Obwohl Julia das Seminar eigentlich gerne besuchte, fühlte sie heute eine innere Anspannung, als sie den geräumigen, schlecht gelüfteten Saal betrat. Vor gut einer Woche hatte sie ihre Hausarbeit abgegeben und hoffte nun auf eine gute Bewertung. Genau genommen hoffte sie einfach nur, nicht durchzufallen, denn das hieße Rauswurf aus dem Studium. Sie grüßte einen Kommilitonen und ließ sich zwei Plätze neben ihm nieder,um ihr Netbook in Ruhe hochfahren zu können, denn neben Diskussionen war schnelles Mitschreiben in diesem Seminar so wichtig, dass sie lieber tippte. Als der Dozent den Raum betrat, schwiegen die Studenten schlagartig. Seine Autorität, die allen Respekt einflößte, rührte nicht einmal von seiner breitschultrigen, großen Erscheinung her, sondern von seiner Stellung als Seminarschef. Heute war es schwer für Julia, sich auf die Diskussionen zu konzentrieren. Ständig wanderten ihre Gedanken zu ihrer Hausarbeit. Ob er sie wohl schon korrigiert hatte? Er war bekannt dafür, Hausarbeiten in enormer Geschwindigkeit zu korrigieren und wieder herauszugeben, deshalb hielt sie es durchaus für möglich, schon heute ihre Note zu erhalten. Ihre Hände wollten heute nicht so richtig über die Tastatur fliegen wie sonst. Sie zitterten und ständig musste sich Julia den Schweiß am Hosenbein abwischen, da sonst ihre Finger von den Tasten glitten. Nachdem der Dozent die Sitzung beendet hatte, hatte Julia nichts davon behalten, was heute diskutiert wurde, viel zu abgelenkt war sie gewesen. Wenn ihre Notizen halbwegs brauchbar waren, würde sie diese später nochmal nutzen, um die Sitzung nachzuvollziehen. Mit immer schneller werdendem Herzklopfen und zittrigen Händen packte sie ihre Sachen zusammen und stakste mit verkrampfter Haltung in Richtung Pult. Ihr Dozent schaute kurz von seinen Unterlagen auf und runzelte die Stirn, dann formte er die Lippen zu einem fast lautlosen ‚ah‘, wühlte kurz in der Tasche und die Hausarbeit landete mit einem lieblosen Klatschen auf dem Pult. „Sie haben es schon geschafft, sie zu korrigieren?“, fragte Julia hoffnungsvoll. „Ja, habe ich. Sie sind hiermit mit sofortiger Wirkung aus meinem Seminar entlassen“. Der Tonfall, den ihr Dozent anschlug, verwirrte Julia. Wieso war sie entlassen? Bis zum Ende des Semesters bestand doch Anwesenheitspflicht. Die Verwirrung war ihr ins Gesicht geschrieben, deshalb erklärte er weiter. „Sehen Sie, ihre Thesen sind völliger Schwachsinn, und die Forscher, mit denen Sie diese belegen wollen sind absolut nicht akzeptabel. Diese Leistung erkenne ich nicht an. Belegen sie nie eine Hausarbeit mit den konträren Meinungen ihres Dozenten, das soll Ihnen eine Lehre sein.“ Bis diese Worte in Julias Gehirn angekommen waren, dauerte es einige Augenblicke, und noch einige mehr, bis sie die Bedeutung der Worte erfasst hatten. „Aber… das kann doch so nicht rechtens sein! Ich habe eine These meines Referatsthemas belegt und nur das sollen Sie bewerten. Persönliche Abneigungen dürfen überhaupt keine Rolle spielen!“. „Was ich darf und was nicht, das entscheiden sicher nicht Sie“, grinste er süffisant, „Sie können gerne versuchen, dagegen anzugehen, aber seien Sie versichert, dass ich am längeren Hebel sitze. Und jetzt bitte, ich möchte den Raum abschließen.