Die Nacht war bereits weit vorangeschritten und alles lag ruhig und still da. Nachtaktives Getier raschelte in Sträuchern und ein Uhu sang sein Lied in einem nahestehenden Baum. Vereinzelt konnte man Schnaufen und Schnarchen der Schlafenden vernehmen. In Jariks bescheidener Unterkunft, in der Ben, Dario und Thanh untergekommen waren, rührte sich nichts und die leisen regelmäßigen Atemgeräusche zeugten von ihrem tiefen Schlaf. Jeder für sich verarbeitete die Erlebnisse der vergangenen Tageswende ... ausgenommen Dario. Dieser begann unruhig mit den Augenliedern zu flattern, als leide er Albträume. Sicher, die Entführung und die Androhung von Schmerz bis hin zum etwaigen Tod, sofern er von seinen Erlebten berichte, nagten an der Substanz.
Er stand allein inmitten der verfallenen Ruine der einstigen Turmfestung des Pretus, der Turminsel im Brinn, und schaute unsicher drein. Der Himmel schien grau getrübt, bläulich violette Schlieren schimmerten an diesem und zogen ihre Bahnen. Der Horizont verhielt sich ähnlich, als sei der sichtbare Bereich von dem äußeren abgeschirmt. Ihm fiel auf, dass seine ansonsten scharfe Sicht getrübt blieb, gänzlich in der Farbe des Himmels und diesen unnatürlichen Schlieren. Feiner Nebel hing in der Luft und so schrieb er diesem den Umstand zu.
Er richtete sein Ziel auf die Mitte der Insel, wo einst der bekannte Turm hoch in den Himmel ragte und wagte einen Schritt nach dem anderen.
Rings um ihn herum loderten bläuliche Feuer, deren Hitze ihn weder behinderte noch zu erreichen schien, gleichwohl er unmittelbar in deren Nähe wandelte. Kadaver der einstmaligen Invasoren schwellten in diesen. Bei näherer Betrachtung erkannte er, dass diese hingegen nicht verbrannten, sondern sich in einer Art grotesken Todeskampf befanden, aus dem es kein Entkommen gab. Sie wanden sich und strampelten mit Armen und Beinen. Ihre Maulbewegungen schienen vor Schmerz zu schreien, obgleich kein Laut an seine Ohren drang.
»Wo bin ich? Was ist das für ein Ort, der mir bekannt scheint, aber doch nicht existieren kann?« Eine innere Ruhe überkam ihn, sodass er keinerlei Furcht verspürte, obwohl ihm sein Verstand dazu riet eiligst die Flucht zu ergreifen. Auf seine offen gestellte Frage erhielt er wiedererwartend keine Antwort, denn niemand, zumindest kein reales Lebewesen, war in der Nähe, um ihm diese zu beantworten. Schimmernde Wesen bewegten sich durch das ruinenübersäte Gelände und warfen Dinge in die Feuer.
»Was passiert hier? Mit wessen Augen sehe ich diese Erscheinungen?« Abermals blieben Erklärungen aus. Beim Voranschreiten schien eines dieser Gestalten seiner Anwesenheit gewahr zu werden, denn dieses wirkte sichtlich verunsichert und wog den Kopf hin und her. Es blieb stehen und starrte in seine Richtung. Wissender Erkenntnis nach zu urteilen hob er die Hände und winkte ihm näher zu kommen. Obwohl sein Geist sich wehrte, nährte sein Körper sich der vor ihm winkenden Gestalt. Das schimmernde Wesen glich einem durchscheinenden Menschen – einem Geist – und es sprach zu ihm.
