Jacopo eilte aus der Küche. Joran nahm den Löffel in die Hand und tauchte ihn in die Suppe, doch dann konnte er nichts essen. Sein Magen, der vor kurzem noch hungrig geknurrt hatte, schien sich zu einem unlösbaren Knoten verschlungen zu haben. Er legte den Löffel auf den Tisch und erhob sich. Etwas drängte ihn, sich zu bewegen, etwas Zorniges und Wildes, das ihn innerlich aufheulen ließ, aber es war einfach zu übermächtig, als dass er sich dagegen wehren konnte. Seine Faust bewegte sich fast ohne sein Zutun und sauste auf den Tisch nieder, dass die Schüsseln sprangen. Schmerz schoss durch seinen Arm und brachte ihn wieder einigermaßen zur Besinnung. Er sank erneut auf seinen Stuhl, stützte die Ellbogen auf die Tischplatte und verschränkte die Hände unter dem Kinn. Auch ohne Reniers Brief zu lesen, wusste er, was drinstehen würde. Mehr als ein Jahr war vergangen, seit es ihnen gemeinsam gelungen war, seine kleine Schwester Leocadia aus dem Hurenhaus des Bischofs zu befreien. Von seiner ebenfalls dort gefangen gehaltenen Mutter hatten sie jedoch keine Spur entdeckt und Joran hatte sich mit dem Wissen abgefunden, dass sie nicht mehr am Leben war. Irgendwann war ihm der Gedanke sogar tröstlich erschienen und hatte geholfen seine Empfindungen in Schach zu halten. Bis jetzt. Doch nun überschwemmte ihn erneut dieses grauenhafte Gefühl der Hilflosigkeit. Seine Mutter hatte gelitten, so sehr, dass ihr Verstand sich weigerte, dem Schrecken noch länger standzuhalten. Und er war daran schuld.
Jacopo betrat die Küche, den linken Arm mit Gewändern behängt, die er vor Joran auf den Tisch legte. »Ich habe einige Sachen Eures Vaters herausgesucht, die Euch passen dürften. Und hier ist auch der Brief.«
Joran nahm die Botschaft entgegen und legte sie ungeöffnet auf den Tisch. »Ich lese sie später. Hilf mir lieber, das Ziegenfell loszuwerden.«
»Mit Vergnügen«, murmelte Jacopo. Er holte Rasiermesser und Schere, füllte eine Schüssel mit dampfender Lauge und machte sich an die Arbeit.
Joran ertrug die Prozedur schweigend. Nur als Jacopo die frische Narbe auf seiner Wange berührte, entfuhr ihm ein unmutiges: »Pass doch auf!«
»Cavolo, was ist Euch denn zugestoßen! Ihr habt Euch doch nicht etwa auf eine Messerstecherei eingelassen?«
»Schwertkampf«, knurrte Joran und brachte Jacopo damit nachhaltiger zum Verstummen, als ein Befehl es gekonnt hätte. Der Alte fragte auch nicht nach der Herkunft der Verletzung an seinem Arm, sondern ging ihm wortlos beim Waschen und später beim Anlegen der sauberen Gewänder zur Hand.
»Ich denke, so seid Ihr präsentabel«, verkündete er schließlich. »Ich werde hinauf gehen und Euch anmelden.«
Joran erhob keine Einwände. Er folgte dem Alten die Treppe hinauf, blieb jedoch auf dem Treppenabsatz stehen, während Jacopo die Kammer betrat. Joran hörte Schritte und murmelnde Stimmen, ohne dass er jedoch verstehen konnte, was gesprochen wurde.
Endlich öffnete sich die Tür und Jacopo bat ihn mit einer Geste, einzutreten. Joran machte einige Schritte in den Raum und blieb stehen, als sei er gegen eine Mauer gelaufen. Auf dem Treppenabsatz hatte er sich ein paar Worte zurechtgelegt, die er seiner Mutter sagen wollte, doch nun brachte er keinen Ton heraus. Die Frau, die von Kissen gestützt, vor ihm im Bett saß, erkannte er kaum wieder. Marliana war dünn geworden. Doch das war es nicht, was die Veränderung ausmachte. Seine Mutter war nie eine auffallend schöne Frau gewesen, doch sie hatte von innen heraus gestrahlt. In ihren Augen hatte Wärme und Liebe gelegen und wann immer sie ihn angesehen hatte, hatte er sich geliebt und geborgen gefühlt. Doch nun war da - nichts mehr.
Sie musterte ihn desinteressiert, bevor sie sich Jacopo zuwandte: »Du hast mir Ordelaf versprochen, Jacopo. Wo ist er? Wo ist mein Gemahl?«
Jacopo seufzte. »Ich habe Euch Euren Sohn gebracht. Joran. Freut Ihr Euch nicht, ihn zu sehen, Monna?«
»Ich habe keinen Sohn«, sagte Marliana. »Was hast du dir dabei gedacht, einen fremden Mann in meine Schlafkammer zu bringen?«
»Aber ...«
»Kein aber. Befiehl dem da, er soll verschwinden. Und dann sag der Köchin, wenn sie mir noch einmal so ein minderwertiges Frühmahl vorsetzt, kann sie sich eine neue Anstellung suchen.«
Joran wollte widersprechen, irgendetwas sagen, doch er konnte es nicht. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Sein Blick glitt am Gesicht seiner Mutter ab und suchte Jacopo.
Der Alte sah ihn an und die freudige Anspannung in seinen Augen war erloschen und hatte einem Ausdruck tiefer, ehrlich empfundener Trauer Platz gemacht. »Es tut mir leid«, murmelte er. »Sie hat heute wohl einen ihrer schlechteren Tage.«
Joran schloss die Augen, blieb mehrere Herzschläge lang reglos und zitternd stehen und atmete hörbar aus. Jacopo sagte nichts, aber er sah ihn auf eine Art an, die Joran begreifen ließ, dass er Bescheid wusste.
Sehr langsam drehte er sich um und verließ die Kammer.