."
Tom, der Schwierigkeiten hatte ihrem nervösen Gebrabbel zu folgen, verblieb in Verwirrung und sah sie fragend an.
„Deine Rippen", klärte Ari die Frage, die ihm auf der Zunge lag. „Zeig mal her!", verlangte sie mit einem Selbstvertrauen, dass er nur in medizinischen Belangen bei ihr wahrnahm und dem er sich schwer entziehen konnte. Dennoch wich er vor der Aufforderung zurück.
„Was? Hier? Jetzt?!", fragte er und deutete in einer allumfassenden Geste auf den sehr öffentlichen Flur, in dem jederzeit irgendwer vorbei kommen konnte und sehen würde, wie er sich auszog, und ein Mädchen ihn unter die Lupe nahm und abtastete. Die Vorstellung jagte sofort einen Schauer über seinen Rücken. Wann hatte sie ihn das letzte Mal berührt? Auf jeden Fall vor viel zu langer Zeit. Ari blinzelte und nickte dann.
„Naja, vielleicht nicht hier auf dem Flur. Aber mindestens eines der Zimmer da vorn ist leer. Lass da einfach kurz reingehen."
Unsicher sah Tom sich um. Der Gedanke allein in einem Raum mit ihr zu sein wirkte gleichzeitig unglaublich anziehend wie auch abstoßend auf ihn. Doch der Reiz der Verlockung siegte und so nickte er zustimmend und bedeutete ihr voraus zu gehen.
Ari öffnete vorsichtig eine Tür, drei Zimmer weiter, vom Krankenzimmer seiner Mutter entfernt. Sie spähte durch den Spalt, um sich zu vergewissern, dass das Zimmer tatsächlich unbesetzt war und öffnete die Tür schließlich ganz. Auffordernd sah sie Tom an und hielt ihm die Tür, bis er schließlich hindurch trat. Langsam streifte er seine alte Lederjacke ab und hängte sie über die Lehne eines Stuhls. Er sah Ari in der Spiegelung des großen Fensters hinter sich stehen. Sie beobachtete ihn, machte jedoch keine Anstalten näher zu kommen. Etwas steif zog er seinen linken Arm aus dem Ärmel seines grauen Pullis, um seine rechte, verletzte Seite möglichst nicht zu belasten. Obwohl der Kampf inzwischen einige Wochen zurück lag, schmerzten die heilenden Rippen noch immer etwas. Doch er wollte nicht, dass Ari ihm den Schmerz und die Schwäche ansah. Er zog sich Pullover, samt T-Shirt langsam und beherrscht über den Kopf, bevor er sich endlich zu Ari umdrehte. Obwohl sie ihn natürlich fast immer mit freiem Oberkörper sah, hatte Tom sich noch nie so nackt und entblößt gefühlt. Und während ihr Gesichtsausdruck nichts über ihre Gedanken verriet, glaubte Tom, seine Unsicherheit stünde ihm in fetten Lettern auf der Stirn geschrieben. Ari deutete mit einem Kopfnicken auf das Bett hinter ihm. Bevor sie zu ihm kam, zog sie sich ihre schwarze, gefütterte Jeansjacke aus und legte sie über die Lehne eines anderen Stuhls.
„Setz dich", sagte sie ruhig und lächelte sanft. Statt sich richtig auf die Bettkante zu setzen, lehnte Tom sich nur dagegen und bemühte sich um eine entspannte Haltung. Ari trat an ihn heran, schob die Ärmels ihres dunkelgrünen Pullis bis zu den Ellenbogen hoch und heftete ihre Augen auf seine rechte Seite. Die Haut war nicht mehr blau, oder auch nur gerötet und er trug auch kein Tape mehr, doch es dauerte eine ganze Weile, bis gebrochene Rippen vollständig genesen waren. Tom fragte sich, wieso Ari sich dessen selbst vergewissern wollte. Vielleicht hielt sie nichts von Dr. Schnabel oder aber sie suchte auch nur einen Vorwand, um ihn wieder anfassen zu können. Doch am Ende war es Tom egal. Hauptsache sie tat es.
Als ihre Finger endlich seine Haut erreichten, zuckte Tom heftig zusammen und keuchte. Ari riss ihre Hände sofort zurück und sah ihn erschrocken an. „Tut mir Leid, hab ich dir wehgetan?"
„Nein", sagte er hastig und hielt sich die Seite. Er unterdrückte ein Lachen und grinste sie entschuldigend an. „Deine Hände sind nur scheißkalt."