»Herr Elm‘emo, was tut ihr hier? Wie kamt ihr her? Ich sah euch zur Flucht. Ihr wart bereits nahe des sicheren Tunnels, als das beschworene Inferno uns verbannte.«
»Elm‘emo? Ihr scheint mich zu verwechseln. Seid so gut Geist und erklärt euch. Mein Name lautet Dario Disilvestro. Wo bin ich und was geschieht mit mir? Ist dies ein Traum?«
Das Wesen, welches einst ein Mensch der Marken gewesen sein musste, schaute ihn eindringlich an, so als schien es abzuwägen. Es nickte betrübt und erklärte weiter. »Einst war ich der oberste Schwertmann der Middellande und hörte auf den Namen Esule Fordres. Ihr befindet euch auf der Turminsel im Brinn, nur das dieses hier ...« Esule, der Geist, bedeutete mit den Händen ausholend die Gegend. »... eine durch das Inferno hervorgerufene Zwischenwelt ist, aus der niemand zu fliehen vermag. Unsere Körper sind schon lange zu Staub zerfallen, nur unsere Seelen sind noch an diesem unsäglichen Ort gebunden und erhalten keinen Zutritt in den Hallen unserer Ahnen. Als das Inferno begann, wurden unsere sterbenden Seelen hier gefangen und hier konnten wir die Horden Lord Inats besiegen.« Das Wesen deutete mit der ausgestreckten Rechten zu einem der Feuer, in dessen Richtung Dario nun blickte. »Diese schwellen in den niemals erlöschenden Seelenfeuern. Ihr hingegen solltet mit Os‘tono dem Pretus reden, er wird euch helfen, den Weg in eure Welt zurückzufinden. Geht, bevor es zu spät ist und sich auch eure Seele hier verfängt.« Der einstige Schwertmann drehte sich herum und verschwand in dem Treiben der Übrigen.
Dario blieb verwundert der erhaltenen Erklärung stehen und legte sich die flachen Hände an die Schläfen. »Elm‘emo, dieser Name klingt vertraut. Woher kenne ich ihn?« Da er abermals keine Antwort bekam, schritt er seinem Ziel weiter entgegen und erblickte eine sich auf ihn zubewegende Gestalt, bekleidet mit einer langen wallender Robe. Diese hing dem Neuankömmling schlaff von den mageren Schultern und das Material deutete darauf hin, zu besseren Zeiten einen strahlenden Weißton, anstatt das augenblickliche schmutzige Silbergrau gehabt zu haben.
Die Gestalt hob beide Hände zum Gruß und streckte sie ihm mit den Handflächen nach unten entgegen. »Mein guter Elm‘emo, letzter der getreuen Hüter. Sei mir willkommen.«
»Wieder dieser Name, ihr müsst mich verwechseln. Ich bin nicht besagter Mann. Erlaubt mir bitte diesem Traum zu entfliehen.« Dass ihm augenblicklich gegenübergetretene Wesen, hochgewachsen und mit einer sich ausbreitenden leuchtend weißen Aura umgeben, starrte ihn wissend an und entgegnete sein Verständnis mit sachtem Kopfnicken.
»Ich verstehe. Das Ausmaß des angerichteten Infernos muss nachhaltig euer Erinnerungsvermögen beeinträchtigt haben. Kommt näher und lasst mich versuchen zu helfen.«
Dario zeigte eindeutige Zurückhaltung und sah sich unsicher umher, ob es nicht doch eine Möglichkeit zur Flucht gab.
»Grämt nicht, es wird euch nichts wiederfahren. Auch wenn ihr nun hier bei uns in jener geschaffenen Zwischenwelt seid, kann euch nichts geschehen, oder zuleide getan werden. Lediglich euer Geist verweilt an diesem Ort, bedingt durch das Auslösen der magischen Eruption des Steines. Dieser hat gefunden, was zu finden seine Aufgabe war. Unsere Zeit ist gekommen und ich kann spüren wie die Kräfte, die uns gefangen halten, schwinden. In Kürze wird unsere Aufgabe unbedeutend und können endlich unseren wohlverdienten Seelenfrieden finden.« Gedankenverloren schaute das leuchtend weiße Wesen drein, als es mit seiner Erklärung fortfuhr. »Kommt näher, ich werde versuchen euch mit meiner verbliebenen Energie zu helfen, die in vielen Jahreswenden verlorenen Erinnerungen wiederzuerlangen.«