“ Mit einer Handbewegung bedeutete er ihr, den Raum zu verlassen und Julia stürmte hinaus, um ihm nicht die Chance zu geben, seinen Triumph zu genießen. In einer ruhigen Ecke wischte sie sich die aufkommenden Tränen vom Gesicht. Ihre Gedanken rasten von einem Punkt zum nächsten. Das konnte doch alles nicht rechtens sein, es musste eine Möglichkeit geben, diese Prüfung ungültig zu machen. Sonst hatte sie längste Zeit Latein studiert, schoss ihr samt einem bitteren Geschmack im Mund durch den Kopf. Die ersten Tränen kitzelten noch, als sie sich einen Weg über die Wangen und den Hals bahnten, aber bald spürte Julia sie nicht mehr. Nur wenige Menschen drehten sich überhaupt kurz nach ihr um, Liv war nach einer Weile die Erste, die zu ihr kam. „Hey,gut, dass ich dich sofort finde, du ich brauch deine Hilfe, kannst du mir ein Buch aus eurer Bibliothek suchen helfen?“. Erst auf den zweiten Blick fiel ihr auf, dass Julias Gesicht tränennass war. „Was ist denn passiert? Ist was mit deinen Eltern? Mit dir? Bist du gesund?“. Julia schüttelte heftig den Kopf. „Ich will hier raus“, würgte sie mit belegter Stimme hervor, „schnell, bitte. Dann erzähle ich.“ Der Tonfall alarmierte Liv augenblicklich und mit einem Arm um Julias Schultern führte sie sie so schnell wie möglich zwei Stockwerke nach unten, dann an die frische Luft. Dort umarmte sie Julia erst einmal fest, weil sie das Gefühl hatte, dass das ihre Freundin brauchen würde. „Was ist los? Sagst du es mir jetzt?“, fragte sie leise. Julia brauchte ein paar Anläufe, in denen sie sich die immer wieder kommenden Tränen wegwischte oder das von Liv angebotene Taschentuch dankend annahm, um ihre Nase zu leeren, dann erzählte sie schließlich. Mit jeder Sekunde, die Liv zuhörte, wurden ihre Augen größer und irgendwann schüttelte sie resigniert den Kopf. „Und jetzt weiß ich überhaupt nicht, welche Möglichkeiten ich habe, weil der Kerl vermutlich wirklich am längeren Hebel sitzt und damit hat sich mein Studium erledigt“, schloss Julia ihren Bericht ab und griff nach dem nächsten Taschentuch, da sie schon wieder Tränen aufsteigen spürte. „Scheiße. Weißt du was, wir gehen erst mal zu mir, dort hin ist es ja nicht weit, und dann schauen wir gemeinsam, welche Lösungen es gibt. Wenn es dir hilft, kannst du auch gerne bei mir schlafen“, bot Liv an und brachte damit Julia tatsächlich für einen kurzen Moment dazu, zu lächeln. Wieder den Arm um sie gelegt bahnten sich die jungen Frauen einen Weg durch die belebte Hauptstraße, die gleichzeitig Fußgängerzone und Einkaufsmeile war. Einzig und allein die Nähe zur Uni hatte Liv und Niklas dazu bewogen, sich hier eine Wohnung zu suchen, wo es ständig laut war. Sich durch die Massen schlängelnd bahnten sie sich einen Weg in eine kleine Seitenstraße, die mit Mehrparteienaltbauhäusern auf beiden Seiten gepflastert war. Die Treppenhäuser sahen allesamt nicht mehr modern aus, das hatte Liv bei diversen Wohnungsbesichtigungen festgestellt. Trotzdem hatten die breiten Holzgeländer einen gewissen Charme, an den sie sich mittlerweile gewöhnt hatte. Noch während sie die Wohnung im ersten Stock aufschloss, kam Liv eine Idee, von der sie restlos überzeugt war. Dazu müsste sie nur kurz mit Niklas telefonieren, ohne dass Julia mithörte, aber das sollte zu schaffen sein. „Soll ich uns einen Tee kochen und dann fragen wir mal das Internet, was du alles machen kannst?