Es klingelte zur ersten großen Pause. Sheona tippte ihre Freundin an, die anscheinend eingeschlafen war. Leonie schreckte hoch: „Was ist denn los?“ Sheona lachte. „Oh ne, sag mir nicht ich bin schon wieder eingeschlafen.“ Sheona nickte lachend. In letzter Zeit, schlief Leonie, immer wieder während den Schulstunden ein. Sie schauten ja eh nur Filme. Die beiden begaben sich in die große Sporthalle, hier spielten die Jungs aus den Oberstufen, immer in den Pause Fußball. Eine Ausnahme machten die Jungs bei Leonies jüngerem Bruder Elias. Jeder wollte ihn in seinem Team haben und die Mädchen himmelten ihn an. „Es doch wirklich ekelhaft wie sich die Mädchen aufführen“, meinte Leonie. „Die werde wohl nie verstehen, dass Elias genauso ist wie du“, sagte Sheona. Sie setzten sich auf die Tribüne. „Nein, nein und nochmals nein, Elias ist ganz anders als ich“, widersprach Leonie. Sheona lächelte: „Stimmt, aber ihr habt beide die Einstellung, dass ihr nur einen Freund, in seinem Fall nur eine Freundin, haben wollt.“ „Was ist denn daran so falsch?“, wollte Leonie wissen. Sheona schüttelte den Kopf: „Gar nichts, ich mein ja nur.“ Sie schwiegen eine Weile und aßen ihre Pausenbrote. „Was machen wir dieses Wochenende?“, fragte Leonie. „Bestimmt nichts. Obwohl ich echt Lust hätte“, sagte Sheona erwartungsvoll. „Warum sollten wir nichts machen? Wir beide überlegen uns einfach etwas und planen es nachher mit den Jungs“, meinte Leonie. Sheona zuckte mit den Schultern. Was sollten sie den bei diesem Wetter machen? Es war viel zu heiß für irgendetwas. „Ey, wir wär’s wenn zur Lichtung reiten?“ „Oh ja, da kann man auch schwimmen gehen. Leonie du bist genial“, freute sich Sheona. Leonie lächelte. „Ich frage Oma Leonie, ob sie Lust hat uns ein Picknick zuzubereiten“, schlug sie vor. „Auf jeden Fall. Ich sage den Jungs Bescheid“, sagte Sheona erwartungsvoll und griff nach ihrem Handy.
Daniela hörte aufmerksam zu, wie die Jugendlichen ihren Ausritt planten. „Warum ist Nico nicht dabei?“, fragte sie schließlich und unterbrach damit Jim, der grade ihre Route plante. Ohne von seinem Handy aufzusehen antwortete er: „Nico kann nicht reiten. Er will nicht mit.“ „Na dann fahrt doch mit Fahrrad“, reif Daniela betont fröhlich. Wie auf Kommando drehten sich vier Köpfe zu ihr um. „Mit dem Fahrrad?“, fragte Sheona zweifelnd. Es gab Fahrradtouren bei den Köstrings, aber Jugendliche unter sich ritten. Und zwar Pferde. Oder fuhren mit Motorrädern, wenn sie alte genug waren. Aber es wurde nie mit Fahrrad gefahren. „Warum nicht?“, gab Daniela zurück. Leonie biss sich auf die Lippe. Mal wieder gab ihr ihre Oma das Gefühl nicht ihr Enkelkind zu sein, sondern ihr Mittel zum Zweck. Was bekam ihre Oma dafür, dass sie Nico betreute? Geld? Und musste sie das Geld zurückzahlen, wenn sie es nicht geschafft hatte, aus Nico einen besseren Menschen zu machen? Dass sie Nico unter ihre Fittiche genommen hatte, lag nicht etwa an ihrer sozialen Art. Nein sie besaß keine. Sie wollte nur ihre Herrschsucht ausleben. Und jetzt schien ihr Nico doch zu anstrengend zu sein und sie schob die Aufgabe auf sie und ihre Freunde ab. Leonie würde es nie zugeben, aber sie litt unter der versteckten Grausamkeit ihrer Großmutter. Auch deshalb, weil Daniela ihre einzige Oma war.