„Oh... sorry", stammelte sie und sah beschämt auf ihre Handflächen. Aus einem Impuls griff Tom nach ihren Händen, um sie in seinen zu wärmen. Er mied ihren Blick, doch er sah aus dem Augenwinkel, dass Ari ihn fassungslos anstarrte. Sie schwieg jedoch und zog ihre Hände auch nicht zurück. Bevor es noch komischer wurde, ließ Tom sie wieder los und fragte sich, was zum Teufel da gerade über ihn gekommen war. Wenn er nicht aufpasste, würde noch etwas richtig Schlimmes passieren. Er räusperte sich.
„So, ähm... Jetzt fühlst du dich hoffentlich nicht mehr an, als wärst du gerade einer Gefriertruhe entkommen."
„Dan...ke", murmelte sie und legte ihre Fingerspitzen ein zweites Mal vorsichtig auf die unterste der drei angeknacksten Rippen. „Geht's?"
Tom nickte stumm. Vielleicht sollte er lieber den Mund zu halten, bevor er sich noch dämlicher anzustellen begann. Und sie ihn ernsthaft für bescheuert oder schlimmeres hielt. Was war nur los mit ihm. Hatte sein Geist heute Morgen nach dem Aufstehen beschlossen nach all den Jahren noch mal einen auf Teenager zu machen?
Ari verlagerte ihr Gewicht von einem Bein auf das andere und kam Tom damit so nah, dass ihre Oberschenkel seine Beine berührten, doch sie schien es nicht zu bemerken. Sie übte leichten Druck auf seine Rippen aus, tastete aber auch mit geschulten Bewegungen seine ganze rechte Seite sowie die Haut über seinen Organen ab, die unter Umständen durch seine Verletzung in Mitleidenschaft hätten gezogen werden können. In ihrer Konzentration biss sie sich leicht auf die Lippen und strich sich eine wellige Strähne ihrer feuerroten Haare hinters Ohr. Ihre Augen wanderten mit ihren Händen über seine Brust, seine Schulter und schließlich hoch zu seinem Gesicht. Tom hielt den Atem an, als ihre Blicke sich trafen, doch dann hatte er das Gefühl, dass sie ihn gar nicht richtig sah, während sie seinen Kiefer und seinen Hinterkopf abtastete.
Allen Vorsätzen zum Trotz, legte er seine Hände auf seine Knie neben ihrer Hüfte. Seine Daumen streiften sie ganz leicht und sofort hatte er ihre Aufmerksamkeit. Er wusste nicht wieso, doch er ließ sie einen Moment zappeln und seinen Blick über ihr hübsches Gesicht gleiten. Ein rosa Schimmer zeigte sich auf ihren Wangen, während seine Augen einen deutlich wahrnehmbaren Moment an ihren Lippen hängen blieben. Sie öffneten sie einen winzigen Spalt breit, als wolle sie etwas sagen. Doch kein Laut drang hervor und beinahe neugierig, sah Tom wieder zu ihren Augen auf. Er sah die Unsicherheit und etliche Fragen, in ihren Augen, doch bevor sie den Mut aufbrachte, auch nur eine zu stellen, ergriff Tom das Wort.
„Was wolltest du wirklich bei meiner Mutter?"
Ari reagierte verzögert. Sie blinzelte und schien die Frage nicht richtig zu verstehen. Oder sie hatte mit etwas ganz anderem gerechnet. Dann legte sie den Kopf etwas auf die Seite und sah ihn plötzlich argwöhnisch an. Ihr Mund öffnete sich in stummem Erstaunen.
„Hast du gerade...?", begann sie irritiert. „Versuchst du etwa mich irgendwie zu bezirzen, damit ich dir sage, was du hören willst?" Tom hörte den Vorwurf in ihrer Stimme war, doch er war frei von Wut. Er schluckte ertappt. Ihre Reaktion überraschte ihn. Vor allem, dass die Erkenntnis sie nicht böse auf ihn stimmte, sondern scheinbar nur verblüffte. Tom raffte seinen Mut zusammen und beschloss sie ebenfalls zu überraschen. Nach einem weiteren kurzen Blick auf ihre Lippen fragte er frei heraus: „Funktioniert's denn?"
Ari wiegte den Kopf, als würde sie ernsthaft über die Frage nachdenken. Dann beugte sie sich nach vorn und küsste ihn. Tom erstarrte, doch er wich nicht zurück. Er schloss die Augen und fragte sich, was er angerichtet hatte. Gleichzeitig genoss er das Gefühl ihrer Nähe, ihre weichen Lippen und das zarte Kitzeln ihrer Wimpern auf seinen Wangen. Als er die Arme um sie schlingen wollte, löste sie ihre Lippen von seinen, lehnte jedoch ihr Stirn noch einen Augenblick an ihn. Er spürte ihren warmen Atem auf der Haut, als sie „Nein" flüsterte und ihm noch einen flüchtigen Kuss auf den Mund hauchte.
Dann trat Ari schließlich ganz zurück. Voller neuem Erstaunen und altbekannter Sehnsucht betrachtete Tom sie.