»Hat sich denn niemand gewehrt?«
Alna neigt den Kopf und lächelte, wie nur eine liebende Mutter in der Lage war zu lächeln. Sie beugte sich leicht nach vorn, um ihn ins Gesicht sehen zu können. »Worauf möchtest du hinaus?«
»Na, ich meine Agrea. Als diese blauen Männer hier hergekommen sind, gab es da niemanden, der sich wehrte? Haben sich die Leute und unsere Könige das einfach gefallen lassen?«
»Das ist mühsamer zu erklären, als du jetzt denkst, Veyed«, antwortete sein Vater statt dessen Vetters, der die Lippen vorschob und überlegte. Sichtlich suchte er nach Formulierungen, die beide Jungs verstehen würden, obgleich Klarich mit der seinen nicht unrecht behielt.
»Wisst ihr ...« Alric maß die Zwei mit einem urteilenden Blick und fuhr mit einem Kopfnicken fort. Es wäre vermessen sagen zu wollen, was er in ihren Gesichtern zu sehen glaubte, aber es schien ihm befriedigend. »Niemand trennt sich leichtfertig und ohne Gegenwehr von Land und Leben. Viele gute Menschen verloren lange bevor die Thulenen mit ihren Gefolgsleuten kamen Ehemänner und Söhne. Auch nachdem das Bündnis der sieben Reiche fiel, gab es noch immer bewaffneten Widerstand.«
»Sie hätte sich nur zusammenschließen müssen.« Kayden schüttelte ablehnend den Kopf und verzog verständnislos die Brauen. »Ich versteh das nicht.«
»Kay.«
»Lass gut sein Klarich. Woher soll der Junge das Leben kennen oder urteilen«, beschwichtigte Alric.
»Dennoch. Er Weiss nicht, was er da von sich gibt.«
Ohne auf den grollenden Unterton einzugehen, holte er selber tief Luft, sah hinüber zu Alna, die aufmunternd die Lieder niederschlug. Beide Männer trugen ihre eigenen Laster und führten so manchen Abend kontroverse Wortgefechte über das berühmte ›was wäre wenn‹. Wo Alric Dinge nüchtern betrachtete und urteilte, verhielt sich Klarich bei diesen Themen ungewöhnlich forsch. Am liebsten würde er jeden einzelnen Blaubluter und jeden der ihnen freien Willens folgte, den Hals herumdrehen. Er fühlte sich für allerlei verantwortlich und hatte mit Fingerspitzengefühl und berechnender Unnachgiebigkeit einen gewissen Vorteil bei den Obristen erstritten. Seine Handlanger und Feldarbeiter liebten ihn hierfür, andere hingegen waren eben jene Zugeständnisse und die Person an sich ein schwerwiegendes Hindernis. Wie eine Geschwulst nutzte der Bauer jedwede sich ihm bietende Möglichkeit, sich und den seinen Vorteile und Erlasse zu erwirken. Er lebte auf Messers Schneide, gleichwohl schaffte er es immer wieder, die Waagschale zu seinen Gunsten zu neigen.
»Um euch beiden zu erklären, wie es geschah und was die sieben Reiche, insbesondere Agrea durchmachen mussten, fehlt uns heute die Zeit. Ihr kennt doch Memnach?«
Veyed verdrehte die Augen und hob pathetisch die Arme. »Klar«, empörte dieser sich. »Kennt doch jeder. Das ist die nördliche Hauptstadt des Landes.«
»Und die Familie Myrefall hatte das Wort im Norden Agreas wie die Taramonds im Süden«, vervollständigte Kayden.
Wo sich die Jungs kürzlich noch in den Haaren lagen, hielten sie nur Augenblicke später zusammen, wie es nur Pech und Schwefel vermochten. In Einvernehmen klatschten sie sich ab, als errungen sie einen Sieg.
Klarich verzog kopfschüttelnd den linken Mundwinkel. Alna lächelte und ihre Brust hob sich amüsiert. Alric hingegen hob schlicht die Brauen. »Ihr habt aufgepasst. Gut. Sehr gut.«
Auf dem Tisch stand noch ein halb gefüllter Krug, den er sich nun griff, hinein schielte und trank. Als seine Base nachschenken wollte, hielt er ablehnend seine Hand über die Öffnung und verneinte dankend.
»Es war nicht nur diese Familie, die sich unentwegt den Besetzern entgegenstellte. Alle Adelsfamilien, deren Wort Gewicht trug, scharrten Leute um sich. Es ist nicht gewiss ...« Sein Blick fixierte den Kaydens. »Hätten sich diese Menschen zusammengetan, wer weiß das schon. Allenfalls hätten sie einen kleinen Teil des Landes behaupten können. Die Frage bliebe hierbei für wie lange und unter welchen Kosten. Verlusten.«
»Was tat der Feind?«
»Das Kayden ist doch offensichtlich.«
»Was hättest du getan, Kay? Denk nach«, drängte Klarich.
Angesprochener schluckte und sah Hilfe suchend zu seinem Bruder, der anstatt zu helfen, lediglich die Arme über der Brust verschränkte und ihn beobachtete.
»Na, wie wärest du vorgegangen?«
»Ich weiß es nicht«, gestand dieser kleinlaut.
»Wenn du der Feind bist und ich ein Adeliger, der dir alles wieder wegnehmen will, was du erobert hast«, begann nun Veyed, der verstand, was sein Vater erwartete.
Kaydens Augen weiteten sich und man sah deutlich, wie seine Gedanken sich sortierten und ein Bild in seinem Kopf entstand. Seine Wangenmuskulatur arbeitete, als er sich die Worte auf der Zunge zergehen ließ. Alle hielten still, niemand sprach und Beobachteten den Jüngsten im Raum. Sie gaben ihm Gelegenheit auszusprechen, was er sich zusammenreimte. Das, was der Junge zum Ausdruck brachte, erstaunte nicht nur Alric.
»Ich würde dich jagen. Dir auflauern und all deinen Rückhalt zerstören, sodass du weder Nachschub noch Verstecke nutzen könntest. Lügen würde ich über dich verbreiten. Nahrungsmittel vergiften oder verbrennen und es dir die Schuld geben. Ich würde dich und alle die dir folgen, vernichten.« Seine Stimme glich nicht mehr die eines Kindes. Sie klang mahnend, einschneidend bis ins Gemüt. Jedes gesprochene Wort brachte die wörtlich gemeinte Drohung zum klaren Ausdruck.
Alnas Züge erschlafften und suchte fassungslos Augenkontakt zu ihrem Geliebten, während ihr ein Schauer den Rücken hinablief. Sie schüttelte sich fröstelnd. Klarichs Blick sah entgeistert zu seinem Jüngsten, hielt seine Meinung jedoch für sich. Mehr noch, er schluckte einen schweren Kloß. Veyed hingegen störte sich augenscheinlich nicht an dem Gesagten, dieser schien sich für seinen Bruder zu freuen. »Jetzt hast du es begriffen.«
»Ja, das hat er wohl«, bestätigte Alric. »Möchtest du immer noch wissen, aus welchem Grund es ist, wie es ist?«
Unsicher sah Kayden auf und fühlte sich auffällig unwohl. Alle Augen ruhten auf ihn. Wären seine Finger gelenkiger, er würde sie vollends ineinander verknoten. Beruhigend legte ihm seine Mutter eine Hand auf den Schoß und trotzte sich ein Lächeln ab.
»Lange Zeit bekämpften Angehörige der Adelshäuser den einfallenden Feind und leisteten erbitterten Widerstand und vergiften gleichermaßen ihre eigenen Ernten. Heute ist nicht einmal mehr bekannt, ob noch jemand aus diesen Häusern oder Familien lebt. Sie jagten die Männer und ließen sie öffentlich hinrichten. Jene, die in derer Namen handelten oder auch nur Unterschlupf boten, wurden geradewegs erschlagen. Diese Tortur vollzogen die Besatzer so lange, bis niemand mehr wagte, auch nur die Hand zu heben.«
»Was machten sie mit den Frauen oder den Kindern«, war es diesmal Veyed, dem die Betonung auffiel. »Sie haben denen doch wohl nicht das Gleiche angetan?«
»Ermordet«, fauchte sein Vater und dessen Blick strafte den ihres Onkels, noch bevor dieser ansetzen konnte zu erklären. Die Augen Alnas zeugten einer anderen Sprache und ein schimmernder Glanz breitete sich in ihren Lieder.