Daniela wertete das Schweigen der vier falsch. „Ihr könnt für Nico bestimmt ein Fahrrad auftreiben und dann macht ihr eine Fahrradtour. Das wird lustig.“ Leonie warf ein Blick auf die Uhr. Es war halb zehn. „Ich muss nach Hause“, wechselte sie das Thema. Ihre Eltern machten daraus zwar keine Regel, doch Leonie wusste, dass sie sich Sorgen machten, wenn ihre Kinder noch nach 10:00Uhr alleine auf den Straßen herumliefen. Sie baten darum, dass man sie dann zum Abholen riefen und das wollte Leonie nicht. Sie erhob sich und verabschiedete sich. Dann lief sie den kurzen Weg zu Stars Box, um nach ihrem Pferd zu sehen. Sie hatte den pechschwarzen Hengst, von ihrem Vater geschenkt bekommen. Es war das Fohlen von dem Lieblingspferd ihres Vaters, das denselben Namen getragen hatte, bevor es an einer Kolik gestorben war. Star war ein sehr schnelles und wertvolles Tier, jedoch auch sehr nervös, daher befand sich seine Box etwas abseits von den anderen Pferden. Zu allem Überfluss, wirkte diese Nervosität irgendwie ansteckend auf die anderen Pferde. Leonie schaltete kein Licht an. Sie kannte sich hier gut genug aus. Star begrüßte sie mit einem freudigen Wiehern. „Na mein Großer? Bist du bereit für den Ausritt morgen?“, fragte sie leise und strich über den Hals. Star warf den Kopf zurück. „Ja ich weiß, du bist immer bereit. Leider muss ich dich enttäuschen. Daniela verlangt von uns eine Fahrradtour, damit Nico mitkommen kann. Er kann ja nicht reiten.“ Leonie seufzte. Star machte ein paar Schritte zurück. Leonie ließ ihn los. „Mir tut es doch auch leid.“ „Warum lässt du dir von Daniela überhaupt was sagen?“, ließ sich eine Stimme aus der Box vernehmen. Leonie fuhr erschrocken zusammen und ihre Hand betätigte reflexartig den Lichtschalter. Einige Pferde wieherten leise. Nico saß in der Box. „Was machst du da? Bist du lebensmüde?“, fragte Leonie erschrocken. Star ließ absolut keinen an sich ran oder gar in seine Box, außer Leonie selbst. Manchmal, aber auch eher ganz selten, auch Laura. Er trat und biss um sich, wenn jemand anderer es nur wagte in sein Reich oder nur in die Nähe seines Reiches zu kommen. Seine wilde Natur ging dann mit ihm durch. Und Nico saß dort im Heu und Star stand friedlich daneben. „Ich mag Pferde zwar nicht, aber habe trotzdem keine Angst vor ihnen“, gab Nico gereizt zurück. Verblüfft beobachtete Leonie, wie Star seinen Kopf zu Nico beugte und ihm seinen warmen Atem ihm ins Gesicht blies. Nico drehte sich angewidert weg. Leonie öffnete die Boxentür und erklärte dem Jungen ihre Verwunderung. „Ich bin Pferdeflüsterer. Wusstest du das nicht?“, fragte Nico ironisch. Aber sein Blick lag jetzt doch verunsichert auf dem großen Pferd. „Er mag dich“, stellte Leonie sachlich fest. Und ihr nächster Gedanke
erschreckte sie selbst. Vielleicht spürte Star, dass seine Besitzerin Nico mochte. Verwirrt über sich selbst, hörte Leonie kaum, wie Nico murmelte: „Da ist er aber der einzige hier.“ „Was?“, fragte Leonie, obwohl sie ihn verstanden hatte und ließ sich neben ihm im Heu nieder. Nico wiederholte sich nicht. „Ich würde morgen reiten.“ Leonie-Sue sah ihn erstaunt an. „Ach ja? Du hasst doch Pferde?“ „Nicht so sehr wie die Hexe“, entgegnete Nico. Wen er damit meinte, konnte Leonie sich sehr gut denken. „So schlimm ist sie gar nicht“, verteidigte sie ihre Oma. Es war mehr ein Wunschdenken, als ihre Meinung. Nico merkte es. „Lügen muss aber noch gelernt werden.“ Leonie wurde rot und wandte sich von ihm ab. Schnell wechselte sie das Thema: „Du würdest also reiten?“ Nico verdrehte die Augen. Leonie wurde bewusst, dass er das ganz schön oft tat. „Wenn es sein muss.“ Er machte eine kleine Pause und freute sich über das winzig kleine, aber echte Lächeln auf Leonies Gesicht. „Aber unter einer Bedingung.“ Das Lächeln verschwand. „Ich reite auf dem da.“ Er wies mit einer Kopfbewegung auf Star. Leonie merkte wie sie wütend wurde. „Das ist mein Pferd“, sagte sie bestimmt. Bei Star, war sie sehr besitzergreifend. Außerdem ärgerte es sie zu tiefst, dass Star Nico an sich heranließ. „Ich weiß. Ich will es dir ja auch nicht abkaufen. Aber ich will es reiten.“ Leonie wünschte sich, dass Nico mehr Angst vor Star haben sollte. „Ich weiß nicht, ob Star das zu lässt“, schob sie ein. Aber es war ein sehr schwaches Argument. „Schon vergessen? Lügen muss noch geübt werden“, stichelte Nico. Leonie atmete tief durch. Was glaubte der eigentlich von sich? Dass er nur ein Wort sagen musste und alle tanzten nach seiner Pfeife? Sie spürte seinen Blick. Musste er sie immer so anglotzen? „Was ist los, Miss Perfect?“, fragte er grinsend. „Habe ich dich dazu gebracht, nicht immer die freundliche Leonie zu sein?“ Leonies Wut verflog. Auf einmal tat er ihr leid. Nico setzte extra alles daran, dass man ihn nicht mochte. Sie fragte sich, ob er sein zu Hause vermisste. Auf einmal, wollte sie wissen, wie sein zu Hause überhaupt war. Dass seine Eltern reich waren, hatte man schon an dem Auto gesehen, was er fuhr. Ihre Eltern hatten auch mehr als genug Geld. Trotzdem war das nie wichtig gewesen. Freundlichkeit, Liebe und vor allem Gemeinschaft, hatten ihr ihre Eltern als wichtige Werte beigebracht. „Vermisst du deine Eltern?“, fragte sie schließlich. Sie bemerkte den dunklen Schatten der über seine Augen zog. Dann war er wieder der unnahbare Nico. „Nö.“ Leonie gab schweren Herzens auf. Man konnte mit ihm nicht vernünftig reden. Sie erhob sich. „Ich reite morgen Star“, sagte sie und es klang endgültig. „Dann muss ich wohl mit dir reiten.“ Er zwinkerte ihr zu. Leonie stöhnte. Auf einmal sehnte sie sich nach einer Umarmung von ihren Eltern. Manchmal ging es ihr auf die Nerven, wie oft ihre Eltern, sie oder ihre Geschwister in den Arm nahmen und ihnen beteuerten, wie sehr sie sie liebten. Doch jetzt in diesem Monet sehnte sie sich danach. „Zieh alte Klamotten an und nimm eine Badehose mit“, riet Leonie ihm noch, bevor sie den Stall verließ.