“, schlug Liv vor. Julia hob unschlüssig die Schultern, nickte aber. „Dann fahre ich schon mal den PC hoch, okay?“. Weil Julia sich schon abgewandt hatte, um ins Wohnzimmer zu gehen, sah sie nicht mehr, wie Liv triumphierend lächelte. Dass sie das ruhige Telefonat so einfach bekommen würde, hätte sie nicht gedacht. Noch während sie Teebeutel und Tassen richtete, rief sie Niklas an. Hoffentlich war es noch nicht zu spät. „Liv, alles okay? Ich bin gerade noch vor der Halle, muss ich mich beeilen?“, meldete sich Niklas fast sofort. „Ja, alles okay, zumindest bei mir. Julia ist gerade da, ihr Dozent war ein ziemliches Arschloch zu ihr und ich versuche ihr gerade, zu helfen. Kannst du vielleicht dafür sorgen, dass du Steppi mitbringst?“. Einige Sekunden Stille folgten, bis Niklas sich zu einer Antwort durchrang, die sehr skeptisch klang. „Ich könnte schon, aber was erhoffst du dir? Er hat vielleicht keinen Liebeskummer mehr, aber sie aufeinander zu zwingen halte ich nicht für gut.“ „Aber ich. Julia ist durch Latein gefallen so wie es aussieht und vielleicht, wenn sie noch irgendwie an der Uni bleiben kann überhaupt, vielleicht ist sie dann entspannter und lernt nicht mehr so verbissen für dieses blöde Fach. Mein siebter Sinn sagt mir, dass es jetzt genau der richtige Moment ist, Steppi herzubringen, falls sie sich nicht streiten.“ Wieder dachte Niklas einige Sekunden über die Worte seiner Freundin nach. „Also ich würde es mir ja auch wünschen, weil ich die beiden sehr mag und sie sich ja eigentlich auch, soweit ich weiß. Aber wie kriege ich Steppi dazu? Ich kann mir nicht vorstellen, dass er bereitwillig mitkommt.“ „Setze deinen dänischen Sturkopf ein, Schatz. Ich weiß, du kannst das. Bitte sorge dafür, dass mein Plan funktioniert. Ich weiß einfach, dass das klappt. Ich vertraue dir.“ Diesem Optimismus hatte Niklas nicht mehr viel entgegen zu setzen, resigniert seufzend gab er nach. „Na gut, ich komme mit Steppi im Gepäck. Das kann dann aber vielleicht noch ein bisschen dauern, sein Sturkopf kann nämlich auch dick sein, das weißt du.“ „Ich weiß. Danke, du bist der Beste. Ich liebe dich.“ Liv hörte ihn noch leise lachen, dann legte Niklas auf. Glücklich vor sich hinsummend setzte Liv das Teewasser auf und schlenderte dann ins Wohnzimmer, um nach Julia zu sehen. Die hatte es sich auf dem großen Wohnsofa bequem gemacht, der Laptop stand auf dem Wohnzimmertisch und wartete darauf, benutzt zu werden. Julia wirkte gefasster, sie weinte nicht mehr, aber sie sah sehr müde und abgekämpft aus mit den verheulten, dicken Augen. Liv setzte sich neben sie und tätschelte ihr das Knie. „Du, Niklas kommt ein bisschen später, aber er kommt. Hast du Lust, mit uns zu essen? Dann können wir gemeinsam nach einer Lösung suchen. Und wenn es spät wird, schläfst du eben ausnahmsweise mal hier, dann hast du es wenigstens nicht mehr so weit zur Uni.“ „Wenn ich überhaupt noch hingehe“, seufzte Julia schwermütig, „aber ich esse gerne mit euch, danke für die Einladung. Hast du schon was geplant? Dann kann ich dir beim Kochen helfen.“ „Nein. Ich mache uns jetzt mal die Tees fertig und gucke noch in den Kühlschrank, dann entscheiden wir. Ich freue mich, dass du da bist.“ „Ich mich auch“, lächelte Julia und Liv stand auf, um in die Küche zu gehen. Insgeheim freute sie sich auf die Gesichter, die Steppi und Julia nachher machen würden, wenn sie sich träfen.