Alric entwich ein Seufzer und lenkte gebrochen ein. »Auch sie wurden zum Teil öffentlich gerichtet.«
Den beiden Jungs fiel es glücklicherweise nicht auf und werteten den Ausbruch ihrer Eltern als schmerzliche Erinnerung, derer sie ihnen vorenthalten wollten. Mord ist nicht lustig und die Zwei hegten keinerlei Interesse an Details. Kayden konnte den Anblick von Blut nicht ertragen, nicht einmal das eines Tieres, wenn eines für die nächste Mahlzeit geschlachtet wurde. Er wachte zu nächtlicher Stunde immer wieder auf, um sodann stundenlang wach zu liegen, weil ihm sein Verstand unschöne Bilder vortäuschte.
»Gab es denn niemanden, der etwas tun wollte?«
Nun war es an ihrem Vater, der das Wort ergriff und ab und an durch das seines Vetters Unterstützung fand.
Die Zeit verging zu schnell und es gab noch so vieles, was die Jungs zu interessieren schien. Sie einigten sich auf die Begebenheit eines Mannes, der nicht wesentlich älter als ihr Vater oder Onkel sein durfte. Da dieser ein Nachfahre des gejagten Adels sei und das Geburtsrecht der Myrefall durch sein Herz pochte, blieb sein Leben doch recht unwahrscheinlich.
Diese Person, so laut Ausführungen, würde aus den Schatten heraus die Besatzer nach wie vor bekämpfen. Unbedarfte Soldaten auf Streife wurden angeblich tot aufgefunden, nachdem sie sich zum Austreten um eine Hausecke begaben.
Es wäre Augenwischerei, würde man urteilen, dass dieser einzelne Mann die Obristen ganz allein an der Nase herumführte. Ihm zu Hand gereichten Helfer, Handlanger und Mittäter. Gemeinhin wurde verkündet, dass dieses Gerücht nicht der Wahrheit entspräche, noch eine derartige Person sein Unwesen treibe. Agrea sei vollends frei von Übergriffen und Ungerechtigkeiten. Morde in jeglicher Form bestraften die Obristen mit aller Härte, so auch das verbreiten von Unwahrheiten.
Ihr Vater wusste den Mann sogar zu beschreiben. Zwar vermochte er nur aus Erinnerungen zu sprechen, aber wer weiß schon, ob diese nicht doch noch zutreffend waren? So zumindest, wenn diese Gestalt beileibe existierte. Er schilderte diesen von der Statur her wie ihren Onkel, drahtig obgleich unscheinbar. Einst war er nur gepflegt anzutreffen, egal wie viel Elend ihn umgab. Auf sein Äußeres legte dieser man wert. Auch wenn so mancher Mann zu dieser vagen Umschreibung passte, so gab es etwas, das ihn als makel zu erkennen gab. Eines seiner Augen soll erblindet sein, als er einen Blaubluter zu seiner Göttlichkeit zurückschickte. Eine entstellende Narbe zog sich vom Haaransatz, über die Wange bis hin zum Mundwinkel.
***
Es war Kayden, der offensichtlich mit der Schwerkraft der Augenlider zu kämpfen begann. Immer wieder ruckte sein Kopf nach oben, wenn er merkte, dass die Müdigkeit ihn zu übermannen drohte. Veyed gähnte herzhaft in die vor dem Mund gehaltene Hand und lächelte unschuldig. »Ich glaube, ich schlafe gleich ein. Wie konnte Thule überhaupt gewinnen, wenn alle Könige im Felde standen?«
Alric verzog überlegend die Brauen und schob die Lippen übereinander. »Gute Frage. Spar sie dir auf. Was bringt es, die Geschichte des Landes zu hören, wenn euch vor Müdigkeit die Augen zufallen?«
»So nun ist aber wirklich Schluss. Euer Onkel hat recht, ab in die Betten.« Alna schob die Zwei mit den Händen von den Stühlen und schenkte einem jeden einen liebevollen Kuss auf die Stirn. »Schlaf gut mein Engel. Ich liebe Dich.« Hauchte sie hinzu. Waren es drei Schritte? Kayden blieb stehen und schaute aus schläfrigen Augen zurück. Er rannte seiner Mutter in die Arme und schlang die seinen fest um sie. Eine Träne rann seiner Wange hinab, während seine Stimme mitleidig und betroffen klang. »Sei mir nicht mehr böse ja? Es tut mir ehrlich leid, Ma